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1 W o l h y n i e n Ein Streifzug durch die (Sozial)Geschichte in der Zeit deutscher Besiedlung des 19. und 20. Jahrhunderts im Spiegel zeitgenössischer Presse
2 Inhaltsverzeichnis Kapitel: Seite: 1. Siedlungsbedingungen und Alltags(er)leben Aus dem religiösen Leben in Wolhynien Zuwanderung, Auswanderung, Vertreibung, Umsiedlung a. Russische Siedlungs-/Einwanderungspolitik b. Antideutsche Stimmen und Maßnahmen c. Presseschau d. Wolhynien-Tschechen e. Wolhyniendeutsche im Baltikum Anhang: Ausschnitte aus der US-amerikanischen Presse (zum Stichwort "Wolhynien" - zwischen 1874 und 1920) Karten 4 und 269 Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 2
3 Vorwort Die Geschichte der deutschen Siedlungen in Wolhynien wurde schon vielfach beschrieben: von Kantoren und Pastoren - zum Teil bereits im 19. Jahrhundert-, von frühen Volkstumsforschern in den 1920er und 1930er Jahren und schließlich in den folgenden Jahrzehnten in Form von wissenschaftlichen Studien, Zeitzeugenberichten und romanhaft biografischen Erzählungen. Die nachfolgenden Texte sind eine chronologische Zusammenstellung von Berichten und Kurzmeldungen in Zeitungen der Baltendeutschen aus dem Zeitraum von 1809 bis in die 1940er Jahre*. In weiten Teilen handelt es sich um deutsche Übersetzungen bzw. Zusammenfassungen von Artikeln aus russisch-sprachigen Zeitungen. Das Besondere dieser Beiträge ist, dass sie nicht unmittelbar die Situation und Ereignisse im Inneren wolhyniendeutscher Kolonien zum Thema haben, sondern vielschichtige Informationen geben über das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Geschehen in ihrem Umfeld. Der Blick wird geweitet auf die Lebenslage der einheimischen Bevölkerung, auf andere Bevölkerungsminderheiten und auch auf Herausforderungen des alltäglichen (Zusammen)Lebens. Mit den unkommentiert aneinander gereihten Beiträgen entsteht eine Art Kaleidoskop, in dem das Bild von Leben und Umwelt der Wolhyniendeutschen neu gerahmt wird und in vielfarbigen Facetten aufscheint. Stand: April 2017 Überarbeitung und Erweiterung: September 2018 unter Einbeziehung von Material aus der Estnischen Nationalbibliothek und Auszügen aus der deutschsprachigen US-amerikanischen Presse des späten 19. bis frühen 20. Jahrhunderts (Quelle: ) * vgl. Digitalisate historischer Zeitschriften bei der lettischen Nationalbibliothek Es wird davon ausgegangen, dass Urheberrechte gem. 64 und 66 (1) UrhG nicht mehr bestehen. Zusammenstellung, Grafik und Layout: Mechthild Walsdorf Die Rechtschreibung ist jeweils aus der Vorlage übernommen; Irrtum der Abschrift vorbehalten. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 3
4 aus: Spamers Grosser Hand-Atlas (1896) Otto Spamer Alfred Hettner Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 4
5 1. Siedlungsbedingungen und Alltags(er)leben Rigische Anzeigen 30. August 1809 Bekanntmachung: Sollten Kaufleute oder Handwerker wünschen, sich im minskischen Gouvernement und im pinskischen Kreise in dem Flekken Stolin, oder im wolhynischen Gouvernement und luzkschen Kreise in dem Flekken Czartorysk niederzulassen oder anzusiedeln, so verspricht ihnen untengenannter Gutsbesitzer alle zum Bau nöthigen Materialen, als Kalk, Balken, Bretter und Dach, unter der Bedingung unentgeltlich zu liefern, daß diese Materialien der sich Ansiedelnde auf seine Rechnung bearbeiten und nach dem ihm zum Bau angewiesenen Ort führen lassen muß; nach vollbrachtem Bau wird das Haus und der dazugehörige Plaz ihm als immerwährendes Eigenthum übergeben. Von dem Hause und dem Plazze, welcher 100 Prentow enthalten wird, werden drei Jahre hindurch nicht die geringsten Abgaben erhoben noch sonst Verpflichtungen gefordert werden. Dabei behält sich untengenannter Gutsbesitzer vor: 1) daß der sich Ansiedelnde ohne Erlaubniß des Gutsbesitzers keinen Handel mit Branntwein, Halbbier und Meth treiben kann; 2) daß er zum Bau den Plaz nehmen muß, der im angewiesen wird, 3) daß das Haus nach dem Plane, den er vom Gutsbesizzer erhält, aufgebauet wird; 4) ist es ihm untersagt, Schulden zu machen, welche die Hälfte von dem Werthe des Hauses und des dazu gehörigen Plazzes übersteigen. Dem sich Ansiedelnden werden die Materialien nicht eher verabfolgt, noch der Plaz zum Küchengarten angewiesen, bis derselbe seinen Paß von der Gouvernements-Obrigkeit und den gesetzlichen Schein von der Gilde oder Zunft nicht vorzeigt und dadurch dem Gutsbesizzer für sich Bürgschaft leistet. Hierbei wird bemerkt, daß, obgleich der sich Angesiedelte mit dem Hause und dem Plazze als mit seinem Eigenthum schalten und walten, er jedoch, im Falle er es wieder zu verkaufen wünschte, an Niemanden veräußern kann, der nicht mit dem oben erwähnten Scheine von der Gilde oder Zunft versehen ist, und sich nicht verpflichtet, dem Gutsbesizzer die Abgaben zu zahlen und ihm die Dienste zu leisten, die nach Verlauf der drei Freijahre geleistet werden müssen. Sollte endlich der sich Angesiedelte Akkerland zu haben wünschen, so wird ihm auch solches angewiesen werden, nur ist er verpflichtet, sobald er in den Besiz desselben tritt, dem Gutsbesizzer Abgaben dafür zu zahlen oder demselben Frohndienste zu leisten; auch wird das Akkerland demselben keineswegs in eigenthümlichen und erblichen Besiz zuerkannt. Wer auf diese Bedingungen sich niederzulassen oder anzusiedeln wünscht, benachrichtigt mit einem Schreiben mit seiner eigenhändigen Unterschrift, das spätestens in den letzten Septembertagen dieses 1809ten Jahres eingesandt werden muß, und zwar: aus dem wilnaschen Gouvernement dem Herrn Kapitain Franceson oder dem Herrn Iwaschkiewicz, beide wohnhaft in Wilna im Hause der Educationskommission; aus dem grodnoschen Gouvernement dem Herrn Komornik Odynec, welcher das Gut Wsieluba verwaltet; aus dem minskischen Gouvernement dem Hn. Ginett, wohnhaft im pinskischen Kreise in Stolin; aus dem wolhynischen Gouvernement dem Herrn Dworzecky, wohnhaft in Czartorysk; aus den Gouvernements Weißrußland dem Herrn Marcinkowsky, wohnhaft im mohilewschen Gouvernement und mistislawschen Kreise in Kadzin; aus dem Kiewschen Gouvernement dem Herrn Fiß, wohnhaft im Kreise Radomysl in Wylok, und endlich aus dem kurländischen oder livländischen Gouvernement dem Herrn Franceson oder Iwaschkiewicz. Graf Alexander Pociey Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 5
6 Rigasche Anzeigen 22. Juni 1814 Befehl seiner Kaiserlichen Majestät, des Selbstherrschers alle Reußen etc., aus der livländischen Gouvernements-Regierung, zur jedermänniglichen Wissenschaft. Zufolge einer abermaligen Requisition der Kommission des Wilnaschen Kommissariatdepots werden von der Livl. Gouvernements-Regierung alle Diejenigen, welche die Lieferung der Lebensmittel, Getränke, Arzeneiwaaren etc. für kranke Militairbeamte an die in der in Wolhynien belegenen Stadt Wladimir und in Lutzk errichteten Hospitäler, wie auch die Reinigung der Hospitalwäsche zu übernehmen willens, hierdurch wiederum aufgefordert, sich zu denen aufs neue anberaumten desfallsigen Torgen (= Märkte), nemlich den 28sten, 29sten und 30sten Juli d. J., mit sichern und hinlänglichen Pfändern versehen, bei gedachter Kommission in Wilna zu melden. Riga-Schloß, am 18ten Juni Rigasche Zeitung 29. Oktober 1829 C a r l D a h l, Regierungs-Rath Shitomir, den 20. September. Am 14. d. M. herrschte in den Dörfern Rannoje und Kleno des Borißowschen Kreises ein heftiger Sturm, der, von Regenschauer und Hagel begleitet, über die Gegend mit einer Windhose zog, deren Bahn 30 Faden breit war. In Rannoje vernichtete sie 8 Bauernwohnungen, 8 Tennen mit Getraide, 16 Viehställe, 9 Kornhäuser mit Getraide; in Kleno 9 Bauernwohnungen, 9 Tennen, 8 Viehställe und 8 Kornhäuser. Von der Windmühle und der Schenke wurden die Dächer herabgerissen und die Gebäude selbst beschädigt; vieler zum Trocknen in die Luft gelegter Flachs ward zerstreut. Einer Heerde Gänse wurden zum Theil die Flügel durch den starken Sturm gebrochen, viele kamen durch den Hagel um. Ein Weib, das aus dem Dorf Kleno nach der Stadt Borißow fuhr, ward mehrmals mit Wagen und Pferd umgeworfen, und starb nach drei Tagen. Die meisten Bauern dieser Dörfer waren während des Sturmes auf dem Felde bei der Arbeit; dorthin flüchteten auch die zurückgebliebenen und retteten sich dadurch vom Untergange. Zwei Kinder wurden vom Sturmwinde einige Faden weit weggeschleudert, blieben indeß am Leben. Der Sturm dauerte nicht über eine Stunde; er nahm darauf seine Richtung nach dem Walde, indem er die auf seinem Wege stehenden Kornhaufen und Heuschober zerstörte und im Walde viele Bäume entwurzelte. (St. Ptb. Ztg.) Pernausches Wochenblatt 1. März 1830 Bei Dubno hat sich ein ähnlicher trauriger Vorfall, als letzthin in Ungarn, ereignet. Ein junger Mann aus einer ausgezeichneten Familie in der dortigen Gegend, fuhr nämlich bei strenger Kälte mit einem vierspännigen Schlitten in die Nachbarschaft. Sein Weg führte ich bei einem Walde vorbei wo er eine Heerde Wölfe erblickte, die sich indeß ruhig verhielten und ihn ungestört vorüberließen. Nachdem er sie eine Strecke hinter sich hatte, that es im leid, daß er es unterlassen hatte, die dortige Gegend wenigstens von einigen dieser reißenden Thiere zu befreien. In Folge dessen ließ er umkehren, und als er sich den Wölfen auf Schußweite wieder genähert hatte, gab er mit einer Doppelflinte auf sie Feuer. Die Pferde, durch den Knall des Schusses erschreckt und die Nähe der Wölfe witternd, wurden unruhig und zogen den Schlitten plötzlich wieder an. Der mit einem Fuße im Schlitten, mit dem andern auf der Kufe stehende junge Mann fiel aus dem Schlitten und die scheu gewordenen Pferde gingen mit dem Kutscher durch, der sie zu halten nicht mehr im Stande war. Am nächsten Gast-Kruge angelangt, rief der Kutscher nach Hülfe und nahm, um seinen Herrn zu retten, einige Leute mit sich, die sich in der Eile bestmöglich bewaffnet hatten. Allein die Hülfe kam zu spät; Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 6
7 man fand nur noch die kahlgefressenen Gebeine des Unglücklichen, seine Doppelflinte und die Lappen seiner zerrissenen Kleider. Rigasche Anzeigen 24.März 1830 ( ) Polizeilich gesucht wird von der Kiewschen Gouvernements-Regierung der aus dem Gouvernement Volhynien gebürtige Jucund Meldok, circa 40 Jahre alt, deutscher Herkunft, welcher unter Wache an das Wassilkowksche Kreisgericht zu senden ist. Rigasche Zeitung 25. Februar 1833 Bei einer Feuersbrunst in Luzk am 21. Oktober v. J. hat der Unterlieutenant des Rylschen Infanterie- Regiments, Nowitzki, den vierjährigen Sohn des Ebräers Saterki mitten aus den Flammen geholt, und der Fähnrich desselben Regiments, Kisilow, mit seinem Kommando durch seine Geistesgegenwart und Gewandtheit zur Löschung des Feuers vorzüglich beigetragen. S e i n e M a j e s t ä t haben für dieses rühmliche Verfahren dem Unterlieutenant Nowitzki den St. Wladimir-Orden 4ter Klasse, und dem Fähnrich Kisilow für ein Jahr den doppelten Gehalt verliehen. Rigasche Zeitung 12. August 1833 Der Militair-Gouverneur von Kiew und Generalgouverneur von Podolien und Wolhynien, General- Adjutant Graf Lewaschow, hat dem Ministerium des Innern folgendes mitgetheilt: Der Sohn des im Kronsvorwerke Jurowsk des Dorfes Kopischtsch (Gouvernement Wolhynien, Kreis Owrutsch) ansäßigen Bauern Emil Rewoit war bei der 96sten Rekrutenaushebung als Rekrut abgegeben worden, entlief seinem Kommando und ging nach Hause, in der Hoffnung, sich dort verbergen zu können. Er kannte jedoch die Rechtlichkeit seines Vaters nicht; denn dieser lieferte ihn der Oekonomie-Verwaltung des Dorfes aus, von wo der dem Landgerichte zugeschickt ward. In Grundlage des 5. Punktes des A l l e r h ö c h s t e n Ukases vom 15. November 1797, sprach das Gericht dem Vater, für die treue Erfüllung seiner Pflicht, eine Belohnung von 10 Rubl. zu. Hierüber tief betrübt, erklärte Rewoit dem Kreisanwalt, daß er die Belohnung nicht anzunehmen wünsche, weil sie sein Vaterherz empöre, indem er seinen flüchtigen Sohn ausgelifert, habe er Andern ein Beispiel geben wollen, und keineswegs nach einer Belohnung getrachtet. Den Bericht des Grafen Lewaschow über diesen Vorfall hat der Minister des Innern der Ministerkomité mitgetheilt, auf dessen Beschluß dem Bauer Rewoit, eine im Knopfloch, am St. Annenbande zu tragende silberne Medaille, mit der Aufschrift: für bewiesenen Eifer, zuerkannt wurde. S e i n e M a j e s t ä t d e r K a i s e r haben diesen Beschluß der Ministerkomité zu bestätigen und A l l e r h ö c h s t zu befehlen geruht, daß das ehrenvolle Benehmen des Bauern Rewoit durch die Zeitungen bekannt gemacht werden solle. Rigasche Zeitung 20. Januar 1836 Bekanntmachungen. Von der Wolhynischen Gouvernements-Regierung wird desmittelst bekannt gemacht, daß das Vermögen nachbenannter Personen, welche binnen der durch den A l l e r - h ö c h s t e n Befehl vom 17. April 1834 anberaumten Frist nicht vom Auslande nach Rußland zurückgekehrt sind, und zwar: des Possessors aus dem Rownoschen Kreise, Fürsten Constantin Szartorysky; der Possessorin aus dem Starokonstantinowskschen Kreise, Anna Ponjatowsky, des Bruders des Possessors aus dem Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 7
8 Nowogradwolynskischen Kreise, Vitalis Isbitzky, Namens Norbert Isbitzky, des Possessors aus dem Schitomirschen Kreise, Felix Godlewsky, des Possessors aus dem Wladimirschen Kreise Anton Postrutzky, des Edelmanns aus dem Luzkschen Kreise, Wladislaw Gulanetzky, der Possessorin aus dem Owrutschen Kreise, Rosalie Schwarz, verehelichten Pawschina, der Edelfrau aus dem Kremenezkschen Kreise, Mariane Polgeisch, des Possessors aus dem Schitomirschen Kreise, Hippolit Pruschinsky; nachbenannter Ebräer, nämlich des Hirschka Lipowitsch Zemermann und des Kalman Bustein aus dem im Dubnoschen Kreise belegenen Flecken Olyky, des Wolf Frenkel und dessen Sohnes Pinkas Frenkel aus dem Rownoschen Kreise, des Joss Nissenboim, des Joss Adamaschka, dessen Bruders Leiser, des Moschka Griditer, dessen Söhne Gerschka und Schlom, des David Fumowitsch Bonn, des Schmuil Schimonowitsch Schkolnik, dessen Bruders Joss, des Joss Israel Abramowitsch Leiwy, dessen Sohnes Abraham, des Itzka Kalman Chaimowitsch Adler und dessen Sohnes Pinkas, sämmtlich aus dem im Kowelschen Kreise belegenen Flecken Maziowo, des Liga Liwschitz und dessen Sohnes Meyer aus dem Starokonstantinowschen Kreise, des Kaufmannssohns aus dem Schitormirschen Kreise Srul Bak, und des Anschel Nischnin aus dem Dubnoschen Kreise, - in Gemäßheit des 2ten Punctes des gedachten A l l e r h ö c h s t e n Befehls unter Verwaltung des Vormundschafts-Amts genommen wird. Den 8. Januar Gleichlautend: Secretair Sidorenko. Uebersetzt: C. W. Stoffregen, Translateur. Rigasche Zeitung 7. Juli 1836 S. M. der K a i s e r haben am 12. Mai, gemäß dem Beschluß des Minister-Committee, A l l e r- h ö c h s t zu befehlen geruht: das temporair in dem Flecken Klewan befindliche Gymnasium in die Stadt Rowno zu überführen, da der Fürst Ljubomirski die für dasselbe nöthigen Wohnungen in der genannten Stadt hat bauen lassen. Pernausches Wochenblatt 28. Januar 1839 Shitomir, vom 4. Januar. Am 13. Novbr. hat eine Bäuerin im Rowenschen Kreise einen todten Knaben ohne Beine, an deren Stelle nur ein Stück Fleisch hing, zur Welt gebracht. Libausches Wochenblatt 7. Juni 1839 Shitomir, vom 13. May. Am 16. April wurden in der Stadt Nowgorod-Wolünsk 82 hölzerne Häuser, die steinerne Synagoge, 9 steinerne und 14 hölzerne Buden ein Raub der Flammen; der Schaden wird auf Rbl. angegeben. An demselben Tage und in demselben Kreise brannten auf dem herrschaftlichen Gute Ol'blia das herrschaftliche Wohnhaus, die Oekonomiegebäude und 60 Bauerhäuser ab. Rigasche Zeitung 28. September 1840 Shitomir, den 29. August. Am 12. Juli fiel in mehreren Gegenden des Dubnoschen, Kremenetzschen, Luzkischen und Shitomirschen Kreises, starker Hagel; am 20. Juli aber fiel im Shitomirschen Kreise ein Hagel von Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 8
9 ungewöhnlicher Größe. Auf dem Gute Woliza wog jedes einzelne Hagelkorn anderthalb Pfund und in der Gouvernementshauptstadt Shitomir dreiviertel Pfund. Fast in allen Häusern wurden die Scheiben zerschmettert, bei vielen Einwohnern Geflügel und Hausvieh getödtet, und in den Umgegenden alle Gemüsegärten vernichtet. Rigasche Zeitung 15. Januar 1842 A l l e r h ö c h s t e r U k a s a n d e n D i r i g. S e n a t. Vom 24. December 1841 Mit dem Wunsche, den Handel und die Industrie im westlichen Theile Rußlands, namentlich in den Gouvernements Mohilew, Witepsk, Minsk, Wilna, Grodno, Kiew, Wolhynien, Podolien und der Provinz Bialistok zu befördern, und dadurch den Wohlstand der dortigen Städte zu heben, befehlen W i r, einverstanden mit dem Gutachten des Reichsrathes: 1 ) Wenn Kaufleute, Bürger und überhaupt Personen freien Standes und christlicher Religion, welche nicht zu den obengenannten Gouvernements gehören und das Recht haben, in städtische Corporationen einzutreten, sich in den Städten und (Duma oder Rathaus habenden) Krons- oder gutsherrschaftlichen Flecken des westlichen Theil von Rußland (in den zuletzt genannten Flecken mit Einwilligung der Herren Gutsbesitzer) anschreiben und für immer niederzulassen wünschen, so soll ihnen dieses erlaubt und von ihnen nur eine Bescheinigung ihrer Ortsobrigkeit darüber verlangt werden, daß, nach den bestehenden Rechten, ihrer Uebersiedelung kein Hindernis im Wege ist, daß sie keiner gerichtlichen Strafe für Verbrechen unterworfen gewesen und daß die der Rekrutenpflicht Unterliegenden weder zur ersten noch zur zweiten Rekruten-Reihenfolge gehören; überdies sollen die Gemeinden, bei welchen sie sich anschreiben wollen, nicht um ihre Einwilligung zur Ueberführung solcher Leute befragt werden. 2 ) Den nach dieser Grundlage sich in den bezeichneten Orten von Westrußland Niederlassenden werden folgende Prärogative gewährt: a. Während 25 Jahre, vom 1. Januar 1842 bis zum 1. Januar 1867, ist jeder von ihnen auf 15 Jahr von allen der Krone zu entrichtenden Abgaben und Leistungen, wie auch von der Rekrutenpflicht, wenn jemand seinem Stande nach derselben unterworfen ist, befreit. b. Die Kaufleute bleiben, neben diesem Abgabenerlaß, im Besitz der Handelsrechte derjenigen Gilde, zu welcher jeder von ihnen vor seiner Uebersiedelung gehörte; diejenigen aber, welche zu keiner Gilde gehören, werden nach der Uebersiedlung in dem Bürgerstand angeschrieben. Unter diesen Letzteren wird denen, welche auf eigene Kosten und zum eigenen Gebrauch an ihren neuen Wohnorten Häuser oder Handels- und Manufacturanstalten, als: Buden, Fabriken, Gewerke etc. anlegen, oder durch Kauf an sich bringen, während der oben genannten 15 Freijahre das Handelsrecht geschenkt, ohne von ihnen eine Gildenabgabe zu verlangen; und zwar erlangen sie dann Handelsrechte der 1. Gilde, wenn die von ihnen angelegten oder erworbenen Gebäude und Anstalten wenigstens 7000 Rubel Silber kosten, die Rechte der 2. Gilde, wenn sie über 3000 R.S. und die der 3. Gilde, wenn sie über 1000 Rbl. S. kosten. Die wirklichen Kaufleute der 3. Gilde genießen unter denselben Bedingungen die Rechte der 2. Gilde, und die Kaufleute der 2. Gilde die Rechte der ersten. c. Stirbt das Familienhaupt, so geht die ihm geschenkte Abgabenfreiheit, bis zum Ablauf des Termins derselben, auf seine Wittwe, seine Kinder und übrige zur Familie gehörende Anverwandte über, so lange sie in den Gränzen der Gouvernements bleiben, für welche dieser Erlaß angeordnet ward. (St. Ptb. Hand.-Ztg.) "Das Ausland" 22. Januar 1843 "D a s K a o l i n u n d d i e W a n z e. Die Litt. Gaz. vom 7. Jan. enthält hierüber eine etwas kuriose Zuschrift, aus der wir Folgendes ausheben: In der Nähe der Stadt Korzec in Wolhynien ist ein mächtiges Lager Kaolin oder Porzellanerde, und dieses Lager hat die Errichtung einer Porzellanfabrik veranlaßt. Da sich aber das Kaolin in viel größerer Menge findet, als man bedarf, so Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 9
10 dürfen die Einwohner davon holen, und die benachbarten Bauern sowohl als die Juden benützen dies, um die Mauern ihrer Häuser damit anzustreichen. Die einzige Vorbereitung, der sie das Kaolin unterwerfen, ist das Auswaschen der darin befindlichen Quarzkörner; den ebenfalls darin befindlichen Glimmer läßt man darin, weil er den angestrichenen Mauern einen sehr gefälligen Glanz gibt. Das Merkwürdige ist aber, daß die Wanzen, die sonst in diesem ziemlich unreinlichen Lande in Menge vorhanden sind, niemals in einem Hause sich finden, das mit Kaolin angestrichen ist, und selbst wenn man Wanzen an eine solche Mauer hinsetze, sollen sie alsbald todt herunterfallen." Rigasche Zeitung 10. Juli 1843 W a s s e r h e i l a n s t a l t W o l o t s c h i s k. Der Wasserheilanstalten nach Prießnitzens Methode giebt es noch wenige in unseren westlichen Gouvernements. Das G. Wolhynien hat aber zwei solcher Anstalten, von denen die in Wolotschisk vorzüglich zu merken ist, wo, durch die örtliche Lage begünstigt, das schönste Wasser aus mehr als dreißig Quellen hervorsprudelt. Im vorigen Jahr war diese Anstalt fleißig besucht, in diesem Jahre ist sie am 1. Juni eröffnet worden. Wolotschisk ist ein kleiner Flecken im Staro-Konstantinowschen Kreise des Gouv. Wolhynien, hart an der Gränze von Gallizien. Pernausches Wochenblatt 3. Juli 1843 Promoviert sind bei der Dorpater Universität ( ) zu Candidaten der Philosophischen Wissenschaften ( ) Candide Eduard August Wonsch aus Wolhynien und ( ) Rigasche Zeitung 19. September 1844 S t u r m, G e w i t t e r, H a g e l u n d P l a t z r e g e n i m G o u v e r n e m e n t W o l h y n i e n. Dieser Aufruhr der Elemente begann am 21. Juni in verschiedenen Kreisen des Gouv. Wolhynien, und zwar so, daß er um 7 Uhr abends im Dubnoschen, um 8 Uhr im Saßlawlschen, und dann der Reihe nach im Alt-Konstantinowschen, Ostrogschen und Nowograd- Wolynskischen um 10 Uhr, und endlich im Wolhynischen um 11 Uhr abends ausbrach. Die hiebei fallenden Schlossen waren so groß wie Hühnereier; sie wogen 10 Loth und mehr. Im Nowgorod- Wolynskischen Kreise wurden im Flecken Liubar von 107 Häusern die Dächer abgerissen, 117 Häuser beschädigt und 106 verschiedene Gebäude nebst zwei Krügen gänzlich zerstört, von drei Kirchen die Kreuze abgebrochen, von einem Glockenthurm das Dach abgedeckt und eine Kirche so beschädigt, daß sie den Einsturz droht; der Schaden wird auf Rbl. S. berechnet. Im Flecken Marzinowka wurden 64 Gebäude zerstört, und auf den übrigen, so wie auch auf der Kirche und dem Glockenthurm, die Dächer beschädigt. In den Flecken Maskalewka, Worodjewka und Chishinzy wurden alle Gebäude zerstört, und in Worodjewka noch die Kirche; In Kustowzy wurden 84 Gebäude zerstört und 2000 Bäume zerbrochen, in Shilinzy wurden 40, in Sseweriny 182 Gebäude zerstört, darunter eine Ziegelbrennerei, eine Zuckerfabrik und eine Schenke; in Liubarßkoje 6 Häuser und eine Ziegelbrennerei; in Kutinsy einige Gebäude; außerdem wurde mehreres Vieh getödtet. Im Flecken Tschernaja wurden durch den zusammenstürzenden Krug zwei Juden, eine Frau und ein Kind erschlagen; im Flecken Podlubky brannte der Schafstall nebst allem Heu und den Schafen ab. Im Alt-Konstantinowschen Kreise wurden viele Gebäude und Wälder zerstört. Außerdem verursachte der Blitz an diesem unglücklichen Tage im Gouvernement Wolhynien sieben Feuersbrünste; außerdem wurden drei Männer und zwei Frauen durch den Blitz erschlagen. Und Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 10
11 dennoch war dieser grauenvolle Tag nur das Vorspiel neuer Unglücksfälle gewesen, die sich am 22. Juni in den obengenannten Kreisen des Gouv. Wolhynien und insbesondere wieder im Nowograd- Wolynskischen ereigneten. Dort wurden nämlich im Pfarrdorfe Jaremitschi alle Oekonomie-Gebäude, die Mühle, die Branntweinbrennerei und eine achtzig Faden lange Scheune zerstört, in welcher letztern alle Pferde getödtet und alle Equipagen zertrümmert wurden; von dem herrschaftlichen Hause und mehreren Bauernhäusern wurden die Dächer abgerissen; der Schaden beläuft sich auf 4000 Rbl. S; im Pfarrdorf Deschkowzy wurden mehrere Gebäude niedergeworfen und der ganze Wald zerstört. Im Pfarrdorfe Sisowschtschisna wurden die Kirche, der Glockenthurm und fast alle Gebäude zerstört; die wenigen stehen gebliebenen verloren die Dächer. Im Dorfe Lignaja wurden zwei Mühlen und einige kleine Gebäude zerstört, ein Wald und zwei Gärten vernichtet; im Dorfe Glesnaja wurden die Oekonomiegebäude zerstört und der Wald niedergeworfen; im Pfarrdorfe Boruschkowzy eine Mühle und andere Oekonomiegebäude zerstört. Der Shitomirsche, Saßlawlsche, Dobnosche und Kremenezsche Kreis litten mehr durch den Hagel. An diesem Tage waren im Gouv. Wolhynien noch vier Feuersbrünste durch den Blitz. Pernausches Wochenblatt 7. Juli 1845 D o r p a t. Promoviert sind bei der hiesigen Universität ( ) zum Candidaten der diplomatischen Wissenschaften Alexander Bußmann aus Wolhynien; ( ) Rigasche Zeitung 3. August 1845 Lutsk (Gouv. Volhynien) Am 17. Mai, morgens 7 Uhr, brach hier eine Feuersbrunst aus, welche den schönsten Theil der Stadt verzehrte. Das Feuer entstand im Kloster der heiligen Brigitta und hätte am Anfang leicht bewältigt werden können, aber die Nonnen wollten keinen Mann in das Kloster einlassen und so verschlangen die Flammen zunächst das ganze Dach und zündeten, vom Winde getrieben, die benachbarten Häuser. Ungeachtet der vereinigten Anstrengungen der Einwohner, der Soldaten von der inneren Wache und der Wege-Communication, und der Polizei, konnte doch nichts den Flammen Einhalt thun, welche 17 steinerne und 215 hölzerne Häuser mit Nebengebäuden und 111 Buden verschlangen. Die schlechter gebaute Vorstadt konnte nur durch Einreißen der sie mit der Stadt verbindenden Brücke gerettet werden. Der Schaden wird auf Rbl. geschätzt; glücklicherweise ist dabei kein Menschenleben verloren. Am 18. Juni zerstörte eine abermalige Feuersbrunst in derselben Stadt 18 und beschädigte 7 Häuser und 12 Buden ein Schaden von Rbl. (Journ. de St. Ptbg.) Rigasche Zeitung 26. Oktober 1845 Das Journal des Ministeriums des Innern berichtet, daß am 22. und 23. April 54 Personen auf mehreren Dörfern des Kreises Kowel im Gouvernement Wolhynien von zwei Wölfen, von denen einer später erlegt wurde, gebissen worden sind. Trotz der ärztlichen Pflege, welche den Verwundeten von der Sanitätsbehörde des Gouvernements zugesandt worden war, sind 19 von ihnen gestorben, 32 geheilt und die letzten 3 bei dem Datum dieses Berichts noch in Behandlung. Außer Privatjagden sollte eine allgemeine Jagd von Bauern der Krone und der Güter in den Kreisen von Kowel und Wladimir stattfinden, aber das obige Journal kannte noch nicht das Resultat derselben. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 11
12 Rigasche Zeitung 22. November 1845 Wie man aus dem Süden Rußlands schreibt, haben dort die Viehseuchen auch gegenwärtig noch nicht ganz aufgehört. Bis zum October waren in Bessarabien, im Taurischen Gouvernement und im Jekaterinoslawschen die Herden vielfach von Krankheiten heimgesucht. In dem Gouvernement Jekaterinoslaw fielen nicht nur Ochsen und Kühe, sondern auch Schaafe. Im Gouvernement Poltawa, sowie in Wolhynien und in Tschernigow, richteten die Seuchen ebenfalls nicht nur unter dem Rindvieh Verheerungen an, Schaafe und Pferde wurden gleich häufig befallen. Sporadisch endlich zeigte sich die Rinderpest noch in den GG. von Kursk, Nishnij-Nowgorod, Kostroma, Kaluga, Saratow, Pensa, Orel, Nowgorod, Pskow, so wie endlich auch in Kurland. Leider ist über das eigentliche Wesen der dort herrschenden Viehseuchen zur Zeit noch wenig bekannt. Rigasche Zeitung 30. April 1846 Shitomir. Die Verordnung, durch welche den Juden zur Pflicht gemacht ward, im Laufe eines Zeitraums von fünf Jahren ihre Nationaltracht gegen die landesübliche Kleidung zu vertauschen, hat im G. Wolhynien bereits günstige Folgen gehabt und wesentlich dazu beigetragen, eine Annäherung zwischen den Juden und der christlichen Bevölkerung herbeizuführen. Gleich nach dem Erscheinen der obenerwähnten Allerhöchsten Verordnung beeilten sich die jüdischen Kaufleute in Shitomir, ohne von der ihnen gestellten Frist Gebrauch zu machen, ihre Tracht gegen die Tracht der russischen Kaufmannschaft zu vertauschen, ja einige unter ihnen fingen sogar an Fracks zu tragen, und im August des vorigen Jahres sah man schon in Shitomir kein jüdisches Costüm mehr. Diesem Beispiele folgten alsbald auch die jüdischen Gemeinden im Gouvernement und gegenwärtig haben bereits alle Juden in Wolhynien ohne Ausnahme ihre Nationaltracht abgelegt. In Folge eines Vorschlags der Gouvernements-Obrigkeit haben die angesehendsten Mitglieder der jüdischen Kaufmannschaft jener Stadt sich zur Gründung eines Kaufmanns-Clubs vereinigt, und zur Theilnahme an demselben außer ihren Glaubensgenossen auch Kaufleute und Beamte der christlichen Confessionen aufgefordert. Dieser Club ward am 13. Februar mit einem Ball eröffnet, welchem der stellv. Militair-Gouverneur, der Vice-Gouverneur und viele andere Militair- und Civil- Beamte beiwohnten und von welchem sich selbst die Damen der höheren Stände nicht ausschlossen. Zum Anfange des Balles bemerkte man an den anwesenden Juden jene, ihre Nation charakterisierende Schüchternheit, die jedoch bald durch die Zuvorkommenheit und Herzlichkeit, mit der sich ihre Gäste gegen sie benahmen, einer ungezwungenen Fröhlichkeit Platz machte. Mehrere junge Juden und Jüdinnen nahmen mit Leichtigkeit und Anstand an den Tänzen Theil. Der Ball dauerte bis nach Mitternacht. Dies ist vielleicht das erste Beispiel eines jüdischen Kaufmanns- Clubs in unserem Vaterlande. Rigasche Zeitung 9. August 1846 Berditschew (Reisebemerkungen). An der Gränze des Gouv. Wolhynien, in Mitte weitläufiger Eichenwälder, liegt die Stadt Berditschew, Hauptort der Hebräer, mit seinen unzähligen Buden, seinen Häusern seltsamer Bauart, in welchen mehr als Juden im Schooße einer colossalen Unreinlichkeit leben, und ungeachtet ihrer enormen Capitale sich ohne Unterlaß abmühen, um ihren unersättlichen Durst nach Gewinn zu befriedigen. Sollte es wohl in der Welt einen einzigen industriellen Israeliten geben, der Berditschew nicht kennte? Wenn man im Norden oder weiter über dem Kaukasus einen Ebräer aus den Gouvernements des Westens oder Klein-Rußlands trifft und Berditschew s erwähnt, so glänzen seine Augen, sein Gesicht wird freudig und sehnsuchtsvoll wird er sagen: es giebt nur e i n Berditschew in der Welt. Man kann sich keine Vorstellung machen von Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 12
13 der bewunderungswürdigen Mannigfaltigkeit der Waaren und Fabricate aller Art, welche in den schmutzigen Buden und tiefen Kellern Berditschew s aufgehäuft sind. Wehe dem Neuangekommenen, den eine Meute von Handelsleuten einmal auf s Korn genommen hat. Gleich bei seiner Ankunft wird er ohne Mitleiden von allen Seiten angehalten; noch hat er nicht Zeit gehabt zu sagen, was er wünscht, und schon läuft eine Menge von Factoren herbei und belagert ihn in seinem Logis; in einem Augenblick ist sein Zimmer überfüllt von allen Sorten von Waaren, die Tische, Stühle, der Fußboden ist damit bedeckt; von überallher kommen sie, selbst durch das Fenster es ist zum Verwirrtwerden. - Nichts ist der Lebhaftigkeit und Beweglichkeit vergleichbar, welche in allen Quartieren der Stadt zur Zeit der Onufrius-Messe, im Juni, herrscht. Ich war am Sonnabend angekommen; die Buden waren geschlossen und die Straßen vom Volk überschwemmt. Es war ein fortwährendes Hin- und Herwogen; mit lauter Stimme sprach man vom Gewinn des vorigen, von den Hoffnungen des nächsten Tages. Die Frauen trugen um die Wette ihren Putz zur Schau, und diese ganze bewegte sich langsam und ernst, wie auf einer Promenade. Aber am folgenden Tage.es würde mir unmöglich seyn zu beschreiben, was ich empfand. Ich hatte anfangs geglaubt, daß alle diese Menschheit verschwinden und sich verlieren würde in den zahllosen, auf allen Seiten geöffneten Bude; aber fehlgeschlossen! es hatte vielmehr den Anschein, als kämen sie aus der Erde hervor und ihre Zahl vergrößerte sich immer; man möchte es einen wahrhaften Bienenstock nennen, in welchem man jeden Augenblick diese arbeitsamen Insecten sumsend gehen und kommen sieht. Berditschew ist eine unermeßliche Niederlage, welche jede Messe Waaren nach allen möglichen Richtungen liefen. Die Lage der Stadt ist ziemlich angenehm. sie enthält eine ansehnliche Menge geräumiger und gut aussehender Häuser, aber kein einziges, welches nicht den Anblick widerlicher Unreinlichkeit darböte. Der Zusammenschluß von Fremden aus allen Ländern ist groß, sie verlieren sich aber in der unzählbare Menge der israelitischen Bevölkerung. Es giebt daselbst zwei Russische Kirchen und eine Römisch Katholische Kirche mit einem Karmeliter-Kloster von freundlichem Aeußern, im Innern prächtig verziert mit Gemälden al fresco, Basreliefs und Statuen. Berditschew besitzt einige bedeutende Comptoirs, welche für mehrere Millionen Geschäfte mit dem Auslande machen. Bisweilen bemerkt man auf dem Balcon eines Hauses von reichem Anschein einen Sohn Israel s, welcher mit ironischem Lächeln die eifrigen Bezeigungen der Höflichkeit und Achtung eines polnischen Pan empfängt, der sich in einem prächtigen Wiener Wagen, mit vier schönen Pferden bespannt, spreizt. Man glaube ja nicht, dieß sey Freundschaft oder unverstellte Höflichkeit; hier, wie überall, ist es nichts anderes als Stolz, welcher leutselig wird gegen den Reichthum, dessen er bedarf. Während der Dauer der Messe hat B. eine Schauspieler-Gesellschaft, welche oft gut ist und Vorstellungen in Polnischer Sprache giebt. Es giebt in Rußland mehrere Messen, deren Umfang viel bedeutender ist als jener der Berditschewer Messe, aber auf keiner findet man eine solche Thätigkeit und Beweglichkeit, und nirgends kauf man billiger, vorausgesetzt, daß man Kenner ist. Der jährliche Kapitalumsatz beträgt 50 Millionen Silberrubel. Seit kurzem ist Berditschew zur Districtsstadt erhoben. Libausches Wochenblatt 14. Dezember 1846 Polen. Kein Land in Europa zeugt soviel Honig als Polen. Besonders in Podolien, in der Ukraine und in Volhynien hat die Bienenzucht seit langer Zeit einen wichtigen Erwerbszweig gebildet. Es giebt in Polen Hütten mit einem sehr kleinen Stück dazu gehörigen Landes, und auf diesem sieht man wohl 50 Bienenstöcke; dagegen gibt es Pächter und Landeigenthümer, die wohl 1000 bis Stöcke besitzen. Manche Pächter sammeln alljährlich mehr als 200 Fässer schönen Honig, jedes Faß 400 bis 500 Pfund schwer, wobei das Wachs nicht gerechnet ist. Ein Landwirth vermag damit häufig seine Steuern und Abgaben zu entrichten, seinen häuslichen Aufwand zu bestreiten und überdieß Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 13
14 hübsche Aussteuern für seine Töchter zu sammeln. Der Polnische Honig hat die Bären von allen Seiten angelockt und die Polnischen Bienen scheinen keinen Stachel mehr zu haben. Rigasche Zeitung 8. November 1847 Lemberg, 3. Nov. Die Cholera rückt mit Riesenschritten vorwärts, und ist nicht sechs Meilen mehr von der Galizischen Gränze entfernt. Gegenwärtig wüthet sie in Krzemieniec Podolski und um Radziwiloff, ungefähr 32 Meilen von hier. Da die Seuche nach einer Durchschnitts-berechnung täglich vier Meilen vordringt, so dürften wir sie binnen wenigen Tagen hier haben, wenn sie anders ihren Lauf in der Zwischenzeit nicht ändert, was der Himmel fügen möge. Rigasche Zeitung 15. Dezember 1847 (Auszug) Zu den räthselhaftesten Erscheinungen der Kartoffelkrankheit gehört auch ihr stetiges Fortschreiten von Westen nach Osten. Von Irland, wo sie zuerst erschien, ging sie in die Rheinprovinzen, drang im folgenden Jahre durch das nördliche Europa bis an die Weichsel vor und hat im laufenden Jahre die Gränze des Kaiserreichs an mehreren Stellen überschritten. Nach amtlichen Berichten hat sich im J die Kartoffelkrankheit in folgenden Gouvernements des Reichs gezeigt: ( ), im Gouv. Wolhynien zuerst in den Kreisen Owrutsch, Rowno und Nowgorod-Wolynsk, später auch in den übrigen Kreisen. Rigasche Zeitung 15. Januar 1848 (Auszug) Cholera-Bericht. ( ) In den Gouvernements P o d o l i e n, W o l h y n i e n und M i n s k greift die Cholera langsam um sich. ( ) Seit dem Erscheinen der Epidemie sind im Gouv. Minsk bis zum 10. Dec. 314 erkrankt, 87 gestorben, im Gouv. Podolien bis zum 1. Dec. 126 erkrankt, 53 gestorben und im Gouv. Wolhynien bis zum 15. Dec. 220 erkrankt und 100 gestorben. ( ) Rigasche Zeitung 16. Januar 1848 (Auszug) Cholera-Bericht. ( ) Im Gouvernement Wolhynien hat sich die Cholera bis hiezu noch auf den Kreis Owrutsch beschränkt, und auch hier ist sie im Erlöschen. ( ) Rigasche Zeitung 23. Januar 1848 Rechenschaftsbericht des Ministeriums des Innern für das Jahr 1846 (Auszug) P o l i z e i l i c h e A n g e l e g e n h e i t e n. Selbstmorde 1499 (die meisten in den Gouvernements: Wolhynien 88, Tschernigow 72, Kiew 68, Podolien 57, Grodno 55 und Poltawa 50 ( ) Rigasche Zeitung 14. April 1848 Von Liszt, der sich ein Paar Monate in Weimar aufgehalten hat und von da in specieller Sendung nach St. Petersburg gegangen ist (die Großherzogin von Weimar ist bekanntlich die Schwester des Kaisers Nikolaus), erzählt man in Paris ein seltsames Abenteuer, das er vielleicht selbst dort durch Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 14
15 gute Freunde hat berichten lassen, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Als er nämlich im vorigen Herbste Odessa besuchte und dort mit beispiellosem Erfolge mehrere Concerte gab, hörte auch eine Dame in ihrem einsamen alten Schlosse in Volhynien von seiner dortigen Anwesenheit und kaum vernahm sie, daß George Sands gottgleicher Mann ihr so nahe sei, als sie eine Anzahl ihrer Leute bewaffnet und mit dem Befehle absandte, den Virtuosen zu ihr zu bringen, es möge kosten was es wolle, damit er, und sey es nur auf drei Tage, die Einsamkeit des alten Schlosses durch seine Harmonien belebe. Die Antwort aber war unglaublich, der Clavierspieler weigerte sich zu kommen. Da bestieg die Dame selbst ihr Roß und zog an der Spitze einer zahlreichen Dienerschar nach Odessa. Sie besuchte dort die Concerte und wurde so entzückt, daß sie erklärte, vorher habe sie nur gewünscht den merkwürdigen Man bei sich zu sehen, jetzt aber m ü s s e er kommen. Sie machte ihm also selbst Anerbietungen, und wenn Liszt auch alles Gold, das sie ihm bot, von sich wies, so vermochte er doch den Reizen der Bittenden nicht zu widerstehen, die ihn einlud, einige Tage auf ihrem Schlosse zu weilen. Er willigte ein, sie zu begleiten, aber die drei Tage wurden zu drei Monaten. Der Künstler durfte in dieser ganzen Zeit das Schloß nicht anders verlassen, als in Begleitung einer Ehren -Wache; er durfte nicht einmal an seine Freunde schreiben. Vergebens bat er, vergebens stellte er der Gebieterin vor, daß er durch früher eingegangene Verpflichtungen gebunden sey, da und dort zu erscheinen; die Dame kannte kein Gesetz als ihren Willen. Wer weiß, wie lange seine Gefangenschaft gewährt haben würde, wenn die strenge Herrin nicht krank geworden wäre und der arme Liszt mit Hilfe der Brüder der Dame seine Flucht hätte bewerkstelligen können. [Anm: Nachgewiesen sind Konzertauftritte von Liszt in Berditchev, Kremenez, Nemirow und Shitomir] Rigasche Zeitung 27. Oktober 1848 St. Petersburg. 21. Oktober. Se. M. der K a i s e r haben auf die Vorstellung des Ministers des Inneren über die, zum Besten der Truppen vom Adel des Gouvernements Wolhynien gelieferten Wedro Branntwein und die von Seiten des Adels des Kreises Bobrinez im Gouvernement Cherßon gestellten 250 Pferde und eben so viele Sättel für leichte Cavallerie Allergnädigst zu befehlen geruht, beiden Adels-Vereinen S e i n e n Allerhöchsten Dank auszudrücken. Pernausches Wochenblatt, 24. September 1849 ( ) Desgleichen sind am 6. August im Städtchen Tschernobil, im Kreise Radomysl des Gouvernements Kiew, über 300 Wohnhäuser und 2 Kirchen ein Raub der Flammen geworden. Der hier durch die Feuersbrunst verursachte Schaden wird auf Rbl. S. angeschlagen. Rigische Anzeigen 29. November 1851 Das Rigasche Gouv.-Post-Comptoir bringt desmittelst zur allgemeinen Kenntniß, daß zur Beförderung schleuniger Expedition zwischen der Stadt Kremenez (Gouvernement Wolhynien) und den Hauptstädten, so wie den andern Orten des Reichs, auf Befehl Sr. Erlaucht, des Oberdirigirenden des Postdepartements, die Abfertigung der Extraposten zwischen den Städten Kremenez und Dubno zwei Mal in der Woche, bei Vereinigung derselben mit den auf der St. Petersburgisch-Radziwilowschen Poststraße beförderten Extraposten angeordnet ist, und daß seit dem 1. November d.j. sowol die ordinaire, als auch die recommandirte, nach Kremenez adressirte Correspondenz dieses Gouvernements-Postcomptoirs und die aus Mitau durchgehende Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 15
16 Correspondenz, mit den leichten Posten bis Witebsk befördert wird, behufs Vereinigung daselbst mit den Extraposten aus St. Petersburg. Riga, den 26. November 1851, Gouv.-Postmeister Jung Livländische Gouvernementszeitung 22. April 1855 Im Gouvernement Wolhynien, in der Stadt Shitomir, gebar die Ebräerin Lea Grünstein im 30. Jahre ihres Alters und im 7. Monate ihrer Ehe, vier (jedoch todte) Kinder. Rigasche Zeitung 3. Juli 1856 In Berditschew brannte am 19. April morgens eine Seifenfabrik ab (Schaden 2050 R.S.) und nachmittags geriethen mehrere Wohnungen in demselben Viertel in Brand, deren Dächer verzehrt wurden, was einen Schaden von 2150 Rub. S. verursachte. Am 13. Mai brannten in Berditschew in dem engen Stadtviertel Ratschanowka, dessen Straßen nur für die Passage von Fußgängern breit genug sind, bei heftigem Winde, 29 hölzerne Hebräerwohnungen, 7 steinerne Häuser und die Dächer von 10 Häusern nieder. Der bezügliche Schaden belief sich auf R. S. Rigasche Zeitung 14. November 1856 Shitomir, 20. Oktober. (Nord. Biene.) Gegenwärtig existieren 763 Fabriken und industrielle Anstalten in Wolhynien, in denen 5347 Arbeiter verschiedene Waaren für Rbl. S., laut officiellen genauen Angaben, im Jahre 1855 angefertigt haben. Die Fabrikate unserer industriellen Anstalten sind nicht nur in Rußland, sondern auch auswärts bekannt. Von den sechs Runkelrüben- Zuckerfabriken unserer Provinz, welche im vorigen Jahre Zucker für Rbl. verarbeitet haben, genießt der Schepetowsche Zucker seiner trefflichen Eigenschaften wegen wohlverdienten Ruf; 45 Tuchfabriken liefern eine Einnahme von Rbln. pr. Jahr, und in ganz Rußland sind die ausgezeichneten Tuche bekannt, welche im Flecken Slawuta angefertigt werden. Im Flecken Korza ging vor Kurzem eine Fayence- und Porzellan-Fabrik ein, deren Fabrikate den Erzeugnissen des Auslandes weder in der geschmackvollen Form, noch in der Zeichnung nachstanden. An ihrer Statt blüht gegenwärtig eine ähnliche Fabrik im Flecken Baranowka. Drei andere dergleichen Artikeln arbeitende Fabriken liefern im Durchschnitt verschiedene Geschirre für Rbl. jährlich. Wir haben ferner bei uns in Wolhynien 5 Eisengießereien, in denen sehr hübsche Monumente, Gitter, Maschinen und allerlei Nippsachen mit ausgezeichneter Kunst nach den allerneuesten und schönsten Modellen ausgeführt werden. Noch müssen wir 21 Eisenhämmer, 16 Glashütten, 91 Gerbereien, 14 Lichtfabriken, 9 Pottasche- und 4 andere Siedereien erwähnen; ferner 5 Equipagen- Fabriken, 1 Instrumenten- und 1 Leierkasten-Fabrik in Ljukar, welche alle in Rußland wandernde Leier-Virtuosen mit Leierkästen versorgt. Rigasche Zeitung 16. November 1857 S e. M a j e s t ä t d e r K a i s e r hat während seines Aufenthaltes in Kiew, im October, dem Generalgouverneur von Podolien und Wolynien 5000 Rbl. zustellen lassen zur Vertheilung an die ärmsten Einwohner dieser Districte, welche sich an S e. M a j e s t ä t mit Unterstützungsgesuchen gewandt hatten und an sonstige Bedürftige nach Ermessen des Generalgouverneurs. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 16
17 Rigasche Zeitung 3. Dezember 1857 Die Wolhynische Gouvernements-Ztg. enthält Angaben über die durch das ganze Gouvernement Wolhynien geführte und am 19. September d. J. eröffnete Telegraphenlinie. Der Moskau-Odessaer atmosphärische elektromagnetische Telegraph, der durch Wolhynien geht, vereinigt sich mit dem Oesterreichischen in dem Gränzflecken Radsiwilow. Von Kiew aus geht dieser Telegraph durch die Städte Shitomir, Nowograd Wolynsk und Rowno, wo telegraphische Stationen errichtet sind. Die Länge der ganzen Linie beträgt 403 Werst. Auf der Station Shitomir befinden sich drei Apparate: einer nach St. Petersburg hin, der andere nach Brody (über Radsiwilow), der dritte zur Reserve. In Shitomir, der Hauptstation, werden Depeschen für inländische und ausländische Correspondenz angenommen; auf den übrigen controlirenden Stationen werden nur Depeschen für inländische Correspondenz angenommen. Die ganze Construktion dieser Linie sammt den Stationen ist von Russischen Arbeitern, Russischen Mechanikern, unter Aufsicht Russischer Ingenieure beschafft; die für die Arbeiten erforderlichen Instrumente sind aus dem Auslande, von den Ufern des Rheins, und aus den Berliner Fabriken. Man kann hoffen, daß in kurzer Zeit auch der Rest der projectirten Telegraphenlinie bis nach Odessa und weiter bis nach Simpheropol hergestellt seyn wird. Rigasche Zeitung 14. Mai 1858 Der Herr und Kaiser hat auf Beschluß des Comité's zur Organisation der Ebräer am 27. März d. J. Allerhöchst zu befehlen geruht: den Ebräern die Erwerbung und den Bau von Häusern, sowie das Recht des Domicils in allen Stadtteilen Rowno's und Schitomir's der allgemeinen Grundlage gemäß zu gestatten. Livländische Gouvernementszeitung 15. August 1858 In Folge einer Requisition der Wolhynienschen Gouvernements-Regierung werden von der Liv. Gouv.-Regierung sämmtliche Stadt- und Landpolizeibehörden Livlands desmittelst beauftragte, in ihren resp. Jurisdictionsbezirkden die sorgfältigsten Nachforschungen nach Ebräern, die zum Gouvernement Wolhynien angeschrieben sind und paßlos oder mit abgelaufenen Pässen sich betreffen lassen, anzustellen und im Betreffungsfalle denselben auf Grund des Art. 587, Bd. XIV des Swod der Reichsgesetze, Paß-Reglement Fortsetzung VI zu verfahren. Revalsche Zeitung 9. Juli 1860 (aus einem Bericht über den Eisenbahnbau) ( ) Es wird überhaupt bei den vielen gegenwärtig im Werk begriffenen Erdarbeiten so mancher gute Fund gethan, und ist nur zu bedauern, daß durch die Unkenntnis der Arbeiter und Aufseher so Manches unbekannt bleibt. So wurden im Jahr 1859 in Wolhynien von Arbeitern zwei Streitäxte aus Stein gefunden, ( ) Rigasche Zeitung 25. August 1860 S e. M a j e s t ä t d e r K a i s e r hat am 16. Juli d. J. genehmigt, den Polnischen Sprachunterricht in den Gymnasien und Schulen der Gouvernements Kijew, Podolien und Wolhynien einzuführen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 17
18 Revalsche Zeitung 29. August 1860 Auf wiederholtes Ansuchen des Adels der westlichen Gouvernements, sowie auf die Supplik des Adels von Kiew hat Se. Maj. der K a i s e r auf Bericht des Ministers des öffentlichen Unterrichts am 16. Juli die Einführung des Unterrichts in der polnischen Sprache in den Gymnasien und Schulen des Gouvernements Kiew, Wolhynien und Podolien zu gestatten geruht; die Kosten des Unterrichts werden von dem Reichsschatz getragen. Revalsche Zeitung 24. Oktober 1860 W o l h y n i e n und P o d o l i e n. Der Adel von Wolhynien und Podolien hat, sagt die "R. P. Z." Nr. 224, die Bahn des ökonomischen Fortschritts betreten. Es sind dort Agenturen, eine ökonomische Gesellschaft, Gesellschaften zur gegenseitigen Versicherung gegen Hagelschlag, Viehseuchen u.s.w. entstanden; endlich ist die Gründung einer Bauerbank im Werke. ( ) Revalsche Zeitung 12. Dezember 1860 Der Kiewsche Telegraph enthält die Nachricht, daß in der Nähe von Shitomir auf einem Privatgute eine Versammlung von Gutsbesitzern stattgefunden habe, zur Berathung über die Gründung einer Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen und Werkzeuge. Zugleich soll daselbst eine Schriftgießerei angelegt werden. Zur Leitung der Angelegenheit ist ein Comité aus 3 Gliedern ernannt worden. Revalsche Zeitung 27. Dezember 1860 Die für hebräische Bücher monopolisirte Buchdruckerei der Herren S c h i p o w in Shitomir hat eine jährliche Einnahme von R. S.-M. und nimmt 4 Gebäude ein. Das Monopol benutzend druckt diese Typographie nur geistliche Sachen und hemmt jegliche Verbreitung anderer hebräischer Schriften. Revalsche Zeitung 11. Januar 1861 W o l h y n i e n. Die "Warschauer Zeitung" bringt die Bestätigung der Nachricht, daß im Kreise von Shitomir Goldsand entdeckt worden ist. Ueber die Ergiebigkeit des Fundorts ist zur Zeit noch Nichts bekannt. Pernausches Wochenblatt 23. Juni 1862 Die Grundbesitzer des südwestlichen Rußlands (Fürst Wittgenstein, Fürst Druzki-Ljubezky, Graf Samoisky, Sawischa, zwei Grafen Potocki, zwei Fürsten Sanguschko, Skirmund, die Grafen Tarnowsky und Tyschkiewitsch) haben sich entschlossen, eine Actien-Gesellschaft zu gründen behufs Anlegung einer Eisenbahn von Bjelostok nach Pinsk und weiter durch Wolhynien bis zur Kiew-Odessaer Linie, falls eine Bahn gebaut werden soll. Diese Eisenbahn wäre von außerordentlicher Wichtigkeit für ein so reiches, aber von allen Handelswegen abseits gelegenes Gebiet. Rigasche Zeitung 2. Oktober 1862 Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 18
19 Nach den neuesten Berichten hat sich die Rinderpest in den an das Königreich angrenzenden Kreisen Wlodzimierz und Kowel (Gub. Wolhynien) gezeigt, weshalb die Regierungs-Commission des Innern die Bewohner der umliegenden Gegenden auffordert, in ihrem eigenen und des ganzen Landes Interesse die strengsten Vorsichtsmaßregeln zur Verhütung der Ausbreitung dieser Seuche anzuwenden. (W. Z.) Pernausches Wochenblatt 25. Mai 1863 K r a k a u. 19. Mai. Die National-Regierung hat die Bauern in Wolhynien für vollständig emancipirt erklärt und ihnen Eigenthum, Grundstücke und Religionsfreiheit zugesichert. Rigasche Zeitung 4. Juni 1863 Pastor Hoffmann schreibt aus Roshischtsche (Gouvernement Wolhynien) vom 7. Januar 1863: Roshischtsche leidet in geistiger Beziehung an einem gar drückenden Mangel, der sich bei einiger Kenntniß der Verhältnisse auf Schritt und Tritt offenbart. Ich möchte zur Hebung der intellectuellen Bildung mitwirken, und was wäre dazu geeigneter, als christliche Lectüre, oder überhaupt geistige Speise gediegener Art? Ich habe es im Werke, einen gemeinsamen Abend in meinem Hause wöchentlich mit den Männern zu halten. Doch ist mein Lesestoff beschränkt. Die Erweiterung der Bibliothek wird uns künftig durch wöchentliche Beiträge möglich werden; jetzt hat die Gemeinde ohnedem große Opfer zu bringen (die Pfarre ist nämlich erst im vergangenen Jahre in s Leben getreten), und sie ist zum größten Theil auch opferbereit. Bitte, thun Sie schon etwas dazu, daß ihr geistige Speise zugetheilt werde. Es ist auch darnach Hunger vorhanden, und wo er nicht ist, da muß er geweckt werden, damit diese deutschen Christen in der Diaspora nicht dem gemeinsten Materialismus zur Beute werden. Pernausches Wochenblatt 21. September 1863 Durch eine Verordnung des General-Gouverneurs von Wolhynien, Podolien und der Ukraine, Generals Annenkow, ist den Gutsbesitzern in den genannten Gouvernements eine Contribution im Betrage von 10 pct. des Reinertrags ihrer Güter auferlegt worden, durch welche die durch die Unterdrückung der Insurrection verursachten Kosten gedeckt werden sollen. Die Verwaltungs-Chefs der drei Gouvernements sind angewiesen, die Reinerträge der einzelnen Güter zu ermitteln und danach den Betrag der Contribution für jeden einzelnen Besitzer festzustellen. Rigasche Zeitung 6. November 1863 [Auszug aus dem 4. Bericht der Unterstützungskasse für evangelisch-lutherische Gemeinden in Russland für das Jahr 1862] ( ) Nächst Sibirien ist es der Bezirk des Kiewschen Comité s, in dem für Landschulen am meisten geschehen ist. In der ganzen Gegend (Tschernigow, Kiew, Poltawa, Podolien und Wolhynien) befinden sich zahlreiche, aber kleine Ansiedelungen deutscher Fabrikarbeiter und Landbauern, die sich auf Privatgrund niedergelassen haben, meist arm und den Wechselfällen des Glücks viel mehr ausgesetzt sind als die Deutschen Colonisten an der Wolga. Sie haben zwar in vielen Ansiedelungen Schulhäuser und, wo diese fehlen, doch Lehrer. Allein sie geben denselben sehr geringe Gehalte und stellen dafür an sie so unzureichende Anforderungen, daß im Bericht von 1861 das Unterrichtswesen dieser Gegend als ein höchst klägliches geschildert werden mußte. Um so wichtiger war es, hier helfend einzuschreiten, sowohl durch Gehaltszulagen, als auch durch Gründung einer Stadtschule zu Shitomir. ( ) Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 19
20 Estländische Gouvernementszeitung 28. November 1863 In Folge einer Mittheilung der Wolhynischen Gouvernements-Verwaltung vom 24. October c. sub No bringt die Esthländische Gouvernements-Regierung hierdurch zur allgemeinen Kenntniß, daß bei der am 15. September c. gegen 7 Uhr Abends in der Stadt Owrutsch ausgebrochenen Feuersbrunst, das Gebäude, in welchem sich das Archiv des dasigen Kreisgerichts, der Vormundschaftsbehörde und des Kreisanwalts, - sowie das Haus, in welchem sich das Local des Kreisrichters befand, mit allen Acten, Büchern und Papieren der genannten Behörde verbrannt sind und daß daher diejenigen Behörden und beamteten Personen, deren Requisitionen unerfüllt geblieben sind, dieselben daselbst zu wiederholen haben. Pernausches Wochenblatt 9. Mai 1864 Moskau. Wie man hört, hat sich in Moskau eine G e s e l l s c h a f t gebildet, welche drei Millionen Rubel Silber zusammengeschossen hat, um in Podolien, Wolhynien etc. Güter früherer polnischer Besitzer aufzukaufen. Rigasche Zeitung 31. Juli 1864 Wolhynien. Aus dem Kreise Starokonstantinow schreibt man der St. P. Ztg. : Zu Beginn dieses Monats traf uns ein schweres Unglück. Am 5. Juli, um 2 Uhr Nachmittags, kam von der Oesterreichischen Grenze her ein furchtbarer Orkan herangestürmt, der unter Regen und Donner gegen eine Viertelstunde währte. Nach eingezogenen Erkundigungen wurden 60 Bauernhäuser und Scheunen zerstört, Obstbäume entwurzelt und der vierte Teil des Getraides niedergeschlagen, so daß der ganze Verlust sich auf Rbl. beläuft. Die Bauern der am schwersten betroffenen Wolost Sapadinezkaja leben vorzüglich von dem Ertrage des Gartenbaues, und sie richteten daher auf die Cultur von Gartenerzeugnissen ihre ganze Sorgfalt. Jetzt wurden in einer Viertelstunde alle ihre Hoffnungen zunichte. Rigasche Zeitung 25. August 1864 Wolhynien. Ein Orkan hat in der Sapadinetzschen Wolost des Wolhynischen Gouvernements im Laufe von 15 Minuten 60 Bauerhäuser vernichtet, Obstbäume gebrochen oder mit der Wurzel ausgerissen, gegen 3000 Schafe und Ziegen durch den Hagel erschlagen oder durch den Gewitterregen ertränkt und fast die Hälfte aller Gedraidefelder zu Grunde gerichtet. Rigasche Zeitung 20. Oktober 1864 Kiew. Der R. P. veröffentlicht einen Allerhöchsten Befehl vom 2. September, durch welchen bezüglich der Zahlungen, welche die Bauern für Erwerb des ihnen zum Eigenthum zugesprochenen Bauernlandes in den Gouvernements K i e w, W o l h y n i e n und P o d o l i e n zu leisten haben, festgesetzt worden ist, daß in allen Fällen, in denen von den Friedensrichtern ermittelt worden ist, daß die bäuerlichen Käufer nicht im Stande sind, die vollen Beträge zu leisten, denselben nach gehöriger Untersuchung durch das Gouvernements-Comité und nach eingeholter Zustimmung des General-Gouverneurs 15 Proc. des Kaufschillings erlassen werden sollen. im Kontext: Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 20
21 Rigasche Zeitung 20. Dezember 1866 Wolhynien. Wie wir der W. Gouv. Ztg. entnehmen, haben neuerdings von 43 zum öffentlichen Ausgebot gekommenen Gütern nur drei Käufer gefunden. Die Mosk. Ztg. widmet diesem Vorfall einen längeren Artikel, in welchem sie nachweist, daß das Verbot von Güterverkäufen an Polen einer der Gründe dieser Erscheinung sei; da die Polnischen Creditoren bankerott gewordener Güter nicht auf dieselben bieten dürften, sei die Zahl der Kaufliebhaber eine nur beschränkte. Diesem Zustande müsse durch Belebung des Credits und besonders durch Begründung von Banken abgeholfen werden, wenn dem von der Regierung angestrebten Zwecke der Uebertragung des großen Grundbesitzes in den westlichen Gouvernements in Russische Hände entsprochen werden solle. Rigasche Zeitung 8. Februar 1865 Wolhynien. Zwischen den Städten Shitomir und Rowno-Konstantinow ist eine Postverbindung organisirt worden. Pernausches Wochenblatt 26. Juni 1865 Am 5. Juni hat in der Stadt Shitomir eine Feuersbrunst stattgefunden, durch welche 9 zweietagige steinerne Häuser, 5 hölzerne Flügelgebäude und 63 hölzerne Buden zerstört worden sind. Libausche Zeitung 20. Juli 1865 Von der Polnischen Grenze, 18. Juli, wird der Ostsee-Ztg. berichtet: In Folge der an den Polnischen Adel der Russischen Gouvernements erlassenen Aufforderung, die Beweise für seine Adelsrechte beizubringen, sind an den General-Gouverneur Bezak in Kiew aus dem Gouvernement Wolhynien allein nicht weniger als Gesuche um Bestätigung resp. Ertheilung der Adelsrechte eingegangen. Die meisten der eingegangenen Gesuche sind wegen mangelhafter Legitimation abschlägig beschieden und ihre Einsender bis zur Vervollständigung der Legitimation, wozu ihnen eine Frist von 3 Jahren gewährt ist, der steuerzahlenden Klasse zugeschrieben worden. Diejenigen, welche von dieser Nachfrist Gebrauch machen wollen, haben dies sofort anzuzeigen und zugleich pränumerando die Summe von 30 Rbl. S zu erlegen, was freilich die Wenigsten im Stande sein werden. Rigasche Zeitung 6. Dezember 1865 Shitomir. Nach einem an den General-Gouverneur von Südwest-Rußland gerichteten Bericht des Doctors Jessanow sind vom Beginn der Cholera-Epidemie bis zur Mitte des November in Shitomir 1400 Personen von der Cholera befallen, von denen 500 starben. Libausche Zeitung 30. Dezember 1865 Der Kiewlj. enthält folgendes Circulärschreiben des Chefs des südwestlichen Gebietes an die Gouverneure der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien: Gegenwärtig trifft man in den Städten des mir untergeordneten Gebietes, in Folge ergriffener Maßregeln nicht mehr Schilder an Buden und Magazinen mit polnischen Aufschriften, so daß die Städte im Aeußeren russisches Ansehen haben, wie es in einer vor Alters her russischen Gegend auch sein muß. Im Innern der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 21
22 Läden und Magazine aber finden sich bis hiezu Aufschriften in polnischer Sprache. Indem ich wünsche, daß die polnische Färbung auch von dieser Seite getilgt werde, habe ich die Ehre Ew. Ex. ergebenst zu bitten, die Vernichtung aller dem ähnlichen äußeren Zeichen des Polonismus an Verkaufsplätzen anzubefehlen und ihre Beibehaltung oder Erneuerung bei Gefahr einer Strafe von Rbl. S. zum Besten von Wohltätigkeitsanstalten zu verbieten. Dieselbe Maßregel unterlassen Sie nicht auch in Bezug auf die die Inhaber von Magazinen und Buden zu ergreifen, welche die den Käufern zuzusendenden Rechnungen, Preiscourante und Aufschriften in polnischer Sprache schreiben und drucken lassen. Libausche Zeitung 3. Februar 1866 Südwest-Rußland. Die C h o l e r a, welche in Shitomir bereits aufgehört hatte, ist in Folge der außerordentlich schlechten Unterhaltung der Straßen, welche letzteren der Berichterstatter mit den pontinischen Sümpfen vergleicht, am 27. Dezbr. wieder erschienen. An dem genannten Tage erkrankten 11 Personen, von denen 5 starben; am 28. gab es 24 Erkrankungs- und 3 Todesfälle, zum 29. blieben 16 Kranke in Behandlung. Außerdem ist die Cholera im Dorfe Leschtschino (Kreis Shitomir) und in der Stadt Nowgorod-Wolinsk ausgebrochen, wo täglich Personen erkranken und 6 sterben. (Dörpt. Ztg.) Rigasche Zeitung 22. März 1866 Wolhynien. Am 29. Januar ist in dem Flecken Kilikijew im Gouv. Wolhynien die Cholera ausgebrochen. Von den 12 Erkrankten starben bis zum 4. Febr. 4 und genasen 6. Auch im Flecken Sudelkowa ist eine Person an der Cholera gestorben. Libausche Zeitung 24. Februar 1866 Von der polnischen Grenze, 4. März. Die Gazeta Narod. berichtet über einen schrecklichen Unglücksfall, der sich unlängst in Wolhynien in der Gegend von Krzemieniec ereignet hat. Ein toller Wolf brach am hellen Tage in das Dorf Zolobad ein und verwundete mehr oder weniger schwer gegen 40 Personen. Bei allen brach kurz hinter einander die Tollwuth aus, so daß die aus Krzemieniec herbeigerufenen Aerzte nicht im Stande waren, allen Kranken ärztliche Hilfe angedeihen zu lassen. Viele von der Tollwuth Ergriffene hatten nicht einmal die nöthige Aufsicht und Pflege und liefen frei in der Umgegend umher, alles anfallend und mit den Zähnen verwundend, was ihnen begegnete. Das Unglück soll herzzerreißend gewesen sein. Rigasche Zeitung 9. August 1866 Kiew. Der Kiewl., ein der örtlichen Verwaltung nahe stehendes Blatt, bespricht in seinem letzten Leitartikel das Verhältniß des Polnischen Elements in den Städten der südwestlichen Gouvernements zu dem Russischen. Wird nämlich die Häuserzahl in den Gouvernementsstädten der Prüfung zu Grunde gelegt, so ergiebt sich daraus, daß in Kiew 1/12, in Kamenetz-Podolsk und Shitomir 2/5 der Häuser und mehr sich in Händen der Polen befindet. werden alle städtischen Grundstücke der einzelnen Gouvernements in Rechnung gezogen, so gehören im Kiewschen Gouvernement 1/9, im Podolischen fast 1/6 und im Wolhynischen ¼ derselben den Polen an, abgesehen davon, daß verschiedene Kreisstädte, als Berditschew, Rowno, Dubno, Starokonstantinow und andere, einen Privatbesitz Polnischer Adelsfamilien bilden. Natürlich folgert sich aus diesen Zahlen für den Kiewl. die Nothwendigkeit, Maßregeln wie sie gegen das Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 22
23 Umsichgreifen des Polnischen Elements auf dem Lande theils schon in s Werk gesetzt worden sind, theils noch beabsichtigt werden, auch auf die Hausbesitzer Polnischer Nationalität auszudehnen, denn, meint der Kiewl., es wäre doch nicht wünschenswert, die Keime des Polonismus in unseren Städten für immer und ewig zu erhalten. Rigasche Zeitung 10. Oktober 1866 Kiew. Der Kiewl. berichtet: Auf Anordnung des Gouvernements-Chefs und Kraft der ihm zustehenden Gewalt sind folgende römisch-katholische Klöster geschlossen worden: das Mönchskloster vom Karmeliter-Orden zu Berditschew und Kamenetz und vom Franziskaner-Orden im Flecken Meshiritsch im Ostrogschen Kreise des Wolhynischen Gouvernements und das Nonnenkloster vom Dominikaner-Orden in Kamenetz. Rigasche Zeitung 18. November 1866 Kiew. Mit Bezug auf das für das Königreich Polen erschienene Gesetz über die Befreiung der Polnischen Städte von Domanial-Verpflichtungen theilt der Kiewl. mit, daß der im Gouvernement Wolhynien durch die Gouvernementsregierung auf den 7. Februar nächsten Jahres, 11 Uhr Morgens, angesetzte Verkauf der Stadt Dubno öffentlich bekannt gemacht wird. Die Stadt ist nach Capitalisirung der Einnahmen, die sie dem Besitzer einbringt, auf Rbl. abgeschätzt. Für das Ohr eines Russen der inneren Gouvernements, meint der Kiewl., müsse eine derartige Ankündigung auffallend genug klingen, und es dürfte wohl nicht zu viel vom Staate verlangt sein, wenn er die Expropriation dieser und so vieler anderer im Privat-Besitze befindlichen Städte etwa nach den Grundsätzen, die bei der Expropriation von zu Staats- und Communal-Zwecken nothwendigem Lande Anwendung finden, bewerkstelligen würde. Besser freilich wäre es noch, wenn die Städte selbst etwa durch nach denselben Grundsätzen ausgestellte Obligationen auf lange Termine sich emancipirten. Libausche Zeitung 1. Dezember 1866 Shitomir. 23. Nov. (K.T.A.) Eine beträchtliche Zahl der Telegraphenleitungen von Shitomir nach Kiew, Odessa, Warschau und in s Ausland haben wegen des Einfrierens der Drähte ihre Thätigkeit eingestellt. Das Eis, das dieselben bedeckt, erreicht eine Dicke von drei Zoll. Libausche Zeitung 17. Dezember 1866 Shitomir. Die Mißbräuche, welche neuerdings in der städtischen Verwaltung entdeckt worden, beschäftigen im Augenblick die Gesellschaft in Shitomir in außergewöhnlicher Weise. Die Sache verhält sich folgendermaßen: Der Gouverneur von Wolhynien wollte die Summen und Dokumente der Stadtduma revidiren und hatte dazu den 15. October angesetzt. Als er in der Duma ankam, fand er, daß die Geldkasten schon aus der Rentei nach der Duma gebracht worden und nur mit dem Petschaft der letzteren versiegelt waren. Herr Masslowski, das Stadthaupt, war nicht da. Man schickte nach ihm, konnte ihn aber nicht in der Stadt auffinden. Der Gouverneur ließ deshalb die Kasten mit seinem Petschaft und mit dem von vier Gliedern der Duma versiegeln und zur Aufbewahrung nach der Rentei bringen. Es sollte nun eine gründliche Revision von einer besonders zu dem Zwecke gebildeten Kommission vorgenommen werden. Diese Kommission begann die Revision der Bücher am 24. October und wollte am 28. zu der der Geldsummen übergehen. Herr Masslowski bat, da er an diesem Tage dem Gottesdienst zur Vermählung S.K.H. des Großfürsten Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 23
24 Thronfolgers beiwohnen mußte, die Revision auf den nächsten Tag zu verschieben. Dieser folgende Tag war aber ein Sonnabend, und deshalb baten die jüdischen Stadtverordneten, die Revision erst am 31. October vorzunehmen. Als man am festgesetzten Tage die Kasten öffnen wollte, bemerkte das Stadthaupt, daß er den Schlüssel zu Hause vergessen habe und ihn holen wolle. Er kehrte zurück und erklärte, er könne den Schlüssel nicht finden. Man gab Hrn. Masslowski nun Zeit bis zum folgenden Tage, um den Schlüssel herbeizuschaffen. Die Kommission war abermals beisammen, die geheimnißvollen Geldkasten wurden herbeigeschafft, aber Herr Masslowski erschien nicht. Man schickte einen der Deputirten nach ihm, der kommt aber zurück und erklärt, Hr. Masslowski könne nicht kommen, weil er sich mit einem Gewehr in die Brust geschossen habe. Nachdem nun die Schlösser abgebrochen waren, erwies sich, daß von den R 74 ¼ K., die zum 15. Oct. baar vorhanden sein sollten, 7695 R. fehlten. Es sind nunmehr die geeigneten Schritte behufs Anstrengung einer formellen Untersuchung und Sicherung des städtischen Vermögens geschehen. (St. P. Z.) Rigasche Zeitung 20. Mai (1. Juni) 1867 Ostrog (Volhynien), 1. Mai. Ein fürchterlicher Orkan in Begleitung des stärksten Gewitters mit Hagelschlossen, groß wie Taubeneier, suchte heute die Umgegend unserer Stadt heim und berührte namentlich u.a. die Kleinrussendörfer Moschtschanitza und Mulan und das erst vor 4 Jahren angelegte, 15 Werst von der Stadt entfernte, mennonitische Dorf Pelagin Grünthal. In letzterem wurden zwei große, gut gebaute neue Getreidescheunen von dem mit reißender Schnelle heranbrausenden Südweststurme total umgerissen und in einen Trümmerhaufen verwandelt; dasselbe Schicksal traf in Moschtschanitza 8 und in Mulan 18 Getreidescheunen, ungerechnet die beträchtlichen Beschädigungen an Wohnhäusern. Im Freien sich befindendes Federvieh, sowie in einzelnen Fällen auch Kühe und Pferde etc. wurden vom Hagel getödtet. Einem mit Pferd und Wagen auf dem Wege vom Unwetter überraschten Bauern soll der Hagel den Wagen in vier Stücke zerschlagen und der Mann sich nur mit großer Gefahr gerettet haben. Etwa 15 Werst von Grünthal hat ein in unerhört großen Stücken (wie einige Pfund schwere Eisschollen) herabfallender Hagel einen bedeutenden Theil des Waldes entwurzelt und zerschlagen. Ganze Getreidefelder und schon ziemlich bewachsenes Weideland waren förmlich rasirt; nur schwarzes Erdreich erschien nach Verlauf des Schlag auf Schlag erfolgenden, blitz- und donnerbegleiteten Hagels und Sturmes. Die Landleute sind genöthigt, ihr Vieh mit dem übriggebliebenen Dachstroh zu füttern, um es nicht dem elenden Hungertode preiszugeben. Wohl nur eine Viertelstunde (6 6 ¼ Uhr Abends) währte der Orkan und kann man sich eines gleichen seit Jahren nicht erinnern. (Die russischen Zeitungen bestätigen die Nachricht von diesem furchtbaren Orkan und enthalten ebenfalls Beschreibungen der durch denselben angerichteten Verwüstungen. D. Red.) Rigasche Zeitung 12. September 1867 (Auszug) Westrußland. ( ) Auch in Shitomir besteht seit uralten Zeiten eine kleine Mohamedanische Gemeinde, die einige Vertreter im Staatsdienste zählt. Unsere Russen, schreibt die Wolhyn. Gouv. Ztg. wörtlich, kümmerten sich natürlich, in gewohnter Lässigkeit, nicht um die Mohamedaner Wolhyniens, die Polen aber haben sie von Kopf bis zu Füßen polonisirt. Alle diese in Shitomir lebenden Mohamedaner sprechen nicht nur ziemlich geläufig Polnisch, haben Polnische Sitten angenommen, lesen wahrscheinlich auch Polnische Bücher, sondern zieren sogar ihre Grabsteine mit Polnischen Inschriften. Käme ein Ausländer auf den Mohamedanischen Kirchhof in Shitomir, so Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 24
25 müßte er ohne Weiteres glauben, in Polen zu sein, denn alle Denkmäler sind nur mit Arabischen und Polnischen Inschriften versehen. Auch verdient hervorgehoben zu werden, daß die Grabsteine in Shitomir nur von Russen gearbeitet werden, mithin Polnische Inschriften auf Mohamedanischen Gräbern ein Beweis dafür sind, daß die Polen sich die Polonisirung der im Lande lebenden Mohamedanern haben angelegen sein lassen. Wahrhaftig, es wäre wohl an der Zeit, daß auch unsere Russen etwas energischer die Russificirung dieses seit Alters Russischen Landes in die Hand nähmen und die ganze Sorge nicht der Regierung allein überließen, die auch bei aller Energie ihres Vorgehens dennoch nicht sämmtliche Details der nationalen Existenz ergründen kann. Rigasche Stadtblätter 14. September 1867 B e n u t z u n g d e r S e i d e n p f l a n z e (asclepias syriaca). Die Statuten einer Gesellschaft zur Bereitung inländischer Baumwolle aus der Seidenpflanze haben die Allerhöchste Bestätigung erhalten. Die Gründer der Gesellschaft sind Oberst Issupowd, Gutsbesitzer im Gouvernement Wolhynien, und der Capitain Shdanowitsch, Gutsbesitzer im Gouvernement Tschernigow; das Grundkapital beträgt 2 Mill. Rbl. in 200 Antheilen à Rbl. Die Gesellschaft bezieht den Samen der Seidenpflanze von dem Gärtner der Kiewer Universität, Herrn Hochhut, und verpflichtet sich, für s Erste mindestens Dessj. Land in den Gouvernements Wolhynien und Tschernigow zur Anlegung von Pflanzungen zu erwerben und die nöthigen Fabriken zu errichten. Wenn sich das Unternehmen weiter entwickelt, hat die Gesellschaft das Recht, unter Genehmigung der Regierung die Zahl der Kapithalsantheile zu vermehren und noch weitere Ländereien durch Kauf oder Pachtung an sich zu bringen und zu ihren Zwecken zu nutzen. Rigasche Zeitung 1. November 1867 Wolhynien. Der Adelsmarschall dieses Gouvernements, Fürst Imeretinsky, beklagt sich in einem längeren Schreiben an die "M. Z." darüber, daß der Verkauf von Gütern an Russen keinen gedeihlichen Fortgang nehmen wolle. Während dreier Monate Juni, Juli und August sei nur ein einziger Verkauf entgiltig zu Stande gekommen und zwar nur der eines kleinen Dorfes, welches für 2100 Rbl. von einem Russen gekauft worden. Käufer seien schon vorhanden und Unterhandlungen genugsam angeknüpft, aber in Folge der durch die Polnischen Gutsbesitzer veranlaßten Weiterungen und Verzögerungen sei kein einziger Kauf bis hierzu wirklich perfect geworden. Die "M. Z." nimmt hieraus Veranlassung zu einem langen Leitartikel. Rigasche Zeitung 29. Januar 1868 S ü d w e s t R u ß l a n d. (F e u d a l e R e s t e). Südwest-Rußland ist vielleicht die einzige Stelle Europas, wo sich noch Reste des mittelalterlichen Lehnswesens unversehrt erhalten haben. In den drei Gouvernements gehören noch 8 Städte Privatbesitzern: es sind dies Berditschew und Lipowetz im Gouvernement Kiew; Dubno, Rowno, Sasslawl, Starokonstantinow und Ostrog in Wolhynien und Jampol in Podolien. Außerdem befinden sich 339 Flecken (109 im Gouvernement Kiew, 129 in Wolhynien und 101 in Podolien) in Privatbesitz. Einige dieser Flecken übertreffen an Bedeutung manche Kreisstadt. Dem Staate gehören nur 64 Flecken (13 im Gouvernement Kiew, 27 in Wolhynien und 24 in Podolien). Für ein russisches Ohr, für den Bewohner des Innern Rußlands, sagt der Kiewl., mag dies sehr sonderbar klingen; dieser Rest eines fremden Feudalismus besteht eben einmal noch jetzt. Es hat dies gegenwärtig keinen anderen Sinn, als daß dadurch die Herrschaft des Polnischen Adels im Lande verlängert wird. Wie man uns jetzt aus sicherer Quelle Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 25
26 mittheilt, geht man damit um, ausführliche Data über die städtischen Bevölkerungen zu sammeln und um die Bildung einer Commission zur Abfassung eines Projects über die Umgestaltung der Städte und Flecken Westrußlands zu bitten. Außerdem wird vorgeschlagen, durch Aufhebung der dienstlich-corporativen Abgeschlossenheit (служебная сословность) der griechischen Geistlichkeit den Grund zur Bildung eines städtischen Mittelstandes zu legen. Rigasche Zeitung 27. März 1868 G o u v e r n e m e n t W o l h y n i e n. Bis 1851 kannte man in Rußland nur das eine L a b r a - d o r l a g e r in Kamenny-Brod und dessen Umgegend, am Bache Bystrijewka im Gouvernement Kiew auf der Grenzu des Gouvernements Wolhynien gelegen. Im Jahre 1865 hat Herr g. Ossowski neue Lager diese seltenen Steines im Flecken Goroschki, an den Ufern des Flusses Irscha im Gouvernement Wolhynien belegen, aufgefunden und beschrieben..wie er behauptet, enthält das östliche Wolhyien zahlreiche und außerordentlich reiche Lager desselben. Von dem Flecken Goroschki erstrecken sich die Lager in nordöstlicher Richtung 40 Werst weit längs des Irscha bis zur Mündung des Flusses Werchnjaja-Irschiza beim Dorfe Jadenko. Unter den Steinen der Werchnjaja- Irschiza hat man eine ganz neue Gattung entdeckt, in welcher statt des farblosen und durchsichtigen oder dunkelgrünen und rauchfarbenen Quarzes, der einen Bestandteil der bekannten Arten bildeet, ein weißer, compacter und undurchsichtiger vorkommt, der in gesprenkelten Mustern auf schwarzem Grunde erscheint und dem Steine ein außerordentlich hübsches Aussehen verleiht. Rigasche Zeitung 24. April 1868 Kiew. Viele Fälschungen sind in den Documenten, welche im Kiewer Centralarchive aufbewarht werden, entdeckt worden. Veranlassung dazu gab die Verhaftung eines Polnischen Beamten wegen falscher Bescheinigung von Auszügen aus diesen Documenten. Derselbe hatte nämlich ausgesagt, daß das Owrutscher Landschaftsbuch von 1783 eine Menge falscher Documente enthalte, und daß in Shitomir besondere Fälschungs-Specialisten leben. Es wurde sofort die Verhaftung der bezeichneten Personen in Schitomir veranlaßt und eine Commission zur Untersuchung der Documente des Centralarchivs ernannt. Bis jetzt sind 18 Bücher aus dem 18. Jahrhunderte mit falschen Documenten entdeckt worden. Es sind dies meistentheils Kaufbriefe, Testamente, Taufscheine, Quittungen, überhaupt solche Documente, welche zum Nachweise des Adels oder des Besitzrechts dienen. Die Fälschung ist größtentheils durch Einschaltung neuer Blätter in das Schnurbuch ausgeführt worden, wobei natürlich die Siegel gelöst und Blätter herausgerissen werden mußten. Nach Verübung der Fälschung wurde denn Alles wieder mit falschen Siegeln, oft auf eine nur sehr oberflächliche Weise, in Ordnung gebracht. In den Jahren 1860 und 1861 war die Nachfrage nach Copien dieser gefälschten Documente besonderts stark, hörte während des Aufstandes auf und begann nach demselben aufs Neue, aber nichtmehr in so ausgedehntem Maße. Man kann annehmen, daß seit der Errichtung des Archivs, d.h. vom Jahre 1852 bis 1866 gegen 1000 falsache Copien ausgetheilt worden sind. diese in so großem Maße veranstalteten Fälschungen können natürlich nicht ohne Mitwirkung, wenigstens nicht ohne Mitwissen der Polnischen Beamten ausgeführt worden sein. Es scheint, daß die meisten jedoch vor Gründung des Archivs verübt worden sind, obgleich es auch keine Schwierigkeit gehabt haben mag, sie später auszuführen. (St. P. Z.) Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 26
27 Libausche Zeitung 4. Mai 1868 Ueber die Entdeckung massenhafter Fälschungen in den Archiven von Kiew meldet der dort erscheinende "Kiewl." Folgendes: Das betreffende Archiv wurde im Jahre 1852 durch den damaligen General-Gouverneur Bibikoff begründet, damit in demselben alle auf Angelegenheiten des Polnischen Adels bezüglichen Documente bis zum Jahre 1800 hinterlegt würden. Jede Polnische Familie, welche auf den Adelsstand Anspruch erheben wollte, mußte nachweisen, daß sie durch drei Generationen hindurch dem ehemaligen Polnischen Adel angehört habe, was eben nur aus den, in jenem Archive niedergelgten Documente ersehen werden konnte. Im letztvergangenen November stellte sich nun heraus, daß in den Büchern des Archivs zahlreiche Fälschungen vorgenommen worden waren, mu Familien den Adelstitel zuzuwenden, welche auf denselben nicht den geringsten Anspruch haben. ein Beamter Polnischer Nationalität, auf welchen der erste Verdacht fiel, wurde sofort verhaftet und gestand, daß in der Stadt Zytomir die Fälschung von Büchern des Archivs gleichsam geschäftsmäßig ausgeübt werde. Die Complicen der schuldigen Archivbeamten hatten sich nämlich von diesen einzelne Bücher ausfolgen lassen, darin die Fälschungen vorgenommen und die so geänderten Bücher wieder dem Archiv zugestellt. Es wurde auf diese Geständnisse hin eine Commission eingesetzt, welche sämmtliche Bücher des Kiewer Archivs zu prüfen hat. Die Arbeiten dieser Commission sind noch lange nicht beendet, indessen hat sich bereits herausgestellt, daß in achtzehn Büchern sämmtlich aus dem achtzehnten Jahrhundert herrührend, Fälschungen vorgenommen worden sind, und daß in der Zeit vom Jahre 1858 bis 1866 der Adelsrang ungefähr 5000 Familien der Schlachta auf Grund gefälschter Dokumente anerkannt worden ist. Besonders zahlreich waren die Gesuche um Anerkennung des Adelstitels im Jahre 1862 kurz vor Ausbruch des letzten Aufstandes gewesen, zu welcher Zeit auch die Mehrzahl der Fälschungen angefertigt worden seien. Rigasche Zeitung 28. Juni 1868 Luzk. In der Nacht vom 9. zum 10. Juni brach Feuer aus, durch welches die Rentei, das Kreisgericht, das Dominikanerkloster, inwelchem ein Regimentszeughaus eingerichtet war, das Brigittenkloster und 50 Privathäuser zerstört wurde. Die Geldsummen der Rentei sowie ein großer Theil der Acten in den Behörden konnten gerettet werden. Rigasche Zeitung 15. Juli 1868 London. 24. (12.) Juli. Im Unterhause machte Sir Robert Montagu die Mittheilung, die Regierung habe die Nachricht erhalten, daß sowohl in Aegypten, als in Volhynien und anderen Provinzen Rußlands die Rinderpest ausgebrochen ist. Rigasche Zeitung 3. März 1869 Die "Gesetzessammlung" veröffentlicht einen Allerhöchsten Befehl, welcher die Errichtung zweier Control-Stationen zu Krakau und Schitomir anordnet. Diese Stationen sollen die Controle über die telegraphische Correspondenz zwischen Rußland und Oesterreich führen; in Krakau werden zu diesem Zwecke vier russische Telegraphenbeamte die Station bilden und in Schitomir dagegen Oesterreichische Beamte beschäftigt werden. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 27
28 Rigasche Zeitung 13. Februar 1871 Wolhynien. Die Wolh. Ztg. theilt, wie wir der Nord. Pr. entnehmen, folgende Details über den Stand der Loskaufsoperation im Gouvernement Wolhynien bis zum 1. Januar 1871 mit: 1) Loskaufscontracte, nach welchen das Loskaufsdarlehen auf Grundlage des Loskaufsreglements vom 19. Februar 1861 zur Auszahlung gelangt, wurden bei der Hauptloskaufsinstitution angemeldet 40; von diesen wurden bestätigt: Contracte, die durch Uebereinkunft der Gutsbesitzer mit den Bauern zu Stande gekommen waren, 35; Abmachungena auf Antrag der Gutsbesitzer 5. Die Zahl der Bauern, die zum Loskauf schritten, betrug nach Revisionsseelen Nach den bestätigten Loskaufsabmachungen betrug die Menge des losgekauften Landes Dessätinen 1835 Sash., wofür den Bauern Rbl. 36 Kop. dargeliehen wurden. 2) Loskaufsacte auf Grundlage des Ukas vom 30. Juli 1863 kamen bei der Hauptloskaufsinstitution vor 3611, wovon 3231 bestätigt wurden. Die Zahl der bäuerlichen Revisionsseelen betrug , die Menge des losgekauften Landes Dessätinen 3 Sash.; die Summe des Loskaufsdarlehens Rbl. 83 Kop. Libausche Zeitung 17. Juli 1871 Libau. Die in Kijew erscheinende Zeitung Kijewlanin veröffentlicht höchst interessante statistische Nachrichten über die israelitische Bevölkerung der Gouvernements Wolhynien, Podolien und Kijew, die ein sehr wichtiges Element der dortigen Inwohnerschaft bildet. Die Anzahl der daselbst ansässigen Juden wird auf Köpfe angegeben. Ihre Häuser repräsentieren einen Werth von mehr als 29 Millionen Rubel. Juden haben 819 Güter mit einem Areal von Desjatinen in Pacht, und zahlen einen jährlichen Pachtzins von SRo. 25 pct. sämmtlicher Zuckerfabriken, 119 Bierbrauereien von 198, 90 pct. der 9353 Mühlen**, und sämmtliche Branntweinschänken, die jährlich 6 Millionen Eimer Branntwein ausschenken, befinden sich in israelischen Händen. Die 527 jüdischen Fabrikanten produciren für 2 Mill. SRo. Im Ganzen ergeben die von Israeliten geleiteten 6825 industriellen Anlagen ein jährliches Productionscapital von SRo. Außerdem befinden sich in jenen Provinzen verschiedene Handlungen, deren Besitzer Israeliten sind. Der ganze Holz- und Getreidehandel, die Ausfuhr und die Lieferungen für Rechnung der Krone werden nur von Israeliten besorgt. ** Anm: vgl. Anzeige in der Libauschen Zeitung : R. Nuchimson und Sch. Glasberg zeigen an, daß sie als ehemalige Compagnons bei Verwaltung und Comptoir der Neu-Chartorier Porzellan- und Roggenwalzmühlen künftig nur noch auf getrennte Rechnung arbeiten werden (die Ortsbezeichnung meint vermutlich Neu-Czartorysk am Styr). Rigasche Zeitung 3. April 1872 Südwestrußland. Z u r E i n f ü h r u n g d e s S c h u l z w a n g e s hat, wie die deutsche "Pet. Ztg." dem "Kiewl." entnimmt, die ostropolskische Wolostversammlung im Kreise Nowograd- Wolynsk folgendes beschlossen: Jeder Hausbesitzer, der seinen Sohn in das Aufnahmebuch der Schule hat aufnehmen lassen, muß dafür Sorge tragen, daß das Kind ohne ganz besonders wichtige Gründe die Schule nicht versäume. Für Verletzung dieser Schulordnung zahlt der Schuldige das erste Mal 15 Kop., das zweite Mal 25 Kop. und das dritte Mal wird über ihn als eine Person, welche den Beschlüssen der Gemeinde keine Folge leistet, an den Friedensrichter berichtet. Die Kinder beiderlei Geschlechts dürfen die Schule vor Beendigung des Cursus nicht verlassen und haben hierüber ein Zeugniß zu erhalten. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 28
29 Rigasche Zeitung 6. September 1872 Shitomir. Eine ärztliche Gesellschaft will sich hier bilden. Eine Versammlung hiesiger Aerzte hat um die Bestätigung einer solchen nach dem Statut der sonst in Rußland bestehenden nachgesucht und beabsichtigt nach erlangter Bestätigung sogleich eine Klinik und ein Gebärhaus zu gründen und ihr Hauptaugenmerk auf die Sanitätsverhältnisse der ländlichen Bevölkerung zu richten. Libausche Zeitung 5. Dezember 1872 Aus Wolhynien schreibt man dem Kiewlj. von folgender, an die Zeiten des Mittelalters erninnernde Eigenmächtigkeit. Dem neuen Gutsherrn des Fleckens Ustilug, wo in commercieller Beziehung kein unbedeutender Verkehr stattfindet, fiel es unlängst ein, die durch Ustilug führenden Wege durch Schlagbäume abzusperren und von den die Straße dahinziehenden Fuhrwerken durch eigens angestellte Wegknechte Chausseegeld erheben zu lassen. Die nächste Folge war, daß die Getreide- und Holzzufuhr stockte und der Austausch von Anis, Tobak und Hanf gegen Eisen und Harz sehr bedeutende Einschränkung erlitt, so daß die Zahl der Käufer und Verkäufer von Tag zu Tag geringer wird. Wie das Gerücht verlautet, bemüht sich der Gutsherr jetzt beim Gouvernementschef um Anerkennung der von ihm errichteten Schlagbäume und um Ertheilung der Genehmigung, aus den daraus erzielten Summen die Pflasterung des Fleckens bestreiten zu dürfen. Hoffentlich wird der Gouvernementschef dem Gutsbesitzer andere Mittel und Wege zeigen, wie derselbe die nöthige Geldsumme zur Pflasterung auftreiben kann, ohne daß die Genehmigung zu mittelalterlichem Rückschritt erforderlich wäre. Rigasche Zeitung 18. April 1873 Kreis Wladimir-Wolynsk. Eine Feuersbrunst brach, wie die deutsche Pet. Ztg. dem Kawkas entnimmt, am 18. März in dem dem Grafen Tanawski gehörigen Flecken Gorochow, während die Bewohner auf dem Sonntagsmarkte mit dem Handel beschäftigt waren, in einem Judenhause aus, und nach einer Stunde stand der ganze Flecken in Flammen. Es brannten 250 Häuser herunter und nur die neuerbaute russische Kirche, die katholische Kirche und die Synagoge und drei oder vier Wohnhäuser sind stehen geblieben. Die Bewohner haben nicht nur das Obdach, sondern geradezu alle Subsistenzmittel verloren. Libausche Zeitung 25. April 1873 Warschau. In den so fruchtbaren südwestlichen Gouvernements Kiew, Wolhynien und Podolien hat seit dem vorigen Jahre infolge der neu eröffneten Eisenbahnen und der neu gegründeten Creditinstitute die Industrie und namentlich die Zuckerfabrikation einen bedeutenden Aufschwung gewonnen. bei Gelegenheit der Kiewer Februarmesse wurden zur Betreibung des letzteren Industriezweiges zahlreiche Actiengesellschaften gegründet, von denen manche ein Anlagecapital von 2 bis 4 Millionen S. R. zur Verfügung haben. Mit dem Aufschwung der Industrie hat sich auch der Bodenwerth gehoben. Während noch im vorigen Jahre bei Güterverkäufen die Dessätine Land durchschnittlich mit 40 S. R. bezahlt wurde, ist der Durchschnittspreis der Dessätine in diesem Jahre auf 100 S. R. gestiegen und die Gutsbesitzer halten mit dem Verkauf ihrer Besitzungen immer mehr zurück. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 29
30 Libausche Zeitung 6. November 1873 Wolhynien. Wie der Kiewljanin mittheilt, haben sich die Bauern der Sasslawschen Wolost der Mäßigkeitsbewegung angeschlossen und folgende Uebereinkunft getroffen: Um die Trunksucht und überhaupt den Gebrauch starker Getränke, mit Ausnahme von Bier und Thee, auszurotten, was uns allen Nutzen bringt und die Juden abhalten wird, sich von unserem Schweiß zu bereichern, gestatten wir den zeitweiligen Gebrauch des Branntweins in kleinen Quantitäten und zu Hause, nicht aber in den Schenken. Wenn einer unserer Bauern von jetzt ab in einer Schenke Branntwein trinkt, so bezahlt er zum Besten der Gemeindekasse das erste Mal 20, das zweite Mal 40, das dritte Mal 80 Kop., das vierte Mal 1 Rbl. 60 Kop. Strafe; dann aber wird er von der Wolostverwaltung ohne Weiteres auf sieben Tage eingesperrt. Rigasche Zeitung 22. Januar 1874 Warschau. 25. Januar. einem amtlichen Nachweise zufolge hat sich in Volhynien die Zahl der Polnischen Edelleute in den letzten 10 Jahren um mehr als die Hälfte vermindert. Es ist dies die Folge der nach dem Aufstande von 1863 angeordneten Prüfung aller zweifelhaften Ansprüche Polnischer Familien an die Adelsprivilegien. Auf Grund dieser sind Tausenden von Familien, welche ihren bisher geführten Adel durch Diplom und andere Documente nicht nachzuweisen vermochten, Adelswürde und die damit verbundenen Privilegien entzogen worden. - Von den verschiedenen religiösen Bekenntnissen in Volhynien hat in den letzten 10 Jahren das evangelische den stärksten numerischen Zuwachs an Bekennern gehabt, was lediglich eine Folge der vermehrten Einwanderung von Evangelischen nach Volhynien ist. Rigasche Zeitung 1. Februar 1874 W l a d i m i r - W o l y n s k soll zur Gouvernementsstadt des neuzubildenden Gouvernements erhoben werden, zu welchem neben den vier Kreisen des Gouvernements Lublin Cholm, Grubeschew, Krasnostaw und Tomaschew noch zwei Kreise des Gouvernements Wolhynien: Waldimir und Kowel und ein Theil des Wlodawer Kreises (Gouvernement Sedlez) gehören sollen. Rigasche Zeitung 7. März 1874 Petersburg. Auf Grund eines Berichtes des Ministers des Innern im vergangenen Jahre ist, wie wir dem Reg. Anz. entnehmen, gemäß einem Gesuch des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien, Allerhöchst angeordnet worden, eine V o l k s z ä h l u n g i n d e n S t ä d t e n K i e w u n d S h i t o m i r a n e i n e m T a g e auszuführen. Nach dem Berichte des Gouverneurs von Wolhynien vom 5. Februar 1874 hat die Volkszählung in S h i t o m i r am 18. December 1873 stattgefunden und weist günstige Resultate auf. Dieser Erfolg erklärt sich besonders daraus, daß bei dieser Zählung genau die verbesserten Bestimmungen, wie sie das centralstatistische Comité auf Grundlage der von den statistischen Congressen festgesetzten Grundsätze für Rußland ausgearbeitet hat, eingehalten wurden. Zur Ausführung der Zählung ward vom statistischen Gouvernementscomité aus seinen Mitgliedern eine besondere Commission von sechszehn Mitgliedern niedergesetzt. Zur Ausführung der Zählung selbst wurden auch Privatpersonen, wie Militairpersonen, Beamte und die Schüler der oberen Klassen der Gymnasien, sowie auch des Lehrerinstituts aufgefordert. Im Ganzen nahmen 248 Personen an der Zählung teil. Die Stadt wurde in Bezirke unter die Mitglieder der Commission getheilt, von welchen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 30
31 jeder ein Polizeiquartal übernahm, in welchem er die Oberleitung hat. Einem Jedem derselben wurde eine Anzahl Zähler gestellt. Alle Zähler führten ihre Aufgabe unentgeltlich aus. An dem einen Tage, 18. December, ward die Zählung ausgeführt und am 24. December, nach Ausführung der Controle und der vorläufigen Zusammenstellung, hielt die Commission ihre letzte Sitzung. Die Zählung war ohne irgend welche Hindernisse ausgeführt, die Bevölkerung zeigte Vertrauen und Mitgefühl für die Zählung. Der Commission waren 500 Rbl. für die Zählung zur Verfügung gestellt, nur 303 Rbl. 49 Kop. gelangten zur Verausgabung, der Rest ist für die Ausgaben zur Verarbeitung des Zählungsmaterials bestimmt. Die vorläufig veröffentlichten Resultate lauten: 1 ) Gehöfte ) Bewohnte Häuser ) Unbewohnte Häuser ) Wohnungen ) Zimmer Die Gesammtzahl der Bevölkerung belief sich auf , und zwar Männliche und Weibliche. (Nach dem statistischen Bericht pro 1872 betrug die Bevölkerung , und zwar Männliche und Weibliche.) Estländische Gouvernementszeitung 9. Januar 1875 Zufolge Circulairs des Herrn Ministers des Innern d.d. 5. December 1875 Nr. 137 werden sämmtliche Stadt- und Landespolizeien von der Estländischen Gouvernements-Regierung beauftragt, untenbenannte Personen, welche wegen Theilnahme an dem polnischen Aufstande von 1863 nach Verlust aller Standesrechte auf ewige Zeiten aus den Grenzen Rußlands verbannt worden sind, für den Fall ihrer eigenmächtigen Rückkehr nach Rußland aufzugreifen und dieselben unter sicherer Wache dem Oberaufseher des Revalschen Dom-Schloßgefängnisses zuzustellen. 1) Gutsbesitzer des Shitomirschen Kreises, Gouv. Wolhynien, Stepan Peglowsky, 31 J. alt; 2) Gutsbesitzer des Nowograd-Wolhynischen Kreises Otton Pongowsky, 43 J. alt 3) Gutsbesitzer des Mohilewschen Kreses, Gouv. Podolien, Stepan Buschtschinsky; 4) den frühern Verwalter des Gutes Kustowetz des Nowograd-Wolhynischen Kreises, Gouv.Wolhynien, Edelmann Gottfried Harnysch, 47 J. alt; 5) den gewesenen Gorodnitzschen Gemeindeschreiber desselben Kreises, Edelmann Joseph Korbut, 42 J. alt; 6) den frühern Vorsteher des Fleckens Worobjewk, Nowograd-Wolhynischen Kreises, Ludwig Konopatzky, 51 J. alt; 7) den aus dem Polnischen Adel abstammenden Kalennik Jatkewisch, 33 J. alt; 8) Andrei Gliwinsky, 37 J. alt; 9) den Bauer des Dorfes Sulkowsky, Litinskischen Kreises, Gouv. Podolien, Alexander Rusetzky, 32 J. alt; und 10) den früheren Organisten der katholischen Kirche in Turisk, Kowelschen Kreises, Wolhynischen Gouv., Pawel Markowsky, 48 J. alt. Libausche Zeitung 15. Juli 1875 Wolhynien. In der "Mosk. Deutschen Ztg." lesen wir: In Dubno in Wolhynien fand kürzlich eine interessante Gerichtsverhandlung statt. Es handelte sich nämlich um die Anklage gegen zwei Subjecte, einen Bauern und einen Juden, wegen Verbreitung lügenhafter Gerüchte unter dem Landvolke, als ob die Regierung dem "arabischen Monarchen einige tausend blonder Mädchen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 31
32 geschenkt hätte, um dort die weiße Menschenrasse mehr zu verbreiten." Unter der Vorspiegelung, daß schon eine ganze Partie solcher Blondinen abgeschickt sei und demnächst wieder eine Rekrutirung von je 6 Blondinen je Kreisbezirk bevorstehe, wurden die jungen Mädchen zum raschen Abschluß von Heirathen bestimmt, wobei natürlich für die Verbreiter solcher Nachrichten mancherlei Gewinn abfiel, es sei nun bei Beschaffung der nöthigen Ausstattung oder wenigstens durch Branntweinlieferung bei der Hochzeit selbst. Da die jungen Mädchen allerseits, sogar im kiewschen Gouvernement, sich in großer Aufregung befanden, in dem Dorfe Werba sich ein Mädchen vor Angst, einen Schwarzen zum Gemahl zu bekommen sogar in's Wasser stürzen wollte, so hatte die Polizei viel in den Dörfer umherzufahren, um die Gemüther zu beruhigen, was ihr jedoch weitaus nicht überall gelang. Die von ihr eingereichten Berichte sprachen zwar beständig von Juden, welche jene Gerüchte verbreiten sollen, allein es fehlte regelmäßig an handgreiflichen Thatsachen, auf Grund deren ein bestimmtes Individuum hätte zur Verantwortung gezogen werden können. Endlich erwischte man den Bauer Meseitschuk und den Juden Jankel Mops und überwies sie dem Gerichte. Jankel Mops konnte jedoch des ihm zur Last gelegten Vergehens nicht überwiesen werden und auch gegen Meseitschuk scheint nicht viel Gravirendes vorgebracht worden zu sein; er wurde zwar bestraft, jedoch sehr gelinde, indem er mit 5 Tagen Gefängnis davonkam. Rigasche Zeitung 25. Juli 1875 Der Entwurf eines Arbeitergesetzes für Rußland. [Auszug] E. D i e K i n d e r - u n d F r a u e n a r b e i t Kinder unter 12 Jahren dürfen nur zu ländlichen und landwirthschaftlichen Arbeiten mit Einwilligung ihrer Eltern oder Erzieher angenommen werden. Die Arbeitgeber müssen sie ihren Kräften und ihrem Alter entsprechend beschäftigen, sowie sie in ihrer freien Zeit zum Kirchen- und Schulbesuch anhalten. Es ist verboten: Kinder unter 15 Jahren ohne Aufsicht bei Locomobilen, Dreschmaschinen und anderen mechanischen Vorrichtungen zu beschäftigen; ferner Kinder unter 17 Jahren und Frauen zum Ziehen von Wasserfahrzeugen mittelst Schleppseilen zu verwenden; endlich Minderjährige (unter 21 Jahren) in Getränkeanstalten irgend welcher Art anzustellen. Während von der Kinderarbeit bei Bauten gar nicht die Rede ist, wird dieselbe für Fabriken und gewerbliche Anstalten genau geregelt. In den letzteren können Kinder von Jahren nicht mehr als 6, solche von Jahren nicht mehr als 8 in 24 Stunden beschäftigt werden, wobei die Zeit für das Frühstück, das Mittag- und Abendessen, sowie für die Erholung nicht eingerechnet wird. Kindern unter 16 Jahren hat der Arbeitgeber bei der Vertheilung ihrer Arbeitsstunden zum Schulbesuch freie Zeit zu lassen; auch muß zwischen der Nachtarbeit (innerhalb der Stunden von 9 Uhr Abends bis 5 Uhr Morgens) derselben (welche die Hälfte ihrer Tagesarbeit nicht überschreiten darf) und ihrer Tagesarbeit ein Zwischenraum von mindestens 8 Stunden liegen. Ueber alle in Fabriken und gewerblichen Anstalten beschäftigten Minderjährigen führt der Arbeitgeber eine besondere Liste (списокъ), in welche er auf Grund des Arbeitsbuches Namen, Alter, Hinzugehörigkeit, Eltern, die Anstellungs- und Entlassungszeit einzutragen hat. [Anmerkung: Die Rigasche Zeitung meldet in ihrer Ausgabe vom das Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 1882, das verbunden war mit der Einrichtung einer systematischen Überwachung: der Fabrik-Inspektion. Diese wurde 1885 neu organisiert und u.a. in 9 Bezirke eingeteilt. Wolhynien gehörte demnach zum Bezirk Kiew, die Zahl der zu kontrollierenden Betriebe ist mit 1350 bis 1400 angegeben.] Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 32
33 Estländische Gouvernementszeitung 23. Dezember 1875 Der Reichsrath hat mittelst eines am 18. October 1875 A l l e r h ö c h s t bestätigen Gutachtens verfügt: die jüdische Handwerksschule in Shitomir wird hinsichtlich der Ableistung der Wehrpflicht seitens der Zöglinge dieser Anstalt zur IV. Kategorie der in der Beil. zu Art. 53 der Verordnung über die Wehrpflicht aufgeführten Lehranstalten gerechnet. (Ukas des 1. Dep. des Dir. Senats vom 20. Novbr sub No ) Rigasche Zeitung 12. März 1876 Wolhynien. Ueber die d e u t s c h e n C o l o n i s t e n i n W o l h y n i e n entnimmt die deutsche Pet. Ztg. dem Kiew. Telegr. nachstehende Notizen: Nach stattgehabten Zählungen befinden sich gegenwärtig in Wolhynien 830 Ansiedelungen ausländischer Colonisten. In denselben wohnen Personen beiderlei Geschlechts, welche zusammen Dessätinen Land oder 3 ½ Dessätinen pro Seele besitzen. Alle Colonisten, die Czechen ausgenommen, leben als Ausländer und zahlen weder dem Staate, noch der Landschaft Abgaben. Sie bilden besondere Dörfer und sind in Bezug auf ihre innere Verwaltung und Befriedigung ihrer wirthschaftlichen Bedürfnisse von der übrigen localen Bevölkerung unabhängig. Die Mehrzahl sind Deutsche aus Preußen. Vergleicht man die Lage der Colonisten mit der der russischen Bauern, so erweist sich, daß die Russen pro Seele nur 1 2/3 Dessätine Land besitzen. Der Colonist zahlt von seinem großen Grundstück gar keine Steuern, genießt das ungeschmälerte Einkommen desselben, das seiner Person und seiner Wirthschaft zugute kommt. Seine Reineinnahme beträgt etwa 50 Rbl. pro Seele. Der russische Bauer erwirbt etwa 21 bis 22 Rbl. pro Seele, muß aber davon Zins, Kopfsteuer etc. zahlen, so daß für ihn selbst sehr wenig, für die Melioration seiner Wirthschaft aber gar nichts nachbleibt. Es wäre interessant zu wissen, meint die Zeitung, wie sich die russiche bäuerliche Landwirthschaft unter gleich günstigen Verhältnisse entwickeln würde. Rigasche Zeitung 15. Mai 1876 Wolhynien. Aus Wolhynien wird der Russ. Welt über den traurigen Z u s t a n d d e r K a s e r- n e n in Saslawl berichtet. Infolge der ungenügenden Sanitätsverhältnisse treten Augenkrankheiten unter dem Militair auf und greifen immer weiter um sich. Hoffentlich wird das bevorstehende Lagerleben der Calamität, weingstens für einige Zeit, ein Ende machen. Rigasche Zeitung 26. November 1876 Rowno (Gouvernement Wolhynien). In der Gegend von Rowno wurde, wie dem Golos geschrieben wird, vor kurzem ein schöner a r c h ä o l o g i s c h e r F u n d gemacht. Es ist dies ein runder, reich mit in Eisen gravirten Figuren geschmückter römischer Schild. Die Mitte des Schildes ist in vier Felder geteilt, von denen ein jedes kleikne Zeichnungen enthält; drei Felder sind in Eisen gravirt, das vierte bildet eine Erhöhung von etwa fünf Zoll im Durchschnitt und enthält eine Darstellung eines römischen Triumphzuges, die nahezu hundert Menschen- und Thiergestalten sind mit einer staunenswerthen Präcision und Accuratesse ausgeführt. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 33
34 Rigasche Zeitung 30. November 1876 Aus Wolhynien wird der russischen Pet. Ztg. geschrieben, daß der Kaufmannsstand daselbst und in den anliegenden Gouvernements seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht sich numerisch verringert, und zwar macht sich dieses namentlich für die zweite Gilde bemerkbar. Hieraus kann man schließen, daß früher sich nicht wenige zur Zahlung der Gildesteuer verpflichteten, nur um der Rekrutirung zu entgehen, nicht um Handel zu treiben. Denn während nunmehr die Kaufleute der ersten Gilde constant in ihrer Anzahl geblieben sind, ist dies für die der zweiten Gilde seit 1874 von 1265 auf 969 gefallen. Libausche Zeitung 18. Januar 1877 Aus dem Kreise Rowno (Gouv. Wolhynien) berichtet der Kiewl. über folgenden Fall von Volksjustiz. Im Dorfe Krassnosselje verbrannten im verflossenen Herbste eine Dreschtenne, einige Schober Getreide und gegen 500 Schafe. Der dadurch entstandene Schaden belief sich auf etwa Rubel. Die Bauern des Dorfes, welche Verdacht hegten, daß hier eine Brandstiftung vorläge, ergriffen nach einiger Zeit den vermeintlichen Brandstifter, nöthigten ihm ein Geständnis seiner Missethat ab und benachrichtigten hierüber den Aeltesten und die kompetente Landpolizei. Es ward ein Protokoll aufgesetzt und der Brandstifter in die strafenden Arme der Gerechtigkeit überliefert. Nach Verlauf von drei Tagen erschien der so Gemaßregelte wieder in Krassnosselje und drohte, er werde den Dorfbewohnern zeigen, mit wem sie es zu thun hätten, und zählte er bereits die Häuser auf, deren Dach er mit dem rothen Hahn zieren werde. Die aufs höchste erschreckten Bauern versuchten den Gereizten durch Branntwein zu besänftigen. Als ihnen das aber nicht gelang, faßten sich die von ihm am schwersten bedrohten Dorfbewohnter kurz, zogen dem Brandstifter einen Sack über den Kopf, banden einen schweren Stein um seinen Leib und warfen ihn in den Fluß. Rigasche Zeitung 29. Januar 1877 (Auszug) Warschau. Ueber die im Jahre 1873 in Warschau begründete Manufacturanstalt für Frauen entnehmen wir der Lodzer Zeitung nachstehende Mitteilungen: Die Schülerinnen, welche die Curse von Handwerken beendigt, haben in Warschau 3 Werkstätten für Handschuharbeiten, 4 für Buchbinderei, 3 für künstliche Blumen und 8 für Damenkleider angelegt; Andere, die keine Werkstätte gegründet, beschäftigen sich zu Hause und ziehen materielle Vortheile aus der erworbenen Fähigkeit. In der Provinz entstanden auf Initiative der Anstalt Werkstätten für Handschuharbeiten in Radom, für künstliche Blumen in Lomza, Lublin und Biala, für Galanteriearbeiten in Lublin, Plozk, Czenstochau, Radom, Petrikau, Kalisch, ebenso auch andere weibliche Werkstätten für Damenschuhwerk und Weißnähen. Außerdem wurden von den Schülerinnen der Anstalt Werkstätten für Damenkleider in Smolensk, Minsk, Berdytschew, Biala- Serkiew, Kowel, Dubno, Bialystok sowie für Galanteriearbeiten in Schytomierz angelegt. Im Verlaufe der drei Jahre ( ) erhielten 474 Frauenspersonen in der Anstalt Unterricht, namentlich im Jahre , im Jahre , im Jahre , welche fast ausschließlich der mittleren Klasse angehörten. Unter den 474 Schülerinnen waren 393 Jungfrauen, 57 Frauen und 24 Witwen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 34
35 Von den 474 Schülerinnen endigten 353 den vollständigen Curs und erhielten das Zeugnis der Befähigung; von den übrigen 98 verließen 64 die Anstalt vor Ablegung des Examens, 34 dagegen frequentieren noch gegenwärtig den Unterricht. Nach den verschiedenen Zweigen der in der Anstalt vertretenen Handwerke beschäftigten sich 246 mit Zuschneiden von Kleidern, 54 mit Blumenarbeit, 41 mit Buchbinderei, 28 mit Handschuhmacherei, 9 mit Zuschneiden von Wäsche und 39 mit Buchführung. ( ) Zum Schlusse erwähnt der Jahresbericht (welchem die Lodzer Zeitung diese Notizen entnimmt), daß im Jahre 1874 die Anstalt an wohlhabende, durch Intelligenz und Zuvorkommenheit bekannte Damen sich mit dem Vorschlage gewandt hat, einen Verein zum Schutz und zur Unterstützung derjenigen Schülerinnen zu bilden, welche den ganzen Curs absolviert haben. Ungeachtet derselbe Aufruf im folgenden Jahre wiederholt wurde, fand er doch keinen Anklang, welche Erscheinung der Vorsteher der Anstalt damit erklärt, daß diese Damen allzusehr mit Protection von Wohltätigkeitsanstalten in Anspruch genommen sind, um Zeit und Mittel für diejenigen ihres Geschlechts zu finden, die sich durch eigene Arbeit eine Existenz schaffen möchten, um im Alter in jenen Wohltätigkeits-Anstalten nicht Unterstützung zu suchen. Nach dieser vergeblichen Bemühung hat die Anstalt sich endlich an die Regierung um Erlaubnis gewandt, aus eigener Initiative einen Verein zur Unterstützung der Frauenarbeit zu gründen. Libausche Zeitung 15. Februar 1877 Aus dem Gouvernement Wolhynien bringt eine Korrespondenz der Russ. Welt zu den in letzter Zeit in der Presse besprochenen Fällen von Lynchjustiz folgenden neuen Beitrag: Der Pferdediebstahl hat in jenen Gegenden nachgerade gefährlich weite Dimensionen angenommen. Förmlich organisirte Banden betreiben diese dem Wohlstande der ackerbauenden Bevölkerung so überaus schädliche Industrie. Die Unmöglichkeit, für jeden einzelnen Fall, wo faktisch ein Pferdediebstahl vorliegt, auch seinen Beweis vor Gericht zu erbringen und die daraus sich ergebende Thatsache, daß nicht wenige der wegen Pferdediebstahls gerichtlich Belangten bald wieder auf freien Fuß gesetzt werden müssen, hat die Verwegenheit der Pferdediebe in so hohem Grade gesteigert, daß Ueberfälle am hellen lichten Tage und Wegnahme der Pferde aus dem Gespann der die große Landstraße passirenden Leute keineswegs zu den Seltenheiten gehören. Namentlich werden die deutschen Kolonisten von dem sich steigernden Unwesen geschädigt, da die Race ihrer Pferde einen reichlicheren Preis dem Diebe sichert. Unweit des Fleckens Tscherjakow wohnte nun ein gewisser Herr Ossietzki, der allgemein als Spitzführer einer zahlreichen Bande von Pferdedieben galt, und schon wiederholt dieserhalb vor Gericht sich schon zu verantworten gehabt hatte, ohne deshalb auf längere Zeit in sicherem Gewahrsam sich befinden zu müssen. Zu diesem Herrn entsandten die Kolonisten einen Boten und ließen ihn zu sich bitten, um wie er selbst es in Aussicht gestellt hatte, mit ihm ein Uebereinkommen zu erzielen. Ossietzki kam dieser Aufforderung nach. Gleich nach seiner Ankunft in der Kolonie wurde er ergriffen, entsetzlich durchgeprügelt und die Angabe seiner Helfershelfer von ihm verlangt. Nachdem er solcher Inquisition eine geraume Zeit hindurch ein konsequentes Schweigen entgegengesetzt, löste der Schmerz ihm schließlich die Zunge und er gab an, daß ein nahe wohnhafter jüdischer Schenkwirth das Verzeichnis sämmtlicher Mitglieder der Bande aufbewahre. Nach diesem Geständnis wurde Ossietzki in einen Keller geworfen und hinter Schloß und Riegel wohl bewacht. Bald erhielt er zwei Leidensgenossen in diesem seinem Gefängnisse, den von ihm genannten Juden und dessen Weib. Einmal im Besitze des Namensverzeichnisses der Feinde ihres Reichthums an Pferden, ergriffen die Kolonisten von den genannten jeglichen, dessen sie nur Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 35
36 habhaft werden konnten und straften ihn auf s Härteste in der blinden Wuth ihres leidenschaftlich entfachten Zornes. Die örtlichen Autoritäten vermochten kaum der im Schwange gehenden Volksjustiz Maß und Ziel zu setzen. Ihre ganze Thätigkeit mußte sich darauf beschränken, Ossietzki aus seinem Kerker zu befreien und ihn ins Lazareth zu schaffen. Dort verstarb derselbe am dritten Tage in Folge der erlittenen Mißhandlungen. Rigasche Zeitung 14. März 1877 Wolhynien. Die Untersuchung betreffs der von deutschen Colonisten und russischen Bauern an einer Anzahl von Pferdedieben verübten Lynchjustiz ist nach der Russ. Welt beendigt. Die Ergebnisse der Untersuchung legen Zeugnis ab von der Verbitterung, die bei Deutschen und Russen gegen die zur Landplage gewordenen Pferdediebe herrschte. Man legte diese, gebunden und aller Kleider entblößt, direct auf den Schnee und sechs bis acht Mann begannen gleichzeitig sie mit Ruthen und dünnen Stöcken zu bearbeiten. Hatten jene ihre 40 Hiebe weg, so begann wieder das Verhör, diesem folgte neue Züchtigung, und so soll ein Pferdedieb an einem Tage 500 Hiebe erhalten haben; am folgenden Tage kam noch dazu ein kleines Nachspiel mmit 300 Hieben. Darauf banden sie ihm die Hände zusammen, steckten ihm einen Stock zwischen dieselben und hingen ihn so an einem Baum auf. Daß es den aufgebrachten Bauern jedoch nur um Bestrafung, nicht um Tödtung des Pferdiebes zu thun war, beweist, der Umstand, daß ihr mit 800 Hieben bedachtes und an einen Baum gehängtes Opfer bei der Untersuchung als Zeuge auftrat und die ganze Procedur erzählte. Freilich konnte nur eine eiserne Natur solche gräßliche Mißhandlung aushalten und die Grausamkeit und Rohheit der wolhynischen Regulatoren wird nicht im Geringsten durch den Umstand beschönigt, daß ihr Opfer den Geist nicht unter ihren Händen aufgab. Wie sehr die Bauern aber gereizt waren, mag daraus erhellen, daß nach officiellen Quellen in einem ganz kleinen Bezirk (im fünften Theile eines Kreises) innerhalb eines einzigen Jahres 500 Pferde und 300 Stiere gestohlen wurden. In einem Dorfe von 53 Bauernhöfen und 160 Einwohnern wurden in zwei Jahren für 2347 Rbl. Hausthiere gestohlen, und derartige Fälle waren eher die Regel als die Ausnahme. Diebstahl und Brandstiftung brachten die Bauern, wie sie vor Gericht aussagten, endlich zur Verzweiflung. Sie wandten sich an die Gerichte um Abhilfe, sie erhielten aber keine Genugtuung. Man forderte Sachbeweise, die vorgebrachten galten für ungenügend, und die Diebe wurden freigelassen. Setzte man einen Dieb in Arrest, so kam er gefährlicher für uns zurück; sollen die Diebe in Freiheit bleiben, so müssen wir, die Nichtdiebe, Mann für Mann auswandern, denn wir sind bald Alle so weit, daß wir nicht einmal die Steuern mehr aufbringen, noch unsere Familien erhalten können. Einer der Pferdediebe bildete eine ganze Bande von 150 Mann, ließ die Dörfer anzünden und, während an dem einen Ende des Dorfes von den Bauern gelöscht wurde, beraubte die Bande das andere Ende des Dorfes sämmtlicher Hausthiere. Rigasche Zeitung 4. August 1877 Shitomir. Die Zahl der Grundbesitzer nicht-polnischer Herkunft ist, wie man der Russ. Welt mittheilt, in den letzten zehn Jahren im Gouvernement Wolhynien mehr als um das Sechsfache, die Ausdehnung des in ihrem Besitz befindlichen Areals mehr als um das Dreifache gewachsen. Vor zehn Jahren gab es hier nur etwa 150 nichtpolnische Grundbesitzer mit etwas 276 Dessätinen Areal; jetzt sind deren gegen tausend vorhanden und besitzen dieselben fast eine Million Dessätinen Land. Rechnet man hierzu noch das Land der rechtgläubigen Bauern, Staats-, Apanagen-, Kirchen-, Stadtund Gemeindebesitzungen, so erreicht das Areal derselben die kollossale Ziffer von circa vier Millionen Dessätinen, d.h. über 60 pct. des Gesammtareals im Gouvernement. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 36
37 Rigasche Zeitung 24. August 1877 Warschau. Anläßlich der Eröffnung der Weichsel-Bahn, welche bekanntlich am 17. August sowohl für den Passagier- wie auch für den Waarenverkehr erfolgt ist, schreibt man dem Nord. Boten : Die Weichsel-Bahn, welche von Kowel im Gouvernement Wolhynien, wo sie sich an die Eisenbahn Kiew-Brest anschließt, über Cholm, Lublin Warschau, Nowogeorgiewsk und Mława an die preußische Grenze führt, kann leicht die Veranlassung werden, daß unsere aus den südwestlichen Provinzen ins Ausland gehenden Waaren künftig eine andere Richtung nehmen. Die Bahn bildet einen Theil des Weges zu dem deutschen Ostseehafen Danzig. ( ) Das russische Getreide kann jetzt seinen Weg von Kowel über Brest, Grajewo nach Königsberg, aber auch über Warschau nach Danzig nehmen. Rigasche Zeitung 21. Januar 1878 Wolhynien. (Wölfe). Aus dem sasslawlschen Kreise meldet man der Börsen-Ztg., daß in der letzten Zeit daselbst Wölfe in ungeheuren Rudeln aufgetreten sind und die Landbewohner in Schrecken setzen. Als einen Hauptgrund des massenhaften Erscheinens dieser Raubthiere führt der Correspondent des genannten Blattes den Umstand an, daß einer der größten Grundbesitzer im Kreise das Jagen und Schießen auf seinem Gebiet stets verboten hat. Rigasche Zeitung 9. Februar 1878 Shitomir. Lynchgericht. In einem Theil des shitomirschen Kreises im Gouvernement Wolhynien trieb seit längere Zeit eine Diebesbande ihr Wesen und setzte die ganze Umgegend in Angst und Schrecken. Dieselbe war wohl organisirt, betrieb den Pferdediebstahl in ausgedehntem Maße und hatte ihre besonderen Agenten, welche die gestohlenen Thiere sofort in die nächsten Kreise schafften und dort verkauften. Die Frechheit und Dreistigkeit der Gauner ging so weit, daß sie von den Bauern Abgaben erhoben, unter Drohung, im Fall diese ihnen nicht freiwillig Speise und Trank liefern würden, denselben die Häuser in Brand zu stecken. An der Spitze dieser Bande stand ein Bauer namens Podplitanka. Am 1. Januar d.j. nun fiel Podplitanka mit einem seiner Hauptgenossen den Bauern des Dorfes Kamenny-Brod in die Hände. Der langen Bedrückung durch die Bande eingedenk, beschlossen die Bauern, die gefangenen Räuber selbst nach ihrer Art zu bestrafen, riefen alle Einwohner der benachbarten Dörfer zusammen und fingen an gemeinschaftlich die Diebe zu mißhandeln, und setzten diese Mißhandlungen so lange fort, bis die beiden Uebeltäter sich nicht mehr vom Boden erheben konnten. Podplitanka erlag am anderen Tage den Folgen der Mißhandlungen und auch das Leben seines Gefährten schwebt in großer Gefahr. (Kiewl.) Rigasche Zeitung 31. Januar 1879 (V o n W ö l f e n z e r r i s s e n.) Dem Golos wird folgender grauenerregender Vorfall aus R o w n o, im Gouvernement Wolhynien, gemeldet: Ein Gutsbesitzer fuhr mit seiner Frau in einem mit vier Pferden bespannten Schlitten aus der Stadt nach Hause. Einige Werst von der Stadt entfernt zeigten sich mehrere Wölfe, welche jedoch den Schlitten nicht angriffen, sondern denselben nur verfolgten. Die Pferde wurden beim Anblick der Wölfe unruhig und fingen an sich zu bäumen. Um die Thiere mehr in seiner Gewalt zu haben, faßte der Kutscher die Zügel fester und wickelte sich noch die Enden derselben um den Leib. Da kam dem Gutsbesitzer der unglückselige Gedanke, aus Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 37
38 einem Doppelgewehr, das er bei sich führte, auf die Wölfe zu schießen. Kaum war aber der Schuß gefallen, als die Pferde im wahnsinnigen Lauf unaufhaltsam vorwärts stürmten. Alle Anstrengungen des Kutschers, die scheugewordenen Thiere aufzuhalten, waren vergebens. Sie stürmten querfeldein. Der Schlitten fiel um, der Gutsbesitzer und dessen Frau wurden herausgeschleudert, während der Kutscher von den wildgewordenen Thieren weitergeschleift wurde. In einem nahegelegenen Dorf wurden die Thiere endlich von Bauern aufgehalten. Der schwerverletzte Kutscher erzählte den Vorfall, und sofort begaben sich mehrere Bauern bewaffnet in den Wald, um den Gutsbesitzer und dessen Frau aufzusuchen. Als sie die Stelle erreichten, wo der Schlitten umgefallen war, fanden sie jedoch nur noch blutige Kleiderfetzen. In einiger Entfernung von der Straße lag das abgenagte Skelett der Frau des Gutsbesitzers mit übrigens unversehrtem Gesicht. Von dem Gutsbesitzer selbst fand man nur noch einzelne abgenagte Knochen. Rigasche Zeitung 25. Juni 1879 Wolhynien. Ein Fall von Lynchjustiz wird neuerdings wiederum dem Kiewljanin aus dem Dorfe G. gemeldet. Dort hatte ein schmuckes junges Weib, deren Eheherr seiner Militairpflicht genügte, mit einem anderen jungen Mann ein Liebeverhältnis angeknüpft. Ueber letzteres waren die Dorfbewohner um so mehr aufgeregt, als der Liebhaber der jungen Soldatenfrau mit der Tochter eines der Bauern bereits verlobt war. Nach dem Frühgottesdienst schaarte sich eine Menge Dorfbewohner neben der Kirche zusammen. Man hielt einen Rathschlag und beschloß, die Fehlgetretene nach altem Brauch zu züchtigen. Sie ward herbeigeführt. Anfänglich versetzte man ihr einige Hiebe ins Gesicht, dan warf man sie nieder und ein eifriger Strafvollstrecker setzte sich ihr auf das Haupt. Der Kirchenälteste nahm den Strick von der Kirchenglocke ab, feuchtete denselben mit Wasser an und reichte ihn den Züchtigungslustigen. Das junge Weib wurde schonungslos durchgeprügelt. Als sie nach der Exekution, von ihren Verwandten unterstützt, mühsam auf ihren eigenen Füßen in ihre Hütte heimgekehrt war, legte sie sich nieder; sie ist vor Schreck und Mißhandlung heftig erkrankt. (D. P. Z.) Goldingenscher Anzeiger 11. August 1879 Sasslawl. [Gouv. Wolhynin] Eine empörende Gewaltthat wird dem "Kiewl." aus Sasslawl gemeldet. In diesem Städtchen steht eine Artillerie-Abtheilung, deren Kommandeur ein Oberst E. ist, der den Kursus in einer Militär-Akademie absolviert hat. Bei diesem Obersten erschien nun eines Tages ein Bauer aus der Umgegend der Stadt und erzählte, daß ihm eine Kuh gestohlen sei, und daß der Verdacht, diesen Diebstahl verübt zu haben, auf einen Soldaten der Artillerie-Abteilung falle. Der Oberst schickte den Bauern, ohne eine Untersuchung anzustellen, nach Hause, Lließ ihn aber nach etwa drei Tagen unter dem Vorwande in die Kaserne kommen, man habe bei einem Soldaten das Fell einer Kuh gefunden; der Bauer solle sich überzeugen, ob es die Haut des ihm gestohlenen Thieres sei. Der Bauer erschien in der Kaserne, wurde dort sofort von den Soldaten gefaßt, zu Boden geworfen und erhielt auf Befehl des Obersten fünfzig Stockschläge, weil er, wie der Kommandeur sich ausdrückte, die Ehre der ihm unterstellten Mannschaft angetastet habe. Nach der Exekution soll der Oberst E. geäußert haben, daß er Jeden in ähnlicher Weise strafen werde, der durch eine Klage der Ehre seiner Soldaten zu nahe treten würde. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 38
39 Livländische Gouvernementszeitung 16. Januar 1880 (Auszug) Auf Grundlage der bestehenden Vorschriften dürfen in den der Lehrobrigkeit des Ressorts des Ministeriums der Volksaufklärung unterstellten Volks-Elementarschulen nur solche Bücher und Lehrmittel gebraucht werden, welche zu diesem Zwecke von dem Ministerium der Volksaufklärung oder dem geistlichen Ressort der rechtgläubigen Confession, je nach der Hingehörigkeit, gemäß den Verzeichnissen oder Katalogen, welche in dem Journal dieses Ministeriums abgedruckt oder den Schulen gesondert übersandt werden, abprobirt worden sind. In den genannten Schulen werden jedoch zuweilen Bücher und und Broschüren angetroffen, welche nicht in den gedachten Katalogen oder in dem Journal des Ministeriums enthalten sind, und unter ihnen solche, die ihrem verbrecherischen Inhalte nach dem Verbot unterliegen. In Folge dessen und um die Volks-Elementarschulen vor einer Ueberflutung mit Büchern schädlichen Inhalts und überhaupt mit solchen, deren Gebrauch in diesen Schulen nicht gestattet ist, zu schützen, hat das Ministerium der Volksaufklärung, im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern und dem Hauptchef der 3. Abtheilung der Eigenen Canzlei Seiner Kaiserlichen Majestät für nothwendig erachtet, in Bezug auf die Versorgung der gedachten Schulen mit Büchern folgende Regeln zu verordnen: 1. Bücher und Lehrmittel, welche für die dem Ministerium der Volksaufklärung unterstehenden Schulen von den Vorstehern derselben, darunter auch von den Landesinstitutionen, angeschafft, wie auch von irgend Jemand für die Schulen dargebracht werden, dürfen in dieselben nur durch Vermittlung der Kreisschulräthe oder der Volksschulinspectore gelangen, je nachdem, ob sie für die Schulen, die den Räthen oder unmittelbar den Inspectroen unterstellt sind, bestimmt worden sind; 2. demgemäß sind die Schulvorsteher oder die von ihnen bevollmächtigten Personen, sowie die Ehrencuratore der Schulen, die Inspectore, Curatore und Curatricen derselben, wie auch die Wohlthäter der Schulen und die verschiedenen Gesellschaften zur Verbreitung von Bildung und nützlicher Bücher u.s.w. verpflichtet, Bücher und Lehrmittel, die sie für die Schulen angeschafft haben oder darbringen, dem Kreisschulrathe oder dem örtlichen Volksschulinspector, je nach Hingehörigkeit, unter Beifügung eines Verzeichnisses derselben, in welchem der volle Titel der Bücher enthalten ist, vorzustellen. In diesem Verzeichnisse oder dem Begleitschreiben muß angegeben sein, von wem namentlich die Bücher vorgestellt werden, fall der Wohlthäter der Schule, welcher die Bücher darbringt, nicht etwa ungenannt zu bleiben wünscht, was übrigens in dem Begleitschreiben oder dem Verzeichnisse der Bücher angeführt sein muß, 3. die genannten Räthe oder Inspectore müssen, falls sie kein Hinderniß für die Zulassung der gedachten Bücher zum Schulgebrauch finden, dieselben von sich aus den betreffenden Schulen, unter der Adresse der Lehrer derselben, bei einem besonderen Verzeichnisse übersenden, welches durch die Unterschrift des Volksschulinspectors oder des im Schulrath befindlichen Gliedes des Ministeriums der Volksaufklärung beglaubigt ist und den vollen Titel eines jeden übersandten Buches enthalten muß; 4. falls sich unter den vorgestellten Büchern solche befinden, welche nicht in der festgesetzten Ordnung für die Volksschulen abprobirt sind, obgleich sie mit Genehmigung der Censur oder auch ohne Censur gedruckt worden sind, oder welche direct verboten sind, so müssen die Schulräthe oder die Volksschulinspectore die ersteren, d.h. die mit Genehmigung der Censur gedruckten, aber für die Volksschulen nicht abprobirten Bücher den örtlichen Volksschuldirectoren oder den Gouvernements-Schulräthen, behufs vorstellung an die Coratore der Lehrbezirke, je nach der Hingehörigkeit, zu ihrer Beprüffung, die letzteren aber, d.h. die von der Censur verbotenen Bücher den örtlichen Gouverneuren, behufs erforderlichen Anordnung, um sie der Verbreitung unter dem Publicum zu entziehen, übersenden; Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 39
40 5. demnach wird den Lehrern der Volksschulen unter strenger Verantwortung für eine etwaige Verletzung verboten, Bücher und Lehrmittel, welche mit Umgehung der im Pkt. 3 dieser Regeln angegebenen Ordnung an sie gelangen, anzunehmen oder zum Schulgebrauch zuzulassen; 6. an denjenigen Orten, wo nach der Verordnung über die Volks-Elementarschulen vom 25. Mai 1874 keine Kreisschulräthe vorhanden sind, müssen die durch die gegenwärthigen Regeln diesen Räthen oder Volksschulinspectoren auferlegten Pflichten in den Gouvernements: Kiew, Podolien, Wolhynien, Archangel, Orenburg, Astrachan und der Provinz Turgaisk, in der inneren Kirgisenhorde und in dem Gebiet Turkestan von den örtlichen Inspectoren der Volksschujlen, in Sibirien von den Regierungsinspectoren der Kreisschulen, und wo diese nicht vorhanden sind, von denjenigen Personen, denen die nähere Aufsicht über die Schulen anvertraut worden ist, in den Gouvernements des Warschauer Bezirks von den Chefs der Lehrdirectionen und dem Inspector der Schulen der Stadt Warschau, und endlich in den Ostseegouvernements von den Gouvernements-Schuldirectoren oder den Regierungsinspectoren, je nach Hingehörigkeit, ausgeübt werden. Rigasche Zeitung 24. Juli 1880 Wolhynien. Dem Kurier Codzienny schreibt man aus K o w e l, im Wolhynischen Gouvernement, daß in diesen Tagen die C h o l e r a daselbst aufgetreten sei und in allerkürzester Zeit bereits mehrere Menschenleben gefordert habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die entsetzliche Krankheit aus dem Auslande dorthin verschleppt worden, da ausländischen Blättern zufolge dieselbe bereits seit mehreren Wochen in Pest und einigen anderen Orten sich gezeigt hat. Libausche Zeitung 6. August 1880 Wolhynien. Der südwestliche Theil des Reiches wird in nicht allzu langer Zeit um ein neues g r a n- d i o s e s U n t e r n e h m e n, dem der beste Erfolg zu wünschen ist, reicher werden. Die bekannten Warschauer Fabrikanten und Kapitalisten Lillpop und Rau haben nämllich, wie wir der Wolwa entnehmen, das im Gouvernement Wolhynien belegene, der Fürstin Abamelik gehörige Gut Stepanowka, welches an Bau- und Brennholz allein auf einer Fläche von , wenn nicht noch mehr Dessjatinen einen geradezu unerschöpflichen Reichthum besitzt, käuflich erworben (der Kaufschilling soll - nebenbei bemerkt - gegen Rbl. betragen haben und auf einmal und in baar ausbezahlt worden sein) und gegen die Käufer mit der Absicht, um auf diesem großen Besitztum eine auf möglichst traditionelle Grundsätze basirte, regelrechte Waldwirthschaft einrichten und Holzindustrie in großartigem Maßstabe betreiben zu lassen. Sämmtliche Arbeiten sollen von Maschinen verrichtet werden. Zur Exploitation dieses Unternehmens werden ungefähr 6000 ständige Arbeiter, deren Zahl im Sommer bis auf anwachsen dürfte, nöthig sein. Das riesige Unternehmen wird aller Voraussicht nach nicht wenig Leben in den westlichen Strich des südwestlichen Reichstheils bringen, wo bekanntlich die Industrie bis zur Stunde sich auf einer sehr niedrigen Stufe der Entwickelung befindet, und abgesehen davon, der dortigen Bevölkerung die gute Gelegenheit zu dauerndem und reichlichem Verdienst verschaffen. Libausche Zeitung 18. Mai 1881 Berdytschew. Aus Berdytschew läßt sich das "N. W. Tgbl." unter dem 22. (10.) Mai telegraphieren: "Es herrscht fortwährend Panik; trotzdem hier auf jüdische Einwohner nur 5000 Christen entfallen, befürchten die Juden, da zwei große Nachbardörfer hauptsächlich von Christen bewohnt Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 40
41 sind, einen Ueberfall und haben deshalb eine 3000 Mann starke Wache gebildet. Die Stadt ist während der ganzen Nacht beleuchtet. Berittene Juden durchreiten die Stadt. Alles ist bewaffnet. Andererseits befürchten die Christen einen Ueberfall seitens der Juden, so daß der Gouverneur die hervorragendsten Juden berief, welche eine Erklärung unterfertigten, daß sie gegen die Christen nicht auftreten werden, wenn seitens derselben kein Grund dazu gegeben werde." Libausche Zeitung 23. Juni 1881 Kiew. 19. Juni.. In der gestrigen Nacht ist, wie dem Golos telegraphiert wird, das Städchen R o w n o (Gouv. Wolhynien) n i e d e r g e b r a n n t Familien sind obdachlos. Die Kathedrale, die Behörden etc. sind zerstört. Rigasche Zeitung 17. August 1881 Wladimir-Wolynsk. Unter allen in diesem Sommer nicht selten vorgekommenen Fällen von Hagelschlag ist nach der Now. Wr. besonders bemerkenswerth e i n g e r a d e z u p h ä n o- m e n a l e r H a g e l, der am 21. Juli bei heftigem Sturm und einem sich entladenden Gewitter über den Dörfern Ostrowje und Pulewez in Form von faustgroßen Eisstücken sich entlud. In beiden Dörfern wurden durch dies Unwetter Sommer- und Wintergetreide und Gemüse im Werth von über Rbl. vernichtet, wobei außerdem der Sturm im Dorfe Ostrowje 14 Bauernhäuser und das Getreidemagazin zerstörte. An demselben Tage fiel in drei anderern Dörfern ebenfalls Hagel in der Größe von Taubeneiern und richtete auf den Feldern und in den Gemüsegärten einen Schaden von mehr als Rbl. an. Libausche Zeitung 19. Oktober 1881 Rowno. (Gouv. Wolhynien) ( L y n c h j u s t i z ) In nächter Zeit gelangt in der Stadt Rowno ein P r o c e ß zum Abschluß, der auf die entsetzliche Tragödie zurückzuführen ist, welche sich vor zwei Jahren im Dorft Ssinewo des Rowenschen Kreises abspielte. Sämmtliche Bauern des Dorfes hatten auf einstimmigen Beschluß zwei Pferdediebe, Udodik und Bjelyj, die sie bei einer Brandstiftung ergriffen, an Ort und Stelle dem Tode überliefert. Nirgends wird der Pferdediebstahl so arg getrieben, wie in Wolhynien. Was macht der Bauer, wenn ihm sein letztes Pferd gestohlen wird? Er wendet sich nicht an die Wolost oder den Urjadnik, nein, er eilt zum Pferdedieb, verbeugt sich tief vor ihm, ja fleht ihn an für eine bestimmte Summe das gestohlene Pferd zurückzuschaffen. Wehe dem Bestohlenen, wenn er einen anderen, etwa den gesetzlichen Weg wählt; der Rache des Pferdediebees, der ihm seine Hütte anzündet, entgeht er nicht. Doch auch die Geduld der russischen Bauern hat ihre Grenzen, wie das Lynchgericht in Ssinewo beweist. Ein ähnlicher Fall ist übrigens, wie der Porjadok mittheilt, vor einigen Monaten im Shitomirschen Kreis vorgekommen, wo ebenfalls zwei Pferdediebe (Proceß Ljubtschikow) getödtet wurden. Angeschuldigt waren zehn Bauern, welche aber sämmtlich von den Geschworenen freigesprochen wurden. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 41
42 Rigasche Industrie-Zeitung 7. Dezember 1881 Der "Kiewljanin" theilt mit, dass der Gutsbesitzer des Dubnischen Kreises (Gouv. Wolhynien" Flügeladjutant Graf Berg, sich an die Regierung gewandt habe mit der Bitte, ihm zu erlauben, auf e i g e n e Mittel eine Eisenbahn von seinem Gute Studljanitzi zur Radziwilowschen Zweigbahn der Südwestbahnen, zwischen den Stationen Dubno und Rowno zu bauen. Ein Gutsbesitzer aus demselben Gouvernement, Kreis Rowno, Herr R a u, macht augenblicklich auf seine eigenen Kosten Untersuchungen zu einer Bahn von seinem Gut, beim Flecken Stepan im Kreise Rowno, nach der Eisenbahnstation Klewan in demselben Kreise (ehem. Kiew-Brester-Bahn). Libausche Zeitung 8. Dezember 1881 Wolhynien. D i e P f e r d e d i e b e, der beständige Schrecken der örtlichen Bevölkerung, betreiben ihr "Gewerbe" unverschämter denn je zuvor. Ueber die Art und Weise ihres Treibens erzählt eine Korrespondenz der "Zeitg. Nachr." aus Nowograd-Wolynsk Folgendes: Der Geistliche eines kleinen Oertchens, welcher drei gute Pferde besaß, vernahm Nachts auf dem Hofe Geräusche; er trat an's Fenster und gewahrte, daß ein Dieb die Pferde zum Thore hinausführte, während ein zweiter auch noch das Fuhrwerk nachzog. Der Geistliche eilte auf den Hof hinaus und erhob Lärm, was den zweiten Dieb bewog, das Fuhrwerk stehen zu lassen und sich mit dem Gefährten auf den gestohlenen Pferden davon zu machen. Als die Anstalten zur Verfolgung der Diebe getroffen waren, hatte man dieselben bereits aus den Augen verloren. Man wandte sich nun an den Nachbarn, einen Juden, dessen Spezialität es ist, die Spuren der gestohlenen Pferde aufzusuchen. Dieser miethete bald Postpferde und fuhr in der Richtung davon, welche die Diebe eingeschlagen hatten. Nach einiger Zeit kam er mit der Meldung zurück, daß man die Pferde gegen eine Zahlung von hundert Rubel wiedererstatten wolle; wenn aber die Zahlung nicht bald erfolge, würden die Pferde über die österreichische Grenze getrieben werden. Es wäre erfolglos sich in einem solchen Falle an die Obrigkeit zu wenden, weil dadurch die Bewerkstelligung des Rückkaufes nur aufgehalten, und dem Diebe die Möglichkeit, seinen Raub in Sicherheit zu bringen, doch nicht genommen werden würde. Deshalb zieht der Bestohlene, wie es auch in diesem Falle geschah, es vor, dem Juden das verlangte Geld einzuhändigen, und kann dann sicher sein, daß er seine Pferde am Rande der Chaussee grasend vorfinden wird. So geschah es auch diesmal; der Jude erhielt darauf seine Kommissionsgebühren und beide Parteien waren zufrieden, daß es ihnen nicht schlimmer ergangen war. Der vermittelnde Jude hatte bei den Verhandlungen über den Rückkauf der Pferde die Gegenwart eines Zeugen "geschäftsmäßig" zu hintertreiben gewußt, um bei der etwaigen Anstrengung eines Prozesses von Seiten des Bestohlenen die beste Aussicht auf Freisprechung zu haben. Libausche Zeitung 18. Dezember 1882 Die M a i g e s e t z e d e s G r a f e n I g n a t j e w, schreibt der Sarja, gelangen allmählig zur Ausführung. So wurde kürzlich im Flecken Markowitschi, unweit der Stadt Dubno im Wolhynischen Gouvernement, vor dem Beginn eines Torges, auf welchem Kronsländereien verarrendiert werden sollten, öffentlich bekannt gemacht, daß Juden und Polen von der Theilnahme am Torge ausgeschlossen seien. Die Folge hiervon war, daß im Ganzen nur vier Personen, darunter drei Ausländer und ein Wolostschreiber, offenbar eine untergeschobene Person, am Tage des Torges erschienen und der größte Theil der ausgebotenen Ländereien unverarrrendirt blieb. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 42
43 Rigasche Zeitung 4. Januar 1883 Petersburg, 3. Januar, Abends. Ueber den C i r c u s b r a n d i n B e r d i t s c h e w werden folgende Details gemeldet: Das Feuer brach um 10 Uhr Abends des 1. Januar gegen Schluß der vorstellung aus, und zwar durch Abbrennen eines Feuerwerks, wodurch zuerst der Vorhang in Brand geriet, hierauf die Wände und die Decke. Die Musikanten gehörten zu den ersten Opfern. Das Publicum, circa 800 Personen zählend, stürzte der Ausgangsthür zu, welche sich jedoch nach innen zu öffnete und sich durch das Dagegendrängen der Menschenmassen schloß. Die beiden anderen Seitenthüren erwiesen sich als vernagelt. Als die Feuerwehr eine halbe Stunde nach dem Entstehen des Feuers eintraf, war ein Löschen nicht mehr möglich, auch war das Wasser in den Fässern gefroren. Die zahl der Opfer ist nicht bestimmt; wie es heißt, sind über 150 Menschen umgekommen. Als die Hauptthüre geöffnet wurde, bot sich den Augenzeugen ein schreckliches Bild dar: ein Haufe brennender Menschen. Viele sprangen aus den Fenstern heraus. Der Circus, die Pferde und Garderoben sind vollständig verbrannt. (Rig. T.-A.) Rigasche Zeitung 7. Januar 1883 Berditschew. Nähere Nachrichten über das grauenvolle Unglück im Circus zu Berditschew liegen uns in den russischen Blättern zur Zeit noch nicht vor. Wir reproduciren nachstehend den Inhalt eines dem Golos zugegangenen, auszugsweise in unserer Zeitung bereits vorgestern mitgetheilten Telegramms. Dassselbe ist vom 4. Januar datirt und lautet: Das am 1. Januar niedergebrannte Circusgebäude war mit Genehmigung des Polizeimeisters erbaut worden und zwar aus Holz und mit Strohfüllung zwischen den Bretterwandungen. Officiell wird die Zahl der Verunglückten, unter denen sich viele Schüler und Angereiste befinden, auf 268 angegeben. Die Leichen sind dermaßen entstellt, daß die Agnoscirung derselben sehr schwer fällt. Nach der Katastrophe machten sich Diebe in aller Seelenruhe an die Beraubung der Leichen. Unter dem Opfern des Brandes sollen sich auch ein örtlicher Friedensrichter mit seiner Familie, ein Polizeipristaw und dessen Gehilfe befinden. Rigasche Zeitung 7. Januar 1883 Kiew, 5. Januar. Die Zeitung Sarä hat eine Sammlung für die Familien der beim Circusbrande in Berditschew Verunglückten eröffnet. (Rig. T.-A.) Rigasche Zeitung 8. Januar 1883 St. Petersburg, 8. Januar. Der Reg. Anz. meldet: Der Kaiser spendete 4000 Rbl. für die durch den Circusbrand in Berditschew geschädigten und die Familien der Umgekommenen. (Rig. T.-A.) Rigasche Zeitung 8. Januar 1883 Die Katastrophe im Circus zu Berditschew. Üeber die Ursachen des schrecklichen Brandes im Circus in Berditschew waltet zur Zeit noch viel Ungewißheit. Die wenigen Nachrichten, welche bisher über die Katastrophe in die Oeffentlichkeit gedrungen, sind zum Theil einander widersprechend. Uns liegen heute folgende Nachrichten über dne entsetzlichen Unglücksfall vor. Die Odessaer Ztg. entnimmt einem Privatbriefe: Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 43
44 Das Unglück im Berditschewer Circus übertrifft bei Weitem die Wiener Ringtheater-Katastrophe. Der Circus war anläßlich des Neujahrsfestes und des Sabbats von fast 2000 Juden und Russen überfüllt. Während des 2. Actes fiel eine brennende Lamge gerade vor der Eingangsthür, woselbst in einem Winkel ein Faß Kerosin als Vorrath zur Circusbeleuchtung stand, hinunter und steckte das Faß in Brand, welcher sich in einen Nu über den ganzen Circus verbreitete und den Ausgang unmöglich machte. Die Bestürzung des Publicums war eine unbeschreibliche. Alles eilte wie wahnsinnig im Circus, welcher von tausendfachen Hilferufen wiederhallte, herum, aber es war keine Rettung mehr möglich. Gegen 500 verkohlte Leichen wurden später aus den Trümmern hervorgezogen. Es giebt fast keine einzige Familie, die nicht irgend ein Mitglied verloren. Der Jammer ist entsetzlich. Während die russischen Blätter, auch die mit der heutigen Mittagspost eingetroffenene, nur vereinzelte telegraphische Notizen über den Circusbrand enthalten, sind einigen ausländischen Blättern bereits ausführliche Schilderungen zugegangen; freilich müssen wir vorläufig dahingestellt lassen, inwieweit dieselben dem wahren Sachverhalte entsprechen. So wird dem Wiener Extr. aus Kiew vom 1. Januar, Abends, gemeldet: [hier wird die Meldung wie nachstehend in der Libauschen Zeitung vom zitiert] Am Sonnabend erfuhr die Katastrophe noch ein blutiges Nachspiel. Der Einwohner von Berditschew, Henschel Moses Beresowak, dem die Frau und drei Kinder bei der Circus-Katastrophe verbrannten, versetzte dem Aeltesten der Kaufmannsgilde, Korosilow, auf offener Straße mehrere Misserstiche und verletzte sich hierauf mit einem Rasirmesser am Halse schwer. Korosilow soll nämlich, wie Beresowak behauptet, die Frau, an welche sich die Kinder geklammert hatten, in die Flammen gestoßen haben, um sich zu retten. In Folge der gräßlichen Katastrophe sind vier Frauen, welche ihre Männer verloren haben, in Tobsucht verfallen. Die Nowoje Wr. veröffentlicht ein erstes vorläufiges Namensverzeichnis von Personen, die bei der grauenvollen Katastrophe ihr Ende gefunden haben. Da werden Männer, Frauen und Kinder, einzelne Personen und ganze Familien aufgeführt, denen der Tod in schreckenvollster Weise bereitet worden ist. Die Zahl der verunglückten Ebräer, dieselben werden in der Now. Wr. von den rechtgläubig-orthodoxen Opfern des Brandes gesondert genannt, soll 148 betragen, von denen 31 zur Zeit noch nicht erkannt sind. Libausche Zeitung 10. Januar 1883 Berditschew. 8. Januar. Dem W. Extrbl. geht über die hiesige entsetzliche Circus-Katastrophe aus Kiew folgende Schilderung zu: Seit etwa zwei Wochen befindet sich in Berditschew der Circus Costali und das aus Holz aufgerichtete Gebäude, welches im Zuschauerraum über 600 Menschen faßt, steht auf einer Wiese, etwa eine Viertelstunde außerhalb der Stadt. Vorgestern Abend fand das Benefiz der sehr beliebten Kunstreiterin Liosset (in anderen Berichten heißt sie Loisset) statt und war der Circus dicht gefüllt. In Berditschew wohnen mehr als Juden und daher kam es, daß unter den 600 Besuchern des Circus etwa 400 Juden waren. Nach der 5. Nummer während einige Clowns ihr Possenspiel trieben, stürzte ein Clown im Kostüm in die Manege und schrie Feuer!. Im ersten Momente glaubte die Menge, daß dieser Eintritt des Clowns zur Rolle gehöre und lachte. Aber kaum war eine Minute verstrichen, als schon drei Stallmeister hereinstürzten und riefen: Es brennt! Es brennt! Gellende Schreckensrufe erfüllten den Raum. Von den Gallerien sprangen Leute herab und eiginge blieben mit den Kaftans an Nägeln hängen, so daß sie frei in der Luft schwebten, Väter und Mütter bemächtigten sich ihrer Kinder und warfen sie in Verzweiflung über die Brüstungen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 44
45 auf die mit weichem Sand bestreute Reitbahn, wo eben wegen der Clowns-Productionen ein dicker Teppich ausgebreitet war. Derselbe war bald von Kindern bedeckt, nun aber sprangen vom Parterre und von den Amphitheater-Sitzen die älteren Leute hinab, so daß bald ein Knäuel von Menschen sich bildete. Es ist selbstverständlich, daß die Kinder zumeist erdrückt wurden und erstickten, bevor die Flamme das Circusgebäude selbst ergriff. Die Verwirrung war auf s Höchste gestiegen; aber es sollte noch ärger kommen. Etwa 10 Pferde, die sich vor den Flammen scheuten, rasten in die Manege und galoppirten, auf die Menschenleiber tretend und ihre Hufe auf dieselben setzend, wüthend herum. Im Verlauf von kaum zwanzig Minuten stand der Cirkus vollständig in Flammen. Für Diejenigen, welche in demselben sich befanden, gab es keine Rettung mehr! Sie verbranntten oder erstickten. Und es waren mehr als die Hälfte der Anwesenden, welche umkamen. Beim Ausgange sollen, nach den Berichten von Augenzeugen, Kämpfe auf Tod und Leben vorgekommen sein; der Stärkere war gerettet, er gewann das Freie und die Schwächeren wurden in die Flammen zurückgeworfen, wo sie eines schrecklichen Todes starben. Zu allem Unglück kam noch, daß die Spritze der Feuerwehr aus Berditschew, als sie über das Eis fuhr, einbrach und erst mit Hilfe von 40 Männern freigemacht werden konnte; auch war in Folge des Eises großer Wassermangel und mußten zwei Fuß tiefe Löcher in die Berdivicza geschlagen werden, um auf Wasser zu kommen. Unter den Verbrannten dürften sich nach oberflächlichen Schätzungen 60 Kinder, 120 Frauen und etwa 90 Männer befinden, darunter auch sehr viele Fremde, da gerade der große Häute- und Ledermarkt stattfindet. Unter den Umgekommenen befindet sich auch der zweite Vorstand der Börse, Nachmias und der Oberst des Polizeikorps, welch Letzterer einen steifen Fuß hatte und sich nicht retten konnte. In den Straßen von Berditschew rennen die Leute wie wahnsinnig herum, raufe das Haar und zerreißen die Kleider und jammern und wehklagen. Die Ursache der Katastrophe ist bereits ermittelt. In dem angebauten hölzernen Stalle hatte ein Aufwärter Cigaretten geraucht und das Stroh, auf welchem er lag, entzündete sich; er und sein Genosse wollten den Brand im Keime ersticken, und während der Eine mit den Füßen auf das Stroh trat, lief der andere mit einem Gefäß nach Wasser. Beim Oeffnen der Thür entstand jedoch ein so heftiger Luftzug, daß die Flamme noch mehr angefacht wurde und eine Feuergarbe aufloderte und Alles in Brand steckte. Die bieden Brandstifter befinden sich gleichfalls unter den Opfern der Katastrophe. Der Circusdirektor und seine Mitglieder sind völlig ruiniert; zwei Clowns, Allowis und Werton, angeblich Engländer, sind verbrannt, von 31 Pferden konnten nur 4 gerettet werden; 12 abgerichtete Hunde, welche sich in einem Zwinger befanden, sind verbrannt. Wie es heißt, soll auch die Kunstreiterin Liosset unter den Vermißten sich befinden. Rigasche Zeitung 13. Januar 1883 Zur Katastrophe in Berditschew. Ueber die furchtbare Katastrophe liegen (in der Sarä ) noch folgende Mittheilungen vor: Dem Typographen Warschawer, der mit seinem kleinen Sohne im Circus war, gelang es, sich, mit dem Knaben zu retten; er hatte letzteren auf seine Schulter genommen und sich mit seinen kräftigen Fäusten den Weg zum Ausgange gebahnt. Der Capitain Ssiwerski, der mit seiner Frau, seiner zwölfjährigen Tochter und deren Gourvernante im Circus war, hatte Frau und Tochter ergriffen und war mit ihnen zum Ausgang geeilt, aber unterwegs wurde ihm das Kind von der, sich an die Thür drängenden Menge fortgerissen und es gelang ihm selbst nur sich und seine Frau zu retten, während das Kind und die Gouvernante umkamen. Ein junger Mann, der mit seiner Braut im Circus war, hatte diese mit sich fort bis an die Thür gezogen, aber dort wurde sie von ihm getrennt und fand ihren Tod in den Flammen, während er denselben glücklich entrann. Einem Familienvater, der mit seinen zwei Kindern im Circus war, war es gelungen, eines derselben zu retten und er eilte, um auch Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 45
46 das andere zu retten, in die Flammen zurück, aus denen er indessen nicht mehr zurückkehrte. Viele von den Geretteten erzählten, daß es ihnen, ganz abgesehen von dem Gedränge, schwer geworden sei, sich zu retten, da sie von den hinter ihnen Befindlichen gepackt und festgehalten worden wären, und daß es ihnen unsagbare Mühe gekostet hätte, sich von den sie umklammernden Händen frei zu machen und in s Freie zu gelangen. Die Schwachen klammerten sich an die Starken, in der Hoffnung, durch ihre Hilfe dem furchtbaren Elemente zu entgehen. Dank der Umsicht des Rabbiners, Hern Pesfis, waren schon bis zum folgenden Abend alle ebräischen Leichen auf den Kirchhof gebracht und ein Verzeichnis über Namen, Alter u.s.w. derselben zusammengestellt worden. Diesem Verzeichnisse nach beträgt die Zahlder umgekommenen Ebräer 110; außerdem wurden 20 von 60 unekannten Leichen als ebräische erkannt und auf dem ebräischen Kirchhof bestattet; die übrigen unbekannten Leichen werden in einem gemeinschaftlichen Grabe nach orthodoxem Ritus begraben werden. Der größte Prozentsatz der Verunglückten fällt auf Personen im Alter von Jahren und man muß annehmen, daß dies theilweise daher so ist, weil die Aelteren als die Stärkeren sich leichter haben retten können, theilweise auch daher, daß der Circus hauptsächlich von der Jugend besucht war. Ein entsetzliches, herzzerreißendes Bild bot am Tage nach der Katastrophe die Brandstätte dar. Auf der Stelle, an der noch am Tage vorher der Circus gestanden hatte, ragten jetzt einzelne Pfosten hervor, und auf der Erde, zwischen Asche, halbverkohlten Holzüberresten, Lumpen, lagen Haufen Menschen- und Thierknochen, abgerissene Hände, Füße und andere Körpertheile. Auf dem Heumarkte, neben dem Circus, lagen die Leichen. Einige, welche vom Feuer mehr verschont geblieben waren, hatten noch ihr menschliches Aussehn bewahrt, andere, die mehr verkohlt waren, waren ganz unkenntlich und erinnerten nur in ihren äußeren Umrissen noch an menschliche Leichen. Unter dieser Leichenmasse huschten lebende Geschöpfe mit von Verzweiflung und unsagbarem grenzenlosen Schmerze entstellten Gesichtern umher. Sie suchten die Ueberreste ihrer Anverwandten; überall hörte man jammern und weinen. Die Stimmung, welche jetzt in der Stadt herrscht, läßt sich nicht beschreiben. Fast in jedem Hause beklagt man einen Todten. Hier starb ein Familienmitglied, dort ein naher Anverwandter oder Jemand aus der Dienerschaft und wenn in irgend einem Hause kein Todter ist, so findet man dort sicher einen Verwundeten, der eine mehr oder weniger schwere Brandwunde davongetragen hat. Die Aerzte fahren den ganzen Tag nur von einem Kranken zum anderen, die Zahl der Verwundeten läßt sich jetzt noch nicht bestimmt angegeben. In den Apotheken können sich die Leute, der vielen Arbeit wegen, kaum mehr auf den Füßen halten, und im Telegraphenbüreau arbeiten eine Menge Apparate und es ist keine Möglichkeit, die große Menge Arbeit zu überwältigen, welche die immer noch zuströmende Menschenmenge bringt, die Vorzimmer und Corridore füllt und auf Beförderung ihrer Telegramme wartet. Von 5 Uhr Morgens des 4. Januar währen ununterbrochen Beerdigungen der bei dem Circusbrande Umgekommenen.Sie werden partienweise zu zehn bis zwölf Menschen, je nachdem die Gräber fertig gestellt werden können, begraben. Die Stadt ist in 24 Stadttheile geteilt, von denen jeder einem Mitglied der Bestattungs-Commission unterstellt ist, deren Präses der Adelsmarschall ist. Die am Ort befindlichen Arbeiter reichen nicht aus und daher hat die Commission Arbeiter aus benachbarten Dörfern kommen lassen. Die Särge sind um Bedeutendes im Preise gestiegen; ein ganz einfacher Sarg, der sonst 7 bis 10 Rbl. kostete, wird jetzt für 30 bis 40 Rbl. verkauft. Einigermaßen anständige werden mit 100 bis 150 Rbl. bezahlt. Zwei bis drei Leichen werden in einen Sarg gelegt. Alle freien Fuhrleute sind mit dem Führen der Leichen beschäftigt. Auf dem rechtgläubigen Kirchhof wurden bis zum Abend 70, auf dem kathollischen 60 und auf dem Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 46
47 ebräischen mehr als 150 Leichen bestattet. Von manchen Familien ist Niemand aus dem Circus zurückgekehrt. In vielen anderen suchen Greise, welche ihre jungen Angehörigen in den Circus geschickt hatten, noch bis jetzt dieselben unter den unbekannten und entstellten Leichen. An den meisten Leichen ist der Kopf verbrannt, woraus man sehen kann, daß sie stehend, die ganz zusammengedrängte Menschenmenge mit einem Male, gebrannt haben. Auf dem Boden des Circus war Heu aufbewahrt, so daß der Bau in einem Augenblicke in Flammen stand und das Feuer sich schnell über das ganze Dach verbreitete. Die ganze, aus mehr als 1000 Personen bestehende Menschenmenge drängte dem einzigen Ausgange zu, der 2 ½ Arschin breit war. Vor dem Ausgange befand sich noch ein winkeliger Corridor mit einigen Verschlägen, welche angebracht waren, um bequemer das Publicum beim Hineingehen controliren zu können. Wer beim Hinausgehen in die Mitte des Corridors gerieth, der wurde augenblicklich aus dem Circus hinausgetragen, die Unglücklichen dagegen, welche in die Winkel desselben gedrängt wurden, mußten dort auch rettungslos bleiben, bis das brennende Dach über ihren Köpfen zusammenstürzte. Wenn nur zwei Beile auf der Unglücksstelle gewesen wären geschweige eine Löschmannschaft hätten die Unglücklichen gerettet werden können. Grauenhaft! Entsetzlich! Die Hilfe wäre so leicht, so möglich gewesen, und sie war nicht zur Stelle. Menschen, lebende Menschen, brannten in ganzen Massen! Es liegen Daten vor, nach welchen man die genaue Zahl der Umgekommenen feststellen kann; die Zahl derselben beziffert sich auf mindesten 430, von welchen 278 Leichen ihren Verwandten und Bekannten ausgeliefert sind. Am 4. Januar fand man noch einige ganz verschüttete und zertretene Opfer. An diesem Tage zogen Beerdigungsprocessionen durch die ganze Stadt. Die Kirchhöfe glichen Ameisenhaufen. Die auf die Kirchhöfe gebrachten Leichen druften nicht früher bestattet werden, als bis die Sanitätscommission die Tiefe der Gräber untersucht hatte. Die Unglücksstätte ist gereinigt und mit den nicht verbrannten Ueberresten des Circus eingezäunt worden. Einige Commissionsmitglieder äußerten den Wunsch, an dieser Stelle ein Denkmal zu errichten, wie auch in Wien auf dem Ringtheater-Platze geschehen, oder wenigstens den Platz einzuzäunen und ein hölzernes Kreuz hinzustellen, aber Andere protestierten entschieden dagegen, die Unglücksstätte irgendwie zu bezeichnen... Libausche Zeitung 23. Februar 1883 Berditschew, 19. Februar. Die wegen des Circusbrandes eingeleitete gerichtliche Strafuntersuchung ist nach der M. D. Ztg. bereits zum Abschlusse gelangt; der Anklageact wurde neun Personen, welche die unglückselige Katastrophe veranlaßt haben sollen, eingehändigt. Gleichzeitig werden vierzehn Personen wegen bedenklichen Ankaufs der auf der Brandstätte aufgelesenen Juwelen, Uhren, Ketten und anderer werthvoller Gegenstände zur Verantwortung gezogen. In der Stadt hat sich die Aufregung schon einigermaßen gelegt. Die Einwohner der zumeist betroffenen Stadttheile beginnen sich allmählich von dem ausgestandenen Schrecken zu erholen, allein Handel und Verkehr stocken noch immer in einer besorgniserregenden Weise. Viele Läden und Geschäfte mußten in Folge des Todes ihrer Inhaber geschlossen werden. Fallimente folgen auf Fallimente. Das Hilfscomité geht zwar, dank der rühmenswerten Opferwilligkeit der wohlhabenderen Bevölkerung, sehr energisch zu Werke; nichts desto weniger kann aber unmöglich allen Betheiligten eine Unterstützung in dem erforderlichen Maße geleistet werden, zumal viele Familien durch den Tod ihres Ernährers gänzlich substistenzlos geworden sind. Der ursprüngliche Plan, wonach auf der Unglücksstätte zur Erinnerung und Sühne ein Tempel errichtet werden sollte, wurde mit Rücksicht darauf, daß die Opfer der Brandkatastrophe verschiedenen Confessionen angehört haben, fallen gelassen. Statt dessen ist man übereingekommen, ein passendes Denkmal aus dauerhaftem Material auf dem Platze, wo nahezu 400 Personen in Folge der Kopflosigkeit der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 47
48 berufenen Organe umgekommen sind, aufzustellen. Das Theater in Berditschew, das übrigens seit dem Circusbrande gar nicht mehr besucht wird, bleibt vorläufig mit Rücksicht auf die Sicherheit des Publicums geschlossen. im Kontext: Libausche Zeitung 9. Juli 1884 Berditschew. Die Untersuchung in Sachen des Berditschwschen Circusbrandes, der mehr als 400 Personen das Leben kostete, ist geschlossen und die Anklageacte ist wie der Kiewljänin mittheilt den Angenklagten bereits eingehändigt worden. Dieselben snd unter anderem: der Berditschewsche Stadtarchitekt Greim, der ehemalige Berditschewsche Polizeimeister Schebanow, der Pristaw des 2. Stadttheils der Stadt Berditschew Brasul-Bruschkowski und der ehemalige Pristaw des 3. Stadttheils Borodin. Libausche Zeitung 30. August1884 Kiew. Am 25. August hat die Verhandlung des durch den Circusbrand in Berditschew veranlaßten Prozesses begonnen. Auf der Anklagebank sitzen der Archittekt, der Polizeimeister, zwei Polizeioffiziere und zwei Circusdirectoren. Libausche Zeitung 15. Februar 1883 Berditschew, im Februar. Ein Mann, der bereits zu den Verblichenen gezählt, ja dem sogar schon eine Grabinschrift auf dem hiesigen Friedhofe gesetzt war, tauchte plötzlich wieder unter den Lebenden auf. Der Thatbestand ist, wie der Wolhyn schreibt, folgender: Ein auswärtiger, reicher Viehhändler, der zum Schluß des alten Jahres in Berditschew anwesend war, ließ sich am 1. Januar, dem Tage der Circuskatastrophe, durch den Diener des Hotels, in dem er logirte, ein Billet zu der am Abend stattfindenen Vorstellung im Circus holen. Gegen Abend ging der Mann aus, um, wie er selbst sagte, den Circus zu besuchen und kehrte nicht mehr zurück. Der Mann galt daher als ein Opfer des Brandunglücks und bei der am folgenden Tage vorgenommenen Recognoscirung der Verbrannten glaubte der Gastwirth, wie auch einige seiner Verwandten, die sich in dieser Stadt befanden, die Kleider eines der Opfer als die des Genannten zu erkennen. Die Verwandten ließen die Gebeine beerdigen und benachrichtigten auch dessen Frau von dem sie betroffenen Unglücksfall. Wie groß war nun der Schrecken des Hoteldieners, als der Viehhändler nach einigen Tagen in einer späten Nachtstunde ins Domestikenzimmer trat und um den Schlüssel zu seinem Zimmer bat. Kaum hattte der Diener ihn erblickt, als er ein Zetergeschrei erhob, worauf sich viele Personen aus der Nachbarschaft um ihn versammelten und den ganz verwundert dreinschauenden Fremden erschreckt anblickten, bis sich endlich der Sachverhalt durch folgenden Umstand aufklärte: als der Gast, mit der Absicht den Circus zu besuchen, die Straße betrat, begegnete ihm sein Agent mit der Meldung, daß einige Gutsbesitzer ihn so rasch als möglich erwarteten. Der Devise Geschäft geht vor Vergnügen folgend, fuhr der Mann sofort aufs Land hinaus und verblieb dort bis zu seiner jetzigen Rückkehr. Seine Verwandten sind über diese Täuschung natürlich sehr erfreut, aber leider ist der Diener vor Schreck erkrankt und wahnsinnig geworden. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 48
49 Libausche Zeitung 15. Februar 1883 Shitomir, im Februar. Im Dorfe Troscze feierte wie der Mit.Ztg. berichtet wird, der dortige jüdische Krüger die Hochzeit seines Sohnes. Nach abgehaltenem Gottesdienst am Sonnabend erschienen zu dieser feierlichen Gelegenheit auch fünf Bauern des Ortes, welche mit dem Krüger bekannt waren, um ihre Gratulation abzustatten, wobei dieselben einen unbewachten Augenblick benutzend, 5 Käppchen der anwesenden jüdischen Gäste mitnahmen. Dieser anfangs nur als Spaß betrachtete Verlust sollte große Folgen nach sich ziehen. In derselben Nacht brachen nämlich die beim Krüger als Gäste erschienenen Bauern in die katholische Kirche des Dorfes ein, plünderten die Werthgegenstände und nahmen die gesammte vorgefundene Baarschaft mit sich; alsdann füllten sie die vom Krüger entwendeten Käppchen mit Koth und ließen dieselben an einer in die Augen fallenden Stelle in der Kirche zurück, um durch diese geschickte Manipulation den Verdacht von sich auf die Judenschaft des Ortes zu lenken. Als der Priester am folgenden Morgen diese angerichtete Zerstörung bemerkte, meldete er das Wahrgenommene dem Untersuchungsrichter des benachbarten Städtchens Janispol. Der Richter, ein humaner, erfahrener Mann, wie auch die zu Rath gezogenen Aeltesten des Dorfes waren klug genug, dieses geschickte Manöver zu begreifen und sie ließen daher Erkundigungen einziehen, ob nicht jüdischen Einwohnern Käppchen abhanden gekommen waren. Als sie die Geschichte von den verschwundenen Käppchen bei dem Krüger, während der Anwesenheit der fünf Bauern erfuhren, ließen sie bei denselben eine plötzliche Hausdurchsuchung vornehmen. Nach längerem Suchen wurden sämmtliche, aus der Kirche entwandten Gegenstände unter dem Fußboden eines Nebengebäudes des einen von den Komplicen aufgefunden. Die schlauen Diebe wurden verhaftet und legten bald darauf ein reuiges Geständnis ab. Rigasche Zeitung 30. März (11. April) 1883 Die deutschen Colonisten im Gouvernement während der letzten fünf Jahre (aus dem Regierungs-Anzeiger ) Die deutschen Colonieen im Gouvernement Warschau sind vorzugsweise am Ufer der Weichsel belegen, ein Theil jedoch auf dem Grund und Boden, welcher bis zum Erlaß des Ukases vom 19. Februar 1864 Privateigenthum größerer Grundbesitzer war. Gegenwärtig zählt das Warschauer Gouvernement 61 Dörfer mit rein deutscher Bevölkerung, 586 Dörfer mit deutscher und polnischer Mischbevölkerung. Die Zahl der deutschen Meiereibesitzer, die aufgrund des genannten Ukases ihr Eigenthum erworben haben, beziffert sich nach den Daten des Jahres 1881 für das Gouvernement Warschau auf 5576, das in ihrem Besitz befindliche Land übersteigt die Summe von 8 Millionen Rbl. Außer diesen Hofesbesitzern leben eine gleiche Anzahl, wenn nicht noch mehr, Personen ausländischer Herkunft in den deutschen Ansiedelungen, landloser Arbeiter, welche die ländlichen Arbeiten bei den deutschen Meiereibesitzern verrichten. Der Hauptwirthschaftszweig in den an der Weichsel belegenen Colonieen ist die Zucht von Milchvieh zur Production von Butter und Käse und die Pferdezucht. Sowohl Milchvieh als Pferde, die von den Colonisten gezüchtet werden, sind von ausgezeichnetem Schlage. Nicht von geringerer Bedeutung als diese Zweige der Wirthschaft ist der Gartenbau, der bedeutende Erträge abwirft. Die Getreidecultur muß sich in den an der Weichsel belegenen Colonien der Frühjahrsüberschwemmungen wegen auf die Aussaat von Sommerkorn beschränken; in den weiter vom Ufer gelegenen Colonieen wird hauptsächlich die besser im Preise stehende Runkelrübe angebaut. Auch in diesen letzteren Colonieen spielt die Vieh- und Pferdezucht trotz des Mangels natürlich berieselter Wiesen sichtlich eine Rolle, dank dem Anbau von Gras und Futterkräutern. Im Allgemeinen haben die in hohem Grade sorgfältige und rationelle Bodenbearbeitung, das System Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 49
50 des Fruchtwechsels, der Viehreichthum, die Anlagen für den Wasserabfluß, als Gräben, Dämme und endlich das Fehlen von Streuländereien die Erträge des Colonistenlandes so weit gesteigert, daß ein Morgen solchen Landes gegenwärtig auf 200 bis 400 Rbl. geschätzt wird. Ungeachtet dessen nun, daß hier nirgends Mangel herrscht, verläßt jährlich ein großer Theil der deutschen Colonisten-Bevölkerung im Gouvernement Warschau seine vollständig eingerichteten Wirthschaften und siedelt nach dem südwestlichen Rußland über, um größere Ländereien zu erwerben. Es strömen dorthin sowohl Meiereibesitzer, als ländliche Arbeiter deutscher Herkunft. In der Warschauer Gouvernements-Zeitung veröffentlichte Daten geben die Zahl der in den letzten fünf Jahren aus dem Warschauschen Gouvernement in s Reich Uebergesiedelten auf 1178 Männer und 1091 Weiber an; von diesen waren deutsche Colonisten 1185 (sic!) Männer und 1078 Weiber; Familien mit Grundbesitz 304, ohne solchen 216. Mit Ausnahme des Jahres 1880 ist in jedem der letzten fünf Jahre die Auswanderung gestiegen; sie richtet sich fast ausschließlich ins Gouvernement Wolhynien, namentlich in die Kreise von Shitomir und Nowogradwolinsk. Das größte Contingent von Auswanderern stellen die Kreise Gostinsk Sochatschewsk des Warschauschen Gouvernements, in welchem sich am meisten reiche deutsche Colonieen befinden. Eine Untersuchung der Gründe dieser Auswanderung, nach am Orte derselben eingezogenen Erkundigungen, ergab als einziges Motiv der Strömung nach Wolhynien den Wunsch der Colonisten, mehr Land zu erwerben, - ein Wunsch, der durch den billigen Preis des Landes in Wolhynien und die außerordentlich hohen Preise der deutschen Meiereien im Warschauschen Gouvernement geweckt und rege erhalten wird. Es waltet hier ein einfacher Calcül: die eigene Colonie für den theueren Preis von einigen hundert Rubeln pro Morgen (1 Morgen = 0,51247 Dessätinen oder 1230 Quadrat-Faden) zu verkaufen und für den Erlös im Gouvernement Wolhynien Land zu 50 bis 75 Rbl. pro Dessätine zu kaufen. Gegenwärtig ist die Uebersiedelung der Colonisten nach Wolhynien regelrecht organisiert. Die Pastoren und Lehrer der deutschen Schulen in Wolhynien verfolgen aufmerksam den Landverkauf und geben den im Weichselgebiet wohnenden Colonisten, sowie ihren Landsleuten jenseits der Grenze sofort Nachricht, wenn Ländereien zum Verkauf gelangen, welche zur Colonisation geeignet erscheinen. Außerdem stehen die Colonisten in ununterbrochener Correspondenz mit ihren in Wolhynien schon eingebürgerten Dorfgenossen. Die Briefe der letzteren sind voll von lebhaften Schilderungen der Billigkeit und Fruchtbarkeit des Bodens in Wolhynien, des Waldreichthums und der Leichtigkeit, Land zu erwerben. Die Colonisten thun sich gewöhnlich, sobald sie die Uebersiedelung beabsichtigen, zu Gruppen zusammen, welche gemeinsam Boten absenden, die sich über die Kaufbedingungen und den Werth der Ländereien zu orientiren haben, von deren Verkauf die Nachricht ihnen zugegangen war. Gewöhnlich gehen diese Auskundschaftungen im Herbst vor sich. Ist endlich die Frage der Uebersiedelung entschieden, weiß man, wohin und unter welchen Bedingungen der Umzug geschieht und wann die Abmachung über den Kauf der Landstücke abgeschlossen worden, so beginnen die Colonisten mit dem Verkauf ihrer gesammten Habe. Was die Meiereien und Ländereien anbetrifft, so pflegt an Käufern für dieselben kein Mangel zu sein, obgleich der Verkauf der Colonieen an Personen nicht bäuerlichen Standes verboten ist. Wie man aus Umfragen an den Orten erfahren, welche das größte Contingent der Colonistenauswanderung stellen, gehen die Höfe fast ausschließlich wieder in die Hände von Colonisten über und äußerst selten sind die Fälle, daß dieselben von polnischen Bauern gekauft werden. Meistentheils sind es neugegründete Familien, welche sie erwerben. Jeder Sohn eines Colonisten, der das väterliche Haus verläßt, sich von der Familie abtheilt, ist bestrebt, mit Hilfe des von der Frau Mitgebrachten und unterstützt von Vater oder Brüdern einen Hof am Orte zu erlangen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 50
51 Ist es ihm dann in einigen Jahren gelungen, sich einiges Capital zu erwirthschaften, so verkauft er sein junges Eigenthum und zieht nach Wolhynien. Nicht selten gehen auch Väter erwachsener Söhne mit den älteren derselben nach Wolhynien und überlassen die Meierei den jüngsten Söhnen, die ihnen nach und nach dann den Kaufpreis derselben auszahlen. Die deutschen Colonisten ziehen es vor, ihre Höfe wiederum deutschen Colonisten zu verkaufen, wenn auch für einen Preis, der um 200 oder 300 Rbl. niedriger ist, als die von den polnischen Bauern gebotene Summe. Es bleiben daher die Ansiedelungen rein deutsche und bewahren sich die sie auszeichnende Eigenart. Die Colonisten führen ein eigenes, abgeschlossenes Leben; mit der örtlichen Bevölkerung treten sie nur in die allernothwendigsten Beziehungen. sie haben ihre eigene gegenseitige Versicherung, welche auf Gesammtbürgschaft beruht und ein eigenes System gleichmäßiger Vertheilung von Naturalleistungen in den Ansiedelungen wie z.b. in Bezug auf die Canalisation. Abgesehen von diesem Zusammenhalten, dieser Solidarität der deutschen Colonisten unter einander, liegt ein weiterer Grund dafür, daß polnische Bauern die Colonistenhöfe nicht erwerben, in der besonderen Bewirthschaftungsart derselben, die durchaus mit dem Charakter, der Lebensgewohnheit des polnischen Bauern nicht überreinstimmt und seinen Kenntnissen, seiner Art und Weise zu wirthschaften, nicht entspricht. Um ihre bewegliche Habe zu verkaufen, veranstalten die Colonisten rechtzeitig private Auctionen. Wenn sie sich, gewöhnlich im Winter, zur Auswanderung entschlossen haben, zeigen sie dem localen Bauernältesten an, daß um die und die Zeit ihr bewegliches Eigenthum verkauft werden wird und bitten, dies den Bewohnern der Ansiedelung bekannt zu machen. Damit die Auctionen von größerem Erfolge seien, geben die Auswanderer alle diejenigen Sachen, deren Werth einen Rubel übersteigt, dem Meistbietenden bei der Auction auf Credit, die Zahlung wird dabei auf drei bis vier Monate nachher, d.h. auf die Zeit des Umzugs festgesetzt. Demselben Zwecke dienen auch Bewirthungen mit Branntwein, die auf solchen Auctionen zur Sitte geworden sind; jeder Käufer irgend einer Sache zahlt gleich ½ Kopeken für je 15 Kopeken, welche er für das Einpacken zu zahlen hat, für Branntwein, der sofort beschafft und zu Ende der Auction von allen Käufern gemeinsam ausgetrunken wird. Wer nichts gekauft hat, muß unbewirthet abziehen. Alle bewegliche Habe des Auswanderers wird auf der Auction verkauft, mit Ausnahme eines Frachtwagens, zweier Pferde und einiger Gegenstände primitivster Bedürfnisse. Zu Beginn des Frühlings, im März und Anfang April, begeben sich die Auswanderer auf die Reise nach dem neuen Wohnsitze. Sie reisen mit ihren Familien stets per Achse bis zum Orte der neuen Ansiedelung in ganzen Trupps, die sich aus den Auswanderern benachbarter Colonien zusammensetzen. Im ersten Jahre leben sie in Wolhynien noch auf ihren Paß, dann aber erhalten sie ihre Entlassungsscheine. Haben sie sich in Wolhynien eingerichtet, so berufen sie ihre ausländischen Lehrer und Handwerksmeister, sowie Arbeiter dorthin. Es strömen deshalb auch landlose Colonisten in gleicher Weise nach Wolhynien, wie die Hofesbesitzer. Erstere arbeiten entweder bei den Grundbesitzern oder erwerben für das vom Verdienste Ersparte kleine Höfe. Kurz, das deutsche Element strömt sehr merklich vom Gouvernement Warschau nach Wolhynien. Es ziehen dahin sowohl reiche, als nicht besonders wohlhabende Leute, die mit vereinten Mitteln sich kleine Güter kaufen. Diese Strömung wäre noch stärker, wenn in Wolhynien dieselben Mittel zur Sicherung des Credites existirten, deren sich das Gouvernement Warschau erfreut. Der Mangel eines Hypotheken-Credites und die verhältnismäßige Theuerung der Arbeitskräfte halten noch viele wohlhabende Colonisten von der Uebersiedelung zurück. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 51
52 Rigasche Zeitung 20. Juli 1883 Wolhynien. Die Germanisierung Wolhyniens macht nach einer Correspondenz der Russ flotte Fortschritte: Im Gouvernement Wolhynien werden jetzt an Deutschen Höfe gezählt. Von den Deutschen haben Seelen die russische Unterthanschaft angenommen, nicht. Die Deutschen, welche nicht russische Unterthanen geworden, haben Dessätinen eigenen Landes und Dessätinen außerdem in Pacht. Die russische Unterthanen gewordenen Deutschen besitzen Dessätinen. Indem die Deutschen bei den einheimischen Bauern Land pachten, beengen sie sie in der Ausnutzung ihrer Servituten, in der Heumahd, im Walde und auf den Wiesen. Den Süden ausgenommen, ist Wolhynien stellenweise sumpfig und wenig fruchtbar. Während der Leibeigenschaft hielten die Bauern viel Vieh, indem sie das Weideservitut im Walde besaßen. Dieses Servitut haben sie im Gesetz vom 19. Februar 1861 und in den späteren Verordnungen für das Westgebiet behalten. Die Gutsbesitzer beeilen sich, ihre Wälder den Deutschen zum Abholzen, Roden und Urbarmachen abzugeben und diese, die Deutschen, bilden aus den Wäldern abgesonderte Bezirke, zäunen sie ein und hindern dadurch die Bauern, ihr Servitut auszunutzen. Dabei überwältigt die einmüthige deutsche Vertretung die Besitzrechte auf die Waldantheile oft die bäuerliche Gewalt. Kommt s zum Proceß, so schützen die Friedensrichter den factischen Besitz, da sie das Servitutrecht nicht kennen und bestrafen die Bauern. Das Resultat ist, daß die Bauern die Zahl ihres Viehstandes einschränken und damit auch die Cultur ihres Bodens verringern. Da wir in den obigen Nachrichten - bemerkt hiezu die deutsche Pet. Ztg. - eine Gefahr für s Vaterland nicht erblicken können, nehmen wir mit Befriedigung davon Act, daß Pioniere der Cultur mit Axt und Pflug in die Wolhynischen Wälder eindringen, das Land, das sonst nur dem Vieh als Weide diente, zu urbarem Acker machen und dadurch den Werth und die Productivität desselben heben, dem Reiche nicht zum Schaden, sondern zum Nutzen. Auch freut es uns zu erfahren, daß den dortigen Friedensrichtern Rechtsgefühl genug innewohnt, die Ansiedler den Bauern gegenüber in ihrem mühsam erarbeiteten, dem Walde abgerungenen Landbesitz zu schützen, da den Bauern dabei der Recurs an die Gutsbesitzer offen bleibt, welche ohne Berücksichtigung eines vorhandenen Waldservituts ihre Waldungen den deutschen Ansiedlern verkaufen oder verpachten. Libausche Zeitung 19. November 1883 Shitomir, 16. November. Dem Nov. Telegr. wird geschrieben: Unser durch die mannigfachen natürlichen Reichthümer ausgezeichnetes Wolhynien hat schon längst viel Anziehendes für unsere theuren Nachbarn von der Spree. Der Devise ihrer Fahne getreu, hat die deutsche Kolonisation hierlands eine kollossale Ausdehnung gewonnen. Der Zuzug von Kulturträgern, die unstreitig höher gebildet sind als die Masse der eingeborenen Bauernbevölkerung, ist nicht ohne Einfluß geblieben. Das Beispiel, welches die deutschen und besonders die tschechischen Ansiedler durch ihre Arbeitsamkeit und Sachkenntnis geben, hat die dadurch besser gewordene Ackerwirthschaft unserer Bauern erheblich und in fruchtbringender Weise beeinflußt. Es zeigt sich dies durch die bessere Bereitung der Felder, durch die Anschaffung praktischen Ackergeräthes, durch die Einführung besserer Viehracen und durch den Anbau einiger neuer Kulturpflanzen. Selbstverständlich hat sich dadurch auch die materielle Lage vieler unserer Bauern verbessert. Leider aber hat dies gute Beispiel nicht überall dasselbe gute Resultat gehabt. Immer noch giebt es viele Ortschaften, in denen unsere Bauern, trotz der Nachbarschaft von Kolonisten, nach wie vor dem Konservatismus der Unwissenheit und Faulheit ergeben und fast leibeigene Knechte und Sklaven des jüdischen Schenkwirthes sind. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 52
53 Libausche Zeitung 13. Dezember 1883 Kremenez. (Gouv. Wolhynien). 7. Dezember. Der "Sarja" zufolge wurde ein 70jähriger Greis für Flucht aus den Bergwerken und andere Vergehen zu lebenslänglicher Zwangsarbeit und einer Anzahl Hiebe verurtheilt. als der Präsident des Gerichts nach Bekanntmachung des Urtheils mittheilte, daß die Entscheidung in ihrer endgiltigen Form am folgenden Tage publicirt werden sollte, zog der Verurtheilte ein bei ihm verborgenes Messer hervor und durchschnitt sich mit den Worten: "Ich wünsche Euch,daß Ihr, wie ich, den morgigen Tag nicht erlebet!" die Kehle durch. Er stürzte sofort bewußtlos zu Boden. Ein zufällig in der Nähe anwesender Arzt leistete ihm die erste Hilfe, worauf der Unglücliche in das Gefängniß-Spital abgeführt wurde. Libausche Zeitung 25. Februar 1884 Berditschew. Einen sehr charakteristischen Aufruf des Polizeimeisters von Berditschew an die Bewohner der Stadt bringt die Sarä. Er lautet: Bewohner von Berditschew! Ihr lebt im Schmutz, und Eure ganze Umgebung ist schmutzig; - mir ist dergleichen noch nirgendwo vorgekommen. Ich wende mich an Euch mit der nachfolgenden Bekanntmachung: macht Euch an die Reinigung der Stadt, der Trottoirs, Höfe, Häuser, reinigt dadurch die Luft und zerstört die Miasmen, und Ihr werdet gesund sein! Ihr seid vor Kurzem Zeugen eines großen Unglücks, des Circusbrandes, gewesen, bei dem Hunderte von Personen umkamen. Doch dies ist ein einzelner Unglücksfall, der sich nicht wiederholen wird. Stellt Euch aber die Lage der Bewohner vor beim Ausbruch einer Epidemie! Sie wird Niemanden verschonen und schuld daran seid Ihr selbst, die Bewohner der Stadt! Die Unreinlichkeit in den Häusern und Höfen, die Schmutzmassen auf den Straßen Alles dies ruft Fäulnis hervor. Die ungesunden Ausdünstungen erzeugen Krankheiten, was aber ist schrecklicher als eine Epidemie! Ich mache Euch darauf aufmerksam und bitte jeden Hausbesitzer, für sein eigenes Wohl zu sorgen und nicht auf eine Aufforderung durch die Polizei zu warten. Eine einmalige Reinigung kann nicht als befriedigende Erfüllung der Anforderungen an Ordnung und Reinlichkeit gelten; es ist eine beständige Sorge für Bereinigung der Straßen und Höfe unerläßllich, nur in solchem Falle kann man im Frühjahr erwarten, daß die Stadt und die Luft derselben rein sind; nach Speise und Trank ist aber reine Luft für den Menschen das Wichtigste. Ich wiederhole nochmals: ich hoffe daß diese meine von den Gesetzung und der Nothwendigkeit gebotene Aufforderung unter den Bewohnern Berditschews der erwünschten Sympathie begegnen wird, sowie die mir untergebenen Polizeibeamten, der Nothwendigkeit enthoben sein werden, zu Repressalien meine Zuflucht zu nehmen bei einer Angelegenheit, die den Bewohnern der Stadt selbst nur den größten Nutzen bringen kann. Libausche Zeitung 31. Juli 1884 Berditschew. In Bezug auf die Erkrankungen, die, wie gemeldet, in Berditschew vorgekommen sind und in vielen Fällen einen tödtlichen Ausgang genommen haben, bringt der Kiewljänin folgende Mittheilung des Gouverneurs von Kiew: Am 14. und 15. Juli erhielt der Gouverneur Telegramme aus Berditschew, in welchen der dortige Polizeimeister mittheilte, daß in Berditschew einige Fälle von Erkrankungen am acuten Magenkatarrh vorgekommen sind, die einen tödtlichen Ausgang genommen. Der Gouverneur von Kiew commandirte daher sofot nach Berditschew den Medicinal- Inspector, Wirkl. Staatsrath Mogiljanskij-Rossobtowskij ab, um den Charakter der Krankheit festzustellen und die nöthigen Maßregeln zu ergreifen. Der gegenwärtig an Kiew zurückgekehrte Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 53
54 Medicinal-Inspector theilte mit, daß er sofort nach seiner Ankunft in Berditschew mit Hilfe der dortigen Aerzte und des Polizeimeisters genaue Nachforschungen nach der Natur der Krankheit und Entstehung derselben angestellt. Es stellte sich heraus, daß vom 12. bis 17. Juli 10 Personen am acuten Magenkatarrh erkrankt waren, von denen 5 starben. Es starben: Kurbatow, 85 Jahre alt; Andrejew, 75 Jahr alt; Stepan Tschernow, 65 Jahre alt; die Kataraschtschukowa, 50 Jahre alt; die Andrejewa, 50 Jahre alt; und ein Sohn des S. Tschernow, 9 Jahre alt (dieser wahrscheinlich an der Ruhr). Die ersten vier Personen waren dem Trunke stark ergeben, lebten unter schlechten hygienischen Verhältnissen, waren Lumpensammler und schliefen im Freien. Die Todesursache ist in der schlechten Ernährung zu suchen, was bei der Section der Leiche des Stepan Tschernow festgestellt wurde, wobei man constatirte, daß alle charakteristischen Anzeichen der asiatischen Cholera fehlen. In Anbetracht dieser Umstände und in Anbetracht der Ansicht der Aerzte in Berditschew, daß in dieser Stadt alljährlich im Sommer solche Erkrankungen vorkommen, gelangt man zu der Schlußfolgerung, daß auch die gegenwärtigen Fälle von Erkrankungen in Berditschew, welche Stadt sich überhaupt unter den unglaublichsten hygienischen Bedingungen befindet, zu sehr gewöhnlichen Erscheinungen gehören. Aus Vorsicht wurden nichtsdestoweniger alle Häuser, in denen Personen in oben angegebener Weise gestorben waren, desinficirt und die Kleider der Verstorbenen wie Genesenen vernichtet. Wie officielle Berichte melden, sind seit dem 17. Juli keine neuen derartigen Erkrankungen vorgekommen. Rigasche Zeitung 4. August 1884 Shitomir. In neuester Zeit ist in den Zeitungen viel über die außerordenliche Verminderung der Wälder in Rußland und ihre räuberische Exploitierung geschrieben worden. Wir haben die Abnahmen derselben, schreibt man dem Nowosti aus Shitomir, bei unserem Waldreichtum bisher wenig gespürt (30,84 pct des ganzen Areals ist mit Wald bestanden), jetzt aber beginnen auch wir es empfindlich zu fühlen, daß mit unseren Wäldern unverantwortlich gewirthschaftet wird. Unsere Fabriken, besonders die Runkelrübenzuckerfabriken bewirken es, daß Bau- und Brennholz von Tag zu Tag im Preise steigt. Im Jahre 1866 zahlte eine hiesige Zuckerfabrik für den Fabrikfaden Holz 8 Rbl., im Jahre 1874 schon 13 Rbl. 16 Kop.; im Jahre 1880 aber 17 Rbl. 16 Kop.; eine andere Fabrik zahlte 1866 für den Faden 9 Rbl. 56 Kop., Rbl. und Rbl. Die Preissteigerung wird erklärlich, wenn wir erfahren, daß nach statistischen Ausweisen, in unserem Gouvernement gegen 850 Fabriken mit mehr als Arbeitern sich befinden, welche eine Jahresproduction im Werte von Rbl. erzielen. Die Runkelrübenzuckerfabriken, die Branntweinbrennereien und Bierbrauereien verbrauchen jährlich mehr als Faden Holz, d.h. für Rbl., trotzdem sie außerdem mehr als Pud Steinkohlen verbrennen. In der Zeit von und haben die Zuckerfabriken allein, nach offiziellen Angaben, Dessätinen Wald vernichtet. Schon 1880 waren im Wolhynischen Gouvernement 158 Dampfkessel und Locomobilen mit 6106 Pferdekräften thätig. Es ist aber begreiflich, daß wir mit großer Befriedigung die Nachricht aufnehmen, der wolhynische Gouverneur habe sich mit einem Bericht an den Minister des Innern gewandt, in welchem er die Nothwendigkeit darlegte, im wolhynischen Gouvernement, besonders aber im Kremenetzschen Kreise Nachforschungen nach Kohlen vornehmen zu lassen. Das Gouvernement ist aber nicht nur an Kohlen, sondern auch an werthvollen Steinen und Eisenerz reich, die einstmals eine bedeutende Einnahmequelle bieten werden. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 54
55 Rigasche Zeitung 18. August 1884 Shitomir. Einer längeren Korrespondenz der Rowoni entnehmen wir Folgendes: Im Jahre 1870 wurde eine der wichtigsten russischen Bahnen, die Kiew-Brester, gebaut; Shitomir blieb aus irgend welchen Gründen zur Seite liegen. Dieser Umstand hat auf die Entwickelung der industriellen und commerzeilen Thätigkeit in dieser Stadt einen drückenden Einfluß gehabt und Shitomir, ehemals ein recht bedeutender Handelspunkt, verliert allmählich seine frühere Bedeutung. Wenn auch zwischen Shitomir und seinen, aus den Kreisen Nowgorodwoynsk und Radomysl einerseits und Berditschew mit seinen nächstliegenden Eisenbahnstationen Demtschin, Olschanka und Browki andererseits auch gegenwärtig recht lebhafte Handelsbeziehungen bestehen, so können dieselben doch nicht eine dem Landesreichthum entsprechender Entwickelung erlangen und können nicht den Unternehmungsgeist der Bevölkerung wecken, weil der Transport per Achse auf eine Entfernung von 50 Werst viel zu unbequem und zu theuer ist. Der Reisende zahlt 2 bis 5 Kop. pro Werst, für den Waarentransport werden 1/6 bis 1/3 Kop. pro Pud und Werst gezahlt. Unlängst gelang es uns, Einblick in die Denkschrift eines unbekannten Verfassers, betitelt: Z u r F r a g e u e b e r d e n B a u e i n e r S h i t o m i r s c h e n B a h n zu gewinnen. Der Verfasser, offenbar ein Sachverständiger, hat alle Daten und Ziffern vorzüglich gruppirt, um nicht nur die Möglichkeit des Baues dieser Linie, sondern auch die Nothwendigkeit und Rentabilität zu beweisen. Wir wollen die Leser hier mit einigen seiner wichtigsten Schlußfolgerungen bekannt machen. Obenan steht die Frage der Ertragsfähigkeit der Bahn. Um dieselbe zu entscheiden, werden nach Möglichkeit genaue statistische Ausweise über die Menge der zu erwartenden Frachten und der aus denselben zu erzielenden Einnahmen zusammengestellt, und aus denselben das Minimalmaß des künftigen Versandts und der Einnahmen gefolgert. Das Resultat ergiebt, daß die Hälfte der angenommenen Minimalsätze schon die Existenz der Bahn garantirt. Sonach würden Passagiere und circa Pud Güter eine Bruttoeinnahme von Rbl. und eine Reineinnahme von Rbl. ergeben, falls die Bahn selbständig exploitirt werden soll. Im Fall dieselbe aber der Verwaltung der Südwestbahn übergeben werden würde, müßten die Reineinnahmen durch den Ausfall der Ausgaben für eine besondere Administration etc. sich noch bedeutend günstiger ausfallen. Die finanzielle Seite der Frage beleuchtend sagt der Verfasser, daß nach Abzug von 5 pct. von der mit Rbl. angenommenen Reineinnahme zur Bildung eines Reservecapitals und 1 pct. für die Pensions- und Hilfskasse, sowie 500 Rbl. pro Werst zur Bildung eines Renovationscapitals, im Falle selbständiger Exploitation eine Summe von Rbl., anderenfalls aber eine bedeutend größere als Ueberschuß verbleiben würde. Diese Summe würde vollkommen zur Verzinsung und Tilgung des Baucapitals genügen. Wenn wir 5 pct. Verrentung und 1/10 pct. Tilgung annehmen, dürfte das Baucapital sich auf Rbl. oder unter Annahme eines Verlusts von 15 pct. bei der Realisirung des Capitals auf nominelle Rbl. stellen. Die wirklichen Herstellungskosten einer Werst mit dem rollenden Inventar aber und dem Telegraphen sind auf Rbl. anzuschlagen. Diese Aufstellung beweist, daß die zu erwartenden Einnahmen völlig ausreichen würden, um eine Bahnstrecke von 50 Werst herzustellen und auszustatten, um so mehr, als sich hier keine besonderen Terrain-Schwierigkeiten darbieten. In ökonomischer Hinsicht müßte sich der Bau der Shitomirschen Bahn auf Kosten der Südwestbahnen noch viel vortheilhafter stellen und könnten fast 20 pct. der gesammten herstellungskosten erspart werden, da die Anschaffung eines vollen Complexes des rollenden Inventars, der Bau von Werkstätten, des Depots und dder Anschlußstationen, ferner viele andere Ausgaben in Wegfall kämen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 55
56 Oben ist bemerkt worden, daß die Hälfte der zu erwartenden Güter als Norm der Berechnung zu Grunde gelegt wurde. Jetzt wollen wir anführen, auf welche Güter besonders gerechnet werden kann. Vor allen Dingen sind es die Producte der Forstwirthschaft der Kreise des Wolhynischen Gouvernements Shitomir, Owrutsch und Nowogradwolynsk, sowie des Kreises Radomysl des Kiewschen Gouvernements. Diese Producte nehmen fast alle die Richtung von Shitomir nach Berditschew und von dort in den waldlosen Rayon des südlichen Rußlands. Dann ist es das Getreide, welches aus Podolien und theilweise aus dem Kiewschen Gouvernement in großen Quantitäten, annähernd 1 Mill. Pud, nach Shitomir geführt wird und von hier sich weiter im Wolhynischen, ja sogar bis in die benachbarten Gouvernements vertheilt. Das Getreide, welches, ehe es zum weiteren Versande gelangt, in Shitomir zu Mehl verarbeitet wird, tritt theilweise in diesem Zustande wieder den Rückweg an. Von der angegebenen Quantität ist, wie von allem den Berechnungen nur die Hälfte zu Grunde gelegt worden. Noch sind sämmtliche Güter zu berücksichtigen, die über Berditschew aus Kiew, Odessa und Warschau nach Shitomir versandt werden, wie Wein, Getränke, Lebensmittel, Thee, Zucker, Tabak, Lichte, Manufakturwaaren, Salz, Fische, Petroleum etc. etc. Was den Passagierverkehr betrifft, so ist die angenommene Ziffer von Passagieren sicher nicht zu hoch gegrifffen, wenn man in Betracht zieht, daß Berditschew und Shitomir zusammen Einwohner haben, daß ferner in den, Shitomir umgebenden Kreisen nach officiellen Angaben 1400 bewohnte Fabriken, Dörfer und Flecken mit Einwohnern sich befinden. Der Personenverkehr würde Rbl. ergeben, der Zuschlag, mit 11 pct. der einnahme des Güterverkehrs berechnet, Rbl., und folglich die Linie mit den einnahmen des Gütersverkehr zusammen eine Bruttoeinnahme von Rbl. erzielen. Wenn man nun, nach Maßgabe anderer kleinerer Bahnen, 2800 Rbl. für die Betriebsausgaben in Abzug bringt, erhalten wir eine Bruttoausgabe von Rbl., während als Reingewinn Rbl. verbleiben. Bei einer Exploitation der Bahn durch die Südwestbahnen würden 20 pct. Betriebskosten erspart und die Nettoeinnahme auf Rbl. erhöht werden. Die Shitomirsche Bahn würde sich als voraussichtlich in materieller Hinsicht bewähren und es bleibt nur noch die Sanction der Regierung, um welche sich die Stadtverwaltung Shitomirs schon längst bemüht, abzuwarten. Libausche Zeitung Z u r F r a g e v o n d e r A n s t e l l u n g v o n R u s s e n a n E i s e n b a h n e n begegenen wir im "Kiewljanin" einem interessanten Artikel. Bekanntlich wurde vor Jahr und Tag gemeldet, man wolle in Zukunft an den westlichen strategischen Bahnen nur nationale Russen anstellen; war doch sogar die Dienstsprache an diesen Bahnen die polnische geworden. Später hieß es, daß dieser Uebelstand faktisch beseitigt sei. Aber man höre, was nunmehr das genannte Blatt sogar von einer der wichtigsten strategischen Bahnen zu berichten weiß. " Von Kowel aus läuft durch zwei Kreise des Wolhynischen Gouvernements (Kowel und Wladimir-Wolynsk) die Weichselbahn. Und hier, fast im Zentrum Wolhyniens, in einem urrussischen Gebiete, ist die offizielle Dienstsprache das Polnische. Die Stationschefs, die Telegraphisten, die Kondukteure, die Buffetiers, die Kellner Alles spricht unter sich und mit dem Publikum polnisch. Auf der ersten Station nach Kowel, Maziowo, rufen die Kondukteure: "ut pciong stoi 5 minut!" (Hier hält der Zug 5 Minuten) und so geht's durch ganz Wolhynien. Wir waren selbst Zeuge, daß örtliche Bauern, die in kleinrussischer Sprache ein Billet verlangten, vom Kassirer bedeutet wurden, polnisch zu sprechen. Der Friedensvermittler eines der Nachbarkreise, der mit den Verhältnissen auf der Weichselbahn nicht bekannt ist und auf der Station Maziowo beim Buffetier Thee verlangte, bekam im Gegenwart mehrerer anderer Personen zur Antwort: "nie rozumiem!" (Ich verstehe nicht!) als er bemerkte, daß Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 56
57 das Dienstpersonal russischer Eisenbahnen das Russische wenigstens verstehen müsse, wenn es auch nicht russisch spräche, antwortete der Buffetier: "tu jest Polska!" (hier ist Polen) und ein übereifriger Jude, der dieser unerhörten Szene der Frechheit beiwohnte, bemühte sich, den Buffetier, der einem Passagier keinen Thee gibt, weil er ihn in russischer Sprache verlangt, zu vertheidigen, indem er erklärte: diese Bahn sei mit polnischem Geld gebaut! Das Kiewsche Blatt weist nun auf die große strategische Bedeutung der Weichselbahn hin und meint mit Bezug darauf: " Diese Bahn den Händen unserer so fragwürdigen polnischen Freunde zu überliefern, das hieße, im Falle eines Krieges mit dem österreichischen Nachbar, dem Feinde es zu erleichtern, sich der südlichen Gouvernements des Weichselgebietes und Wolhyniens zu bemächtigen und ihm überhaupt den Krieg mit uns leicht zu machen! Ist die Bahn etwa zu diesem Zwecke angelegt worden? Alle diese polnischen Buffetiers, Kondukteure, Telegraphisten, Stationschefs é tutti quanti bilden ein fertiges Kontingent österreichischer Agenten und nur ein Einfaltspinsel oder irgend ein Petersburger Staatshämorhoidarius, der nie über Ochta hinausgekommen, kann so naiv sein, zu glauben, daß die Polen Unserer schonen würden. Auf solche Weise wird also eine Bahn, die für unsere Rechnung, mit unserer Bewilligung angeblich für uns gebaut ist nun unserem Feinde und unserem Verderben dienen. Man sagte uns sogar, daß das Dienstpersonal dieser Bahn aus ehemaligen Aufrührern bestehe, die aus Sibirien zurückgekehrt sind Welch' eine furchtbare Perspektive aber wir lassen die Hände im Schooße ruhen und faseln von Freundschaft." Der Autor all' dieser Mitteilungen, bemerkt hinzu die "D. P.Z.", steht denn doch wohl gar zu schwarz. Dafür scheint uns auch gerade der Umstand zu sprechen, daß, wie am Schluss berichtet wird, die mehrfachen Versuche der örtlichen Administration, auf diesen Uebelstand das Ministerium für Kommunicationen aufmerksam zu machen, ohne Erfolg geblieben sind. Also wird die Sache wohl nicht so schlimm sein; anderenfalls würde das Ministerium sich ja geradezu eines Staatsverraths schuldig machen. Mit dem frechen Gebahren aber einzelner polnischer Beamten dieser Bahn mag es schon seine Richtigkeit haben. Rigasche Zeitung 31. August 1884 Shitomir. Die Zeitung Wolyn bringt ziffermäßige Nachrichten über die in Wolhynien A c k e r- b a u t r e i b e n d e n J u d e n. Im Kreise Shitomir beschäftigen sich von Juden nur 56 mit dem Landbau, im Kreise Nowograd-Wolynsk von nur 23 und im Kreise Dubno von , von letzteren treiben aber 280 eigentlich nur Gartenbau. Nach den amtlichen statistischen Daten beschäftigen sich im ganzen Gouvernement nur 93 jüdische Familien (550 Seelen) mit dem Landbau. Die von ihnen bewirtschaftete Bodenfläche beläuft sich auf (?) Dessätinen, für welche sie 338 Rbl. 60 Kop. Loskaufgelder zu zahlen haben. Diese 550 jüdischen Ackerbauer bilden sonach nur 0,002 pct. der gesammten jüdischen Bevölkerung des Gouvernements, die sich auf Seelen beläuft. Libausche Zeitung 9. Januar 1885 Saslaw (Wolhynien). Die "Lynchjustiz" findet, wie wir im "Herold" lesen, immer mehr Verbreitung im Kreise. Die Diebe, namentlich die Pferdediebe, werden von den erbitterten Bauern entweder sofort ermordet oder auf die grausamste Weise gemartert, falls sie in die Hände der Bestohlenen fallen. Gewöhnlich werden dem Delinquenten Arme und Beine ausgedreht, oder es werden ihm die Finger gebrochen; bald schneidet man ihm Nase und Ohren ab. Dieses Verfahren wird aber nur gegen die kleinen Diebe angewandt, die großen läßt man, wie schon das Sprichwort sagt laufen, da man sie Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 57
58 wie das Feuer fürchtet und Niemand es wagt, mit ihnen Händel anzufangen und jeder ihnen aus dem Wege geht. Die berüchtigsten Räuber werden von den Bauern im Gegentheil bewirthet und jederzeit aufs Beste empfangen. Wer wollte es auch wagen, einen jener Matadore unter den Räubern zu bestrafen, die fürchterlichste Rache würde ihn treffen. Unlängst, so erzählt die "Sarja", ertappten die Bauern des Dorfes Radoschowka einen Pferdedieb und beschlossen denselben mit Feuer zu peinigen. Der Dieb ward entkleidet. Es wurde ihm nun der Körper mit brennenden Strohbüscheln gebrannt, sodann zwangen sie ihn, mit bloßen Füßen auf glühendem Eisen zu stehen. Endlich gab er seine Helfershelfer an. Er erklärte, er befasse sich eigentlich nicht mit Pferdediebstahl, sondern er pflege die Schweife der Pferde abzuschneiden und dieselben sodann an Möbelfabrikanten zu verkaufen. Die Helfershelfer des Diebes wurden festgenommen und gleichfalls zwei Tage gepeinigt, bis die Behörden einschritten. Libausche Zeitung 16. Februar 1885 Shitomir. Wie schwer die Geißel des Pferdediebstahls auf dem Volke lastet, mögen die nachstehenden der deut. St. Pet. Z. entnommenen Ziffern darthun, die sich nur auf unseren Südwesten beziehen. Nach offiziellen Daten wurde im Laufe von drei Jahren allein im Gouvernement Podolien und Wolhynien den Pferdebesitzern ein Schaden von Rbl. zugefügt, was also für ein Jahr über Rbl. ausmacht. Jede andere Art von Diebstahl ist weniger verderblich für den Bauern, der häufig geradezu ruinirt ist, wenn ihm sein Arbeitsvieh gestohlen wurde. Die Untersuchungs- und Friedensrichter sind mit Pferdediebstahlssachen förmlich überschüttet. Allein im Gouv. Podolien zählte man solcher Sachen im Jahre 1878: 2650; 1879: 2519, 1880: Davon wurden entschieden 1878: 653, 1879: 629 und 1880: 663. Im Gouvernement Wolhynien gelangten allein an die Friedensrichter im Laufe dieser drei Jahre 859 derartige Klagen, von denen zwar 779 entschieden wurden, aber nur in 213 Fällen konnte eine Verurtheilung der Schuldigen eintreten. Die allermeisten Klagen verlaufen also im Sande wegen Unzulänglichkeit der Beweise. Libausche Zeitung 8. Mai 1885 Kremenez (Gouv. Wolhynien). Die Zeitung Wolyn meldet, daß in diesen Tagen mit der Stadt Kremenez, auf deren Territorium sich erhebliche S t e i n k o h l e l a g e r befinden, der Warschauer Kaufmann 1. Gilde Julius Penkali einen Contract über den Abbau dieser Kohlenlager geschlossen hat. Dieser Unternehmer ist in der Kohlenbranche wohl erfahren und außerdem in finanzieller Beziehung so solide, daß die Sache kaum besseren Händen anvertraut werden kann. In den Bergen um Kremenez sind auch sonst allerlei nützliche Mineralien durch Fachleute constatirt worden. Jetzt ist man mit den Vorarbeiten zum Bau einer Eisenbahn beschäftigt, die Kremenez mit der Radziwillowschen Zweigbahn (Kiew-Brest) verbinden soll. Im Auslande und in den Bergbaudistrikten Polens werden erfahrene Bergleute angeworben. Die Kremenezer Kohle wird ein weites Absatzgebiet haben. Abnehmer wären zunächst die ca. 200 Zuckerfabriken unseres Landes, die jetzt ihre Kohlen vom Don und zum Theil sogar vom Auslande beziehen, ferner die Südwest- Bahnen und endlich auch Odessa, wohin unsre Kohle zum Preise von höchsten 14 Kop. gestellt werden kann, während sie dort nicht unter Kop. pro Pud Absatz finden dürfte. Schon Ende dieses Monats soll die Kohlenförderung energisch in Angriff genommen werden. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 58
59 Libausche Zeitung 24. August 1885 In Wolhynien werden g a n z e S t ä d t e auf dem Wege der gerichtlichen Subhastation v e r- k a u f t! So bringt die Kiewsche Gouv. - Ztg. eine officielle Bekanntmachung darüber, daß die Kreisstadt S t a r o k o n s t a n t i n o w mit ihren vier Vorstädten von Gerichts wegen verauctioniert werde. Die Stadt ist das Eigenthum der Fürstin A. Abamelek und wird nun zur Tilgung einer Bankschuld von Rbl. und diverser Privatschulden im Gesammtbetrage von Rbl. verkauft. Die Stadt ist auf Rbl. geschätzt. Uebrigens ist dieses nicht das erste Beispiel, daß in Wolhynien Städte unter den Hammer gebracht werden. Rigasche Zeitung 12. September 1885 Petersburg. Vor Kurzem berichteten russische Blätter, daß die Stadt S t a r o k o n s t a n- t i n o w (Gouvernement Wolhynien" auf Antrag der Gläubiger der Besitzerin derselben, der Fürstin Abamalek, öffentlich versteigert werden solle. In Veranlassung einer deartigen nicht ganz gewöhnlichen Action hat ein gewisser Herr Abramow in der "Redelä" herausgerechnet, daß im südwestlichen Gebiete gegenwärtig acht Kreisstädte Privatpersonen gehören. In diesen Städten (Berditschew, Lipowez, Starokonstantinow, Sasslawl, Dubno, Jampol und Ostrog) befindet sich eine Bevölkerung von ungefähr Seelen. Aus der Gesammtsumme der Gehöfte oder einzelnen bebauten Grundstücke in diesen Städten gehören blos 19 pct. den Hauswirthen als volles Eigenthum, die übrigen 82 pct. gelten für das Eigentum der Wladelzy (Besitzer) der Städte und befinden sich nur in der ewigen Nutznießung der Wirthe. Je nach den einzelnen Städten schwankt dieses Verhältniß zwischen den beiden Kategorien von Gehöften beträchtlich; besonders ungünstig ist es in Dubno, wo die Höfe der Wladelzy 96 pct. der gesammten bewohnten Besitzlichkeiten ausmachen. Ostrog (99 pct.) und in Berditschef (99,6 pct.). Außer den Gehöften gehört den Wladelzy gleichfalls das Acker- und Weideland der Städte und schließlich sogar noch die städtischen Plätze und Straßen. Wie beträchtlich die von diesen Städten an die Wladelzy zu zählenden Summen sind, kann man daraus ersehen, daß Berditschew allein gegen Rbl. einträgt. In analoger Lage mit den Städten der Wladelzy befinden sich die Flecken im Besitz von Privaten. Solcher Flecken giebt es im südwestlichen Gebiete 322 (97 im Kiewschen Gouvernement, 118 im Wolhynischen und 107 im Podolischen). Die Lage der Einwohner dieser Flecken unterscheidet sich von derjenigen der Insassen der im Privatbesitz sich befindenden Städte blos darin, daß die Gefälle in den ergeren bedeutend höher sind. Zur Beseitigung dieser abnormen Zustände, die sich seit den Zeiten der polnischen Herrschaft her in dem Gebiete erhalten haben, sind Versuche gemacht worden, aber welcher Art? Die Besitzer Berditschews haben der Einwohnerschaft vorgeschlagen, sich für Rbl. "loszukaufen". ( ) Libausche Zeitung 25. Oktober 1885 Shitomir. Die hiesige B e a m t e n w e l t ist, wie man der Zeitung Wolhyn schreibt, in Aufregung. Der Gouverneur von Wolhynien hat nämlich aufgrund eines zu Ende des vorigen Jahres vom Minister des Innern erlassenen Circulairschreibens angeordnet, daß alle in den verschiedenen Behörden des Ministerium des Innern dienenden, etatmäßige Aemter bekleidenden Beamten ohne Klassenrang in festgesetzter Frist die Prüfung zur Erlangung des ersten Ranges zu bestehen haben. In Folge dessen pilgern die Beamten, um nicht ihre Stellen zu verlieren, in Massen zum Gymnasium, um sich dort der Prüfung zu unterziehen. Es befinden sich darunter Familienväter in sehr Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 59
60 vorgerücktem Alter, deren Kinder eben dasselbe Gymnasium besuchen und den Cursus in demselben bereits beendet haben. Trotzdem die Examinatoren sich milde verhalten und keine zu hohen Anforderungen stellen, sind Einige bereits durchgefallen. Rigasche Zeitung 31. Oktober 1885 Shitomir, 26. Oktober. Trotzdem wir uns bereits im Spätherbst befinden, haben in unserem wolhynischen Gouvernement die F e u e r s c h ä d e n noch nicht ihren Abschluß gefunden. Auch im laufenden October-Monat b r a n n t e n in unserem Gouvernement z w e i F l e k k e n n i e d e r, und zwar zuerst L j u b a r und hernach W e s c h n e w e z im Kreise Kremenice. Wiederum sind ca. 200 Familien brod- und obdachlos geworden. In Ljubar hat ein gewisser Herr V. Litwin eine Collecte veranstaltet und ca. 800 Rbl. für die Abgebrannten bereits gesammelt, während aus Weschnewez ein Appell an die öffentliche Wohltätigkeit ergangen ist. Libausche Zeitung 5. November 1885 Die V i e h s e u c h e im Gouv. Podolien nimmt jetzt zusehends ab, neue Erkrankungsfälle kommen in einigen Fällen gar nicht mehr vor, in anderen, wo die Seuche am Stärksten auftrat, sind die Erkrankungen bedeutend geringer geworden. Z. B. sind in den letzten 8 Tagen in den Kreisen: Kanew, Shitomir und Ostrog circa 30, Dubno und Nowogradwolynsk circa 10 neue Fälle zu verzeichnen. In allen 7 Kreisen des Gouvernements sind gegenwärtig ca. 100 Stück Rinder an der Seuche erkrankt. Rigasche Zeitung 15. November 1885 (Anzeigenteil) Pächter gesucht. Für ein Gut in Wolhynien, am Horyn gelegen, 20 Werst von der Südwest-Bahn und Kreisstadt, 300 Dess. Ackerland, durchweg Humus- und Weizenboden, 150 Dess. Heuschläge, wovon 50 Dess. jährlich überschwemmt (Ueberfluß an Heu ergibt jährlich ca. 800 Rbl.), reichliche Weide im Walde von 1000 Dess. Umfang, Branntweinbrennerei im Gange, Netto-Einkünfte: Brennerei 1000 Rbl., Schänke 200 Rbl., Zinspflichtige 100 Rbl. Arbeitskräfte sehr billig. In der Umgegend viele deutsche Colonisten. Pachtdauer 12 Jahre. Pachtzins jährlich 3500 Rbl. Reflectanten belieben sich zu wenden an L. Feigenblatt in Warschau, Mazowiecka Nr. 6. Libausche Zeitung Shitomir. S c h ä n d l i c h m i ß b r a u c h t e r A b e r g l a u b e. Dem Kur. Warsz. wird folgende unglaublich klingende Geschichte erzählt. Es ist im Wolhynischen ebenso wie anderswo der Glaube verbreitet, der Strick, mit dem sich Jemand erhängt hat, sei ein Talisman und bringe dem Besitzer Glück. Es kommt daher vor, daß abergläubische Leute Stücke solcher Schnüre oder Stricke mit schwerem Geld bezahlen. Ein gewisser Dimosei Griz machte sich solchen Aberglauben zu Nutzen, indem er Stücke zollweise zu 2, 3 auch 5 Rbl. pro Zoll verkaufte. Um seine Kunden zu versichern, daß die betreffenden Talismane wirklich von Erhängten herrühren, führte er sie in den Wald, wo er ihnen von Ferne einen Erhängten zeigte. Man machte die Polizei auf den Unfug aufmerksam und da stellte es sich heraus, daß der genannte Griz eine niederträchtige Schändung von Leichen betrieb, welche er aus ihren auf dem im Walde belegenen Friedhof befindlichen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 60
61 Gräbern herausscharrte und dann aufknüpfte, um auf diese Art aus der Dummheit und Leichtgläubigkeit ungebildeter Menschen Kapital zu schlagen. Libausche Zeitung, 15. Mai 1886 Die V i e h s e u c h e zu unterdrücken scheint absolut unmöglich zu sein. In Folge höheren Befehls wurden vor einigen Wochen alle disponiblen Kräfte in die Kreise Dubno, Rowno, Nowgradwoynsk etc. abkommandirt, um mit aller Energie die Seuche auszurotten, was aber bis jetzt nur von geringem Erfolg begleitet war. Libausche Zeitung 3. Juni 1886 Brizk (Gouv. Wolhynien) Vor einigen Tagen entstand, wie der Rig. Z. unter dem 26. Mai berichtet wird, hier aus unbekannter Ursache in einer Bude Feuer, da so rapid um sich griff, daß binnen drei Stunden die ganze Stadt ein Raub der Flammen wurde. Im Ganzen brannten nieder circa f ü n f- h u n d e r t W o h n h ä u s e r sammt Nebengebäuden, allen Geschäftslocalen, sowie allen Waaren, Hausgeräthen u.s.w. Ja, sogar Alles, was man aus den brennenden Häusern und Buden rettete, wurde später auf dem Marktplatze gleichfalls ein Raub der Flammen. Leider sind auch Menschenleben zu beklagen. 2 Kinder sind total verbrannt und 5 Erwachsene trugen solche Brandwunden davon, daß die Aerzte jede Hoffnung auf Genesung derselben aufgeben und ca Familien, die sich bis hiezu durch eigenen Erwerb anständig zu ernähren vermochten, sind plötzlich brod- und obdachlos geworden. Libausche Zeitung 15. August 1886 Wie der Kijewljanin berichtet, ist in den südlichen Theilen des Reiches eine Gespanntheit in dem Verhältnisse zwischen der russischen Bevölkerung und den deutschen Kolonisten bemerkbar. Im Kreise Shitomir sind z.b. unter der Bevölkerung Gerüchte verbreitet über einen bevorstehenden Angriff auf sie seitens der deutschen Kolonisten und über den Fund eines Arsenals unweit des Fleckens Ushomir. Die Nachricht von dieser Entdeckung hatte die Runde durch die Provinzialblätter gemacht, ohne von irgend welcher Seite dementirt zu werden. Der Kijewljanin schreibt: Die Beziehungen der hiesigen Bevölkerung sind nicht allein zu den Deutschen, sondern überhaupt den Kolonisten gegenüber äußerst gespannt, die Czechen nicht ausgenommen, übrigens sind diese letzteren verhaßt, nicht weniger als die örtlichen Juden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich, wenn es einmal zu einem ernsten Konflikte zwischen Rußland und Deutschland kommt, unter der hiesigen Bevölkerung eine Menge Leute finden werden, die unter verschiedenen Vorwänden, vom uneigennützigen Patriotismus bis zur niedrigsten Habsucht, das Volk gegen die Deutschen und Juden aufhetzen werden. Gegen die Deutschen würde man ihre feindliche Stellung anführen, die Juden aber einfach der Verrätherei und Spionage bezichtigen. Das genannte Blatt ist über die Stimmung der Bevölkerung, die zu Befürchtungen Veranlassung giebt, ernstlich beunruhigt. Rigasche Zeitung 10. Oktober 1886 Rowno. Ueber eine neue Eisenbahnkatastrophe wird dem "Pet. List." aus Rowno im Gouvernement Wolhynien Folgendes geschrieben: Wir haben jetzt auch eine Katastrophe gehabt und zwar eine schreckliche. Sie fand vor einigen Tagen auf der unlängsst beendeten Wilna- Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 61
62 Rownoer, von der Regierung erbauten Linie der Polessjeschen Bahnen statt. nachdem der Güterzug, der aus 32 Güterwagen und offenen Platformen bestand, früh morgens von Wilna abgegagen war und wohlbehalten die Station "Wysozk" passirt hatte, spürten das Eisenbahnpersonal und die diesen Zug benutzenden Arbeiter (Bauern) anfangs starke Stöße, die sich rapid verstärkten; dann aber, nach einigen Secunden, hörten sie ein schreckliches Getöse; - es erfolgte ein Krachen und man hörte ein herzzerreißendes Geschrei. Die Locomotive und der Tender waren in einem Augenblick entgleist und sofort seitwärts von dem hohen Damm gestürzt, an denen die Polessjeschen Bahnen so reich sind. Da der Zug zur Zeit ziemlich schnell fuhr, war, noch ehe der Oberconducteur des Zuges und die Conducteure sich orientiren und begreifen konnten, um was es sich handele, schon mehr als die Hälfte der bedeckten Güterwagen und der Plattformen des Zuges vom 2 Faden hohen Damm den Abhang hinabgestürzt, beim Fallen mit Krachen zersplitternd. Dem Maschinisten gelang es, während die Maschine hinabfiel, noch rechtzeitig abzuspringen und zwar so glücklich, daß er mit leichten Verletzungen und Schrammen davonkam. Sein Gehilfe aber und ein Arbeiter wurden auf der Stelle getödtet, der Oberconducteur blieb unverletzt, während zwei Conducteure, der Heizer, der Conducteur an der Bremse, der Bahnwärter, der während der Katastrophe am Platze war, und einige der im Zug befindlichen Arbeiter mehr oder weniger verletzt wurden; einige derselben leben freilich noch, doch ist ihr Leben in Gefahr. Dieser Zug transportirte außer diversen Waaren auch eine Partie Pferde, die ebenfalls Opfer der Katastrophe wurden; zehn derselben blieben todt am Platze, fast alle übrigen sind aber derartig verstümmelt, daß sie wohl kaum noch irgend welchen Nutzen werden bringen können. Einge Güterwagen, die am Ende des Zuges placirt waren, bleiben unversehrt, alle übrigen, die vom Damm den Abhang hinabstürzten, sind zertrümmert. Fast alle Waaren, die mit dem Zuge transportirt wurden, sind derart beschädigt und verdorben, daß sie unbrauchbar sind. Die materiellen Verluste belaufen sich nach oberflächlicher Schätzung auf nicht weniger als Rbl. Die Ursache des Unglücksfalles ist bis jetzt unbekannt, doch sind zur Aufdeckung derselben die betreffenden Gerichts- und Eisenbahnautoritäten schon eingetroffen. Die Entgleisung fand zwischen den Stationen "Wysozk" und "Wybybor", unweit der Stadt Rowno (Gouv. Wolhynien) statt; auf dem Schauplatz der Katastrophe sind der Schienenweg und der Bahndamm derart verdorben, daß der ganze Verkehr auf mehr als 24 Stunden hat eingestellt werden müssen. Libausche Zeitung 24. Oktober 1886 In vielen Gegenden Rußlands findet man deutsche Colonien, die einen deutschen Namen tragen. Auf Veranlassung des Generalgouverneurs von Kiew ist, wie der Now. Wr. mittheilt, im Gouvernement Wolhynien angeordnet worden, daß 17 deutsche Kolonien, welche außer einem fremden Namen auch noch einen russischen, bei der örtlichen russischen Bevölkerung gebräuchlichen führen, hinfort nur die russische Benennung führen sollen. 38 anderen deutschen Ansiedlungen sind statt der bisherigen deutschen Namen neue russische beigelegt worden, mit welchen sie in Zukunft überall bei jeglicher amtlichen Korrespondenz, überhaupt in allen amtlichen Beziehungen allein genannt werden dürfen. Rigasche Zeitung 26. November 1886 S h i t o m i r. (Gouv. Wolhynien). Wie dem M. L. berichtet wird, verstarb dieser Tage in der Nähe von Rowno im Alter von 110 Jahren die Bäuerin Kutnjak, die sich in den Jahren als M a r k e t e n d e r i n bei einem Truppentheile N a p o l e o n s befunden hatte. Im Jahre 1815 diente sie in derselben Eigenschaft in der polnischen Armee; von 1832 bis 1854 lebte sie in Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 62
63 Paris und kehrte erst nach dem Krimkriege in ihre Heimath zurück. Die Verstorbene erfreute sich bis zu ihrem Tode der besten Gesundheit. Libausche Zeitung 26. Februar 1887 S c h e i n t o d t. Dem Kur. Warsz. meldet man aus Kowel folgenden Fall: Im Dorfe Koslice starb plötzlich die Frau des örtlichen Administrators R. im Alter von 23 Jahren. Der Leichnam der Verschiedenen wurde einige Stunden nach dem Tode in der Ortskapelle auf einem entsprechend aufgestellten Katafalk niedergelegt. Als man am anderen Tage, nach Ankunft des Priesters, welcher eine Messe für die Verstorbene lesen sollte, die Kapellenthür öffnete, bemerkte man mit Schrecken, daß der Sarg leer war, die Verschiedene aber auf den Altarstufen lag. Im ersten Augenblick nahm man eine Profanation an, als man aber die auf den Altarstufen liegende Frau betrachtete, bemerkte man schwache Lebenszeichen. Die Frau muß also selbst den Sarg verlassen haben, nachdem sie aus ihrer Lethargie erwacht. Es gelang zwar, die Unglücke zum Leben zu bringen, doch kann man nichts von ihr erfahren, da sie die Sinne verloren hat. Libausche Zeitung 20. Juni 1887 Wolhynien. H ä u f i g e H a g e l s c h l ä g e haben dem Hrld. zufolge in letzterer Zeit den Feldern und Gärten großen Schaden zugefügt, der sich auf mindestens Rbl. beziffert. In einzelnen Kreisen sind mehr als 4500 Dessjatinen Getreideland fast ganz verwüstet. Allein in sechs Dörfern des Rowensker Kreises ist Getreide im Werthe von bis Rubel vernichtet worden, wodurch 209 Bauerfamilien ohne Brot bleiben. Rigasche Zeitung 25. Juli 1887 Ein Stückchen Wolhynien. Einem uns freundlichst mitgetheilten Privatbriefe eines Rigensers, der seinen Ferienaufenthalt auf einem Gute im Gouvernement Wolhynien genommen hat, entnehmen wir folgende interessante Schilderung: Der Theil Wolhyniens, der uns für die Ferien Gastfreundschaft gewährt, ist echt kleinrussischen Charakters, wie er denn auch geographisch dicht an Kleinrußland grenzt, ihm gewissermaßen zur linken Hand angetraut ist: unsere Gegend weit und breit trägt genau die Züge ihrer russischen Mutter und des polnischen Vaters. Kleinrussisch sind die Dorfschaften mit ihren typischen Pyramidenpappeln und dem Flechtwerk um jedes von Birnen-, Pflaumen und Kirschbäumen umhegtes Gehöft; kleinrussisch der Menschenschlag mit seinen mageren, zähen, wohlgebauten Gestalten und wohlgeformten gutmüthigen Gesichtszügen; sehr an kleinrussisch streift die Sprache, das Product der ehemaligen Verständigung zwischen der russischen Mutter und dem polnischen Vater, kleinrussisch sind Tracht und Gebräuche, ist die Art der Bearbeitung des schweren Bodens vermittelst eines Zweigespanns von kräftigen Ochsen, während die mittelgroßen Pferde nur zu leichteren Feldarbeiten, vor der Egge etc. und zum Fahren, wo es auf Schnelligkeit ankommt, benutzt werden; kleinrussisch die Producte der Felder: Roggen, Weizen in üppiger Fülle und Güte, Gerste, die sehr geschätzte Hirse, Erbsen, Buchweizen, Hafer, hier und da Flachs, ferner die Producte der eingehegten Gärten: Mohnen, Mais, Tabak, Hopfen etc. Zwar fehlen noch Steppen, dafür aber giebt s allenthalben ausgedehnte Weideplätez (da im Norden die Pripetniederungen noch bis hierher reichen) und kräuterreiche, große Erträge liefernde Wiesen (da die Ausläufer der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 63
64 Karpathen von Westen und die letzten Stufen des rechten Dneprufers von Osten her sich geltend machen). Die Ergiebigkeit des Bodens (die diesjährige, zu einem großen Theil schon eingebrachte Ernte ist trotz anfänglicher Hagelschläge eine sehr lohnende) hat das Landvolk ein wenig träge gemacht, so daß selbst in der bewegtesten Erntezeit Männer und Weiber selten vor 8 Uhr auf Wiese und Feld sich begeben und, je nach der Entfernung, die eigentliche Arbeit oft erst um 9 Uhr und später in Angriff nehmen. Die Arbeit wird dann allerdings nach kurzer Mittagsruhe ohne weitere Unterbrechung bis Sonnenuntergang, also bis 9 resp. 8 Uhr Abends fortgesetzt. Man strengt sich dabei nicht besonders an, schwatzt, tändelt, neckt sich, namentlich wenn man sich zur Hilfeleistung auf fremden Wiesen und Feldern verdingt. Der Lohn variiert zwischen 20 und 40 Kop. pro Tag, und zwar gelten die höheren Lohnsätze nur beim Getreideschnitt für beide Geschlechter gleichmäßig. Mäßig wie in der Arbeit sind die Leute zum Glück auch im Genuß. Höchst selten sieht man hier einen Betrunkenen, obzwar jedes Dorf eine Schänke hat und ich 16 große Dörfer kennen gelernt habe. Die ohnehin sehr einfache Nahrung des Landmannes sinkt hier, bei der strengen Einhaltung der Fasten und bei der ungeheuren Zahl von Fasttagen (mehr als die Hälfte sämmtlicher tage im Jahr), auf die schmalste Gefängniskost herab, d.h. buchstäblich auf Wasser und Brod. Die Bauern sind streng orthodox, was sie aber nicht hindert, jene an der Straße stehenden, mehr als haushohen Kreuze polnischen Andenkens mit einer Pietät zu cultivieren, daß selbst die russische Geistlichkeit darüber ein Auge zudrückt und zufrieden ist, wenn oben an der Spitze ein byzantinisches Kreuzlein aus Eisen angebracht wird. Neue Kreuze aufzurichten, ist allerdings streng untersagt, und doch geschiehts heimlich, bei nächtlicher Weile, und Jeder thut, als ob das in den Himmel ragende Eisengebälk immer da gestanden hätte. Wie in Riga der große Christoph, so erscheinen hier diese Wahrzeichen in unerreichbarer Höhe oft mit bunten Tüchern, Schürzen und Bändern geschmückt, und wiederum ist die Furcht vor dem Verbot des Erneuerns so groß, daß mitunter so ein Riesenkreuz lebensgefährlich windschief vor einem Hause steht, ohne daß ihm aufgeholfen wird. Unwillkürlich duckt man sich, wenn man unter dem bedenklich geneigten Eichenkoloß hinfährt, und mit Bangen sieht man die Kinder in ihren langen Hemdchen sorglos dicht unter der täglichen Gefahr spielen. Diese Kinder sind durchweg auffallend hübsch: lockige Köpfchen, breite Stirnen, feine Nasen, ausdrucksvolle, aber schon in dieser frühen Jugend melancholische Augen. Fröhliches Lachen hört man unter ihnen selten. So enthaltsam, wie in der Arbeit und im Genuß, sind die Leute auch in ihren Belustigungen. Charakteristische Spiele scheinen sie nicht zu kennen. Der prächtige russische Chorowod kommt hier gar nicht vor. Manchmal versammelt sich Abends vor einem Hause, dessen Tochter auf die Bursche eine Anziehungskraft ausübt, ein Häuflein, und Chlopez und Diwtschina singen dann eine införmige Melodie zu der primitiven Fiedel irgend eines musikalischen Dorfgenies. Nirgends in Rußland habe ich so wenig Sangweisen angetroffen, wie gerade hier, eine Erscheinung, die vielleicht als einzige auffallende Abweichung von kleinrussischem Charakter gelten kann. Was von Feldarbeiten Abends heimkehrt, singt immer, und zwar singen ausschließlich nur die Frauen und Mädchen, aber aus welchen Richtungen die verschiedenen Schaaren auch kommen mögen, man hört zu dem allerdings häufig improvisirten Text immer nur die eine, dieselbe melancholische und tiefliegende Weise, bestehend aus höchstens vier Tönen. Was unsere Gutsbesitzer betrifft, so sind dieselben, da ja auch in Wolhynien der Strich durch die Rechnung des Güterankaufs seitens polnischer Capitalisten gezogen ist, vorherrschend Russen. Die wenigen noch übriggebliebenen polnischen Gutsbesitzer wirthschaften nach und nach ab. Daß kein russischer Vollblutedelmann hier besitzlich ist, brauche ich wohl nicht hinzuzufügen. Alles kleine Leute, in niedrigen, dumpfen Hütten und ohne jeglichen Comfort lebend, auf die bescheidensten Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 64
65 Ansprüche adeligen Lebens verzichtend, Leute, die ihre nächsten Todten auf einem Ochsengespann zu Grabe bringen. Unsere dicht an der großen nach Odessa führenden Bahn gelegene Kreisstadt ist kurz dahin charakterisirt, daß daselbst von Freitag-Sonnenuntergang bis zum Sonnabend-Sonnenuntergang Handel und Wandel gänzlich stocken. Düna-Zeitung 12. Januar 1888 Wolhynien. Die Hopfenbauer Wolhyniens beabsichtigen im nächsten Jahr in Kiew eine Hopfenausstellung zu veranstalten. Auf dieser Ausstellung sollen die verschiedenen Hopfensorten aus den Gegenden Wolhyniens Berücksichtigung finden. Düna-Zeitung 29. Januar 1888 Kiew. Der Versuch einer Telephonverbindung zwischen Kiew und Shitomir Werst Entfernung - hat dem Пр. Выстн. zufolge die allerbesten Resultate ergeben. So hörte man nicht nur ganz genau die Stimme des Sprechenden, sondern konnte auch jede Person der Stimme nach erkennen. Ebenso vernahm man deutlich die Melodie einer Drehorgel und das Tik-Tak einer Taschenuhr. Düna-Zeitung 4. Februar 1888 Romanowka. (Gouvernement Wolhynien.) Die Schneeanhäufungen sind hier so groß, daß einem Gutsbesitzer Schafe unter dem Schnee umgekommen sind. Einer von den Einwohnern des Städtchens verspätete sich und verfehlte den Weg kurz vor seiner Hütte, er stieg aus dem Schlitten, in welchem er seine Frau mit dem kleinen Kinde zurückließ und machte sich an das Suchen des Weges. Obgleich er sich nur einige Schritte von dem Schlitten entfernt hatte, konnte er denselben nicht mehr wiederfinden. Die ganze Nacht irrte er nur einige Schritte vom Schlitten entfernt umher und stieß endlich auf eine Windmühle, welche sich ca. 100 Schritte von dem Schlitten befand. Nach herbeigeholter Hilfe und sorgfältigem Suchen fand man endlich den Schlitten und das arme Weib todt im Schnee begraben. Düna-Zeitung 9. Februar 1888 In einigen Bezirken dieses Gouvernements fallen die hungrigen Wölfe Menschen mit unbeschreiblicher Frechheit an. Unlängst überfielen sie einen Buben, welcher auf einem Einspänner einen großen Baumstamm aus dem Walde nach Hause führte. Das erschrockene Pferd riß sich los, zerbrach die Femerstangen und jagte davon. Der Bube kletterte mit dem ihn begleitenden Hunde auf den Baumstamm, welchen er auf dem Schlitten hatte, und vertheidigte sich einige Stunden mit seinem Beil gegen ein Dutzend Wölfe. Er würde erfroren sein oder eine Beute der Wölfe geworden, wenn nicht einige Bauern hinzugekommen wären, welche, beim Anblick des losgerissenen Pferdes ein Unglück ahnend, sich sofort auf den Weg gemacht hätten. Das unablässige Bellen des Hundes, welcher seinem Herren tapfer zur Seite stand, diente ihnen zum Wegweiser. Der Knabe war somit bald gefunden und aus seiner gefährlichen Lage befreit. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 65
66 Düna-Zeitung 9. März 1888 Berditschew. Viel Aufregung versursachte hier dem Kiewljänin zufolge die Arretirung des örtlichen Gutsbesitzers W. A. und des Arztes N. Die Angelegenheit verhält sich folgendermaßen: im October vorigen Jahres fühlte das 16jährige Stubenmädchen des Gutsbesitzers A. sich Mutter; da die Sache eine unangenehme Wendung für den Schuldigen haben konnte, wurde dem Mädchen eine tüchtige Dosis Phosphor eingegeben. Wie der Arzt. N. Aussagte, soll das in Oesterreich ganz gang und gäbe sein. Die Dosis war aber offenbar zu stark gewesen und das Mädchen verstarb in der Nacht und wurde am Tag darauf beerdigt. Erst als die Mutter der Verstorbenen klagbar wurde, kam es zu einer Untersuchung. Die Leiche wurde ausgegraben, wobei es sich herausstellte, daß das Mädchen im Sarge ein Kind geboren hatte. Der Arzt N. und der Gutsbesitzer A. wurden gefänglich eingezogen. Düna-Zeitung 22.September 1888 Zum Kinder- und Frauenschutz in unseren Fabriken. Das Gesetz, welches die Nachtarbeit der Frauen und Kinder in unseren Fabriken verbietet, wurde bekanntlich nur zeitweilig eingeführt. Die für die Dauer desselben festgesetzte Zeit läuft bald ab. Dieser Umstand veranlaßt die Русск. Быд. zu einem Rückblick auf die durch dieses Gesetz hervorgerufenen Aenderungen, welche in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Verdienst eingetreten sind. Für die Fabrikarbeiter hat das Gesetz sich als durchaus nicht drückend erwiesen; ebensowenig für die ganze Arbeiterbevölkerung; vielmehr hat die Beseitigung der durch die Frauen und Kinder gebotenen Konkurrenz eine Steigerung des Verdienstes der Männer bewirkt und dadurch den Wegfall des geringen Verdienstes der Frauen und Kinder aufgewogen; und die Frauen besorgen außerdem jetzt zahlreiche häusliche Arbeiten, zu denen ihnen früher die Zeit mangelte. Selbst die eifrigsten Gegner gesetzgeberischer Einschränkungen der Frauen- und Kinderarbeit auf den Fabriken stellen - so schreibt das Blatt weiter den gewaltigen physischen, moralischen und geistigen Schaden nicht in Abrede, den die Nachtarbeit der Frauen und Kinder nach sich zieht, welche nicht nur die jetzige, sondern auch die künftigen Generationen entartet. Das in der Nachtarbeit der Frauen und Kinder enthaltene soziale Uebel liegt zu sehr auf der Hand, als daß man weitere Beweise für ein Vorhandensein und die Notwendigkeit dasselbe einzuschränken, aufzuführen brauchte. Jeder Schritt unserer Gesetzgebung in dieser Richtung wird stets den dringendsten Bedürfnissen des Gemeinwohles in ganz Rußland entsprechen. Das Blatt ist daher der Ansicht, daß das Gesetz auch in Zukunft aufrecht erhalten werden muß. Libausche Zeitung 10. November 1888 (Auszug) Aus dem Süden des Goldingenschen Kreises schreibt man dem Rig. Tgbl. unter dem 7. November. ( ) Aus dem Gouvernement Wolhynien, in welches einige Landleute aus hiesiger Gegend im Frühling dieses Jahres zogen, ist hier ein Werber aufgetreten und beredet das Landvolk zum A u s w a n d e r n nach jenem südlichen Gouvernement. Ob ihm Viele folgen werden, wird die Zeit lehren; fehlen an Leuten, die der Heimath den Rücken kehren, dürfte es ihnen wohl nicht. Libausche Zeitung 13. Januar 1889 Berditschew. E i n K ä m p f e r g e g e n d i e T r u n k s u c h t. Wohl in keinem Bezirk, so schreibt ein Korrespondet des Kiewljanin, hat die Branntweinpest so enorme Dimensionen angenommen, wie in dem unsrigen. Bei uns trinkt Alt und Jung; sogar die Bauernweiber sitzen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 66
67 beständig in der Schenke. Der Bauer vertrinkt sein letztes Hab und Gut. In dem Dorfe Psjarowka lebt ein Schulmeister, der mit unsäglicher Mühe gegen diese allgemeine Krankheit ankämpft. Oft ist er gezwungen, Abends und an Feiertagen in die Schenke zu gehen und mit Gewalt aus derselben seine Schüler und andere Kinder zu entfernen. Gegenwärtig hat der Schulmeister täglich Abendvorträge in der Schule für Erwachsene eingerichtet. Anfangs schienen die Bauern wenig Lust zu haben, in die Schule zu gehen, jetzt aber, dank der Organisation des Kirchenchores, welche bei den Abenden singt, kommen die Bauern immer öfter und öfter. Der Schulmeister giebt in seinen Vorträgen den Bauern Anweisung, wie sie ihre Kinder erziehen sollen, beweist ihnen die schädliche Wirkung des Alkohols auf den Menschen u.s.w. Im nächsten Frühjahr gedenket der Schulmeister eine Muster-Bienenzucht einzurichten, um die Bauern mit diesem Zweige der Landwirthschaft bekannt zu machen. Goldingensher Anzeiger 25. März 1889 Mit Wolhynien ist es, wenigstens was die hiesigen Knechte anbetrifft, für dieses Jahr ganz aus. Sie alle, die dahin zu gehen beabsichtigten, bleiben zurück, weil sie, ob mit oder ohne Grund, erfahren haben, es erwarte sie dort eitel sandiger Boden. Libausche Zeitung 12. April 1889 (Auszug) Bekanntlich hat die Aktiengesellschaft Berliner Holz-Comptoir schon seit mehr als zwei Jahrzehnten ihre Thätigkeit auch auf Rußland ausgedehnt, wo sie in den holzreichen Gouvernements Minsk, Grodno und Wolynien und dem Zarthum Polen Forsten im Gesammtumfange von da Dessjatinen besitzt. Auf eigenen Sägewerken wird das Holz an Ort und Stelle verarbeitet und zwar zu Eisenbahnschwellen, welche an viele russische und auch westeuropäische Eisenbahnen geliefert werden, ferner zu Parkets, während das vorzügliche Eichenholz aus den kaiserlichen Forsten ein prima Material zu Dauben von Weinfässern liefert, welche von jeher fast ausschließlich nach Frankreich exportiert wurden. Die Gesellschaft verladet jährlich ca Waggons und beschäftigt Arbeiter, welche ebenso wie Beamten, mit Ausnahme einiger Fachleute, russischer Nationalität sind. ( ) Rigasches Amtsblatt 6. Mai 1889 Nichtoffizieller Theil. Das Ministerium der Volksaufklärung hat, wie die Moskowskija Wedomosti mittheilen, verfügt, daß in allen Schulen der deutschen Colonien in Wolhynien, welche im vorigen Jahre dem Ministerium unterstellt wurden, der Elementarunterricht im Lesen und Rechnen in russischer Sprache ertheilt werde. Der Unterricht in deutscher Sprache soll sich auf das Erlernen von Gebeten und für die Vorbereitung zur Confirmation nötigen Katechismusstücke, sowie den Gesang beschränken. Düna-Zeitung 20. Mai 1889 Starokonstantinow (Gouv. Kamenez-Podolsk). Der Zeitung Волынь wird von hier über eine seltene edelmüthige Handlung eines Juden berichtet: in den 60er Jahren, während der Zeit des polnischen Aufstandes, lebte in Starokonstantinow eine Gutsbesitzerin, die ein Brustkind hatte; jene unruhigen Zeitverhältnisse bewogen nun die Gutsbesitzerin aus ihrem Hause zu fliehen. Da es unmöglich war, das Kind auf ihrer Flucht mitzunehmen, legte sie es mitten auf freiem Felde an der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 67
68 Landstraße auf den Boden, sowie ein Kreuz und einen Brief mit 100 Rbl. neben dasselbe; in dem Brief sagte sie, das Kind sei getauft, nannte den Vor- und Familiennamen desselben und bat denjenigen, der es fände, es in seine Obhut zu nehmen. Es traf sich, daß ein kinderloser Jude des Weges fuhr, den Findling aufnahm und ihn, ohne Jemandem seine Herkunft zu verrathen, im mosaischen Glauben aufzog. Der Jude ließ seinen Pflegling die Tischlerei erlernen und verheirathete ihn, als er so alt geworden war, mit einer Jüdin. Der Pflegling des Juden wurde im Laufe der Zeit selbst Vater seiner zahlreichen Familie und führte eine selbstständige Wirthschaft. Durch seine Ehrlichkeit und Akkuratesse erwarb er sich das volle Vertrauen eines Gutsbesitzers, der ihn aufforderte, sich auf seinem Gute niederzulassen. Der Pflegevater des Findlungs war mittlerweile in Armuth geraten und entschloß sich daher zur Auswanderung nach Amerika. Zuvor aber suchte er seinen Findling auf und theilte ihm das Geheimniß seiner Herkunft ausführlich mit, wobei er hinzufügte: Du bist schon jetzt selbst Vater, hast Familie und kannst deshalb frei über Dich verfügen: entweder die Religion, in der Du auferzogen bist, behalten oder den katholischen Glauben annehmen. Da hast Du die 100 Rbl., das Kreuz und den Brief wieder, die ich an mich nahm, als ich Dich fand. Anfangs wollte der Findling von der Sache natürlich Nichts wissen, sein in dem Briefe angegebener wirklicher Name machte ihn aber stutzig, da er derselbe war, den der Gutsbesitzer trug, dessen Wohlwollen er erworben hatte. Er begab sich daher zum Gutsbesitzer, der nach Kenntnißnahme von dem Inhalte des Briefes vor Erstaunen außer sich war: es erwies sich, daß der Findling und der Gutsbesitzer leiblicher Brüder waren, deren Mutter in Warschau lebt. Goldingensher Anzeiger 10. Juni 1889 Die Stadt Ostrog, die durch ein entsetzliches Feuer zur Hälfte eingeäschert wurde, ist eine der älstensten Städte und ist wahrscheinlich im IX. Jahrhundert erbaut worden, obwohl sie in den Chroniken erst um 1100 erwähnt wird. Besonders blühte die Stadt im XVI. Jahrhundert, als hier eine Schule für die griechische und lateinische Sprache eröffnet und eine Buchdruckerei gegründet wurde, in welcher das erste Evangelium in slavischer Sprache gedruckt ward (1581). Seit 1796 gehört die Stadt Ostrog (im Gouv. Wolhynien) zu Rußland. Gegenwärtig werden in derselben Einwohner gezählt. Libausche Zeitung 17. Juni 1889 Ostrog. Ueber das u n g e h e u r e B r a n d u n g l ü c k, welches diese blühende Kreisstadt betroffen, werden der M.D.Z. folgende Details gemeldet: Am Sonntag, den 4. d. Mts. gegen 12 Uhr Mittags, da der größere Theil der christlichen Einwohnerschaft der Stadt der Andacht in den Kirchen beiwohnte, ertönte Alarmglockengeläute von mehreren Kirchthürmen und eine gewaltige Aufregung bemächtigte sich aller Anwesenden. Eiligst leerten sich die Kirchen und die Wohnhäuser und ein heilloses Durcheinander entstand in den frequentesten Stadtgebieten, über welche grausige schwarze Rauchwolken hinzogen: in dem engbebauten jüdischen Stadtviertel ging ein hölzernes Haus in mächtig auflodernden Flammen auf. Mit der größten Spannung erwartete man die Ankunft der Feuerwehr, denn sonst war keine Möglichkeit vorhanden die benachbarten Gebäude zu retten. Als endlich die erste Wassertonne auf der Brandstätte anlagte, da war mit menschlichen Mitteln nicht mehr zu helfen. Die Gluth war so groß, daß sich kein Mensch mehr in die erforderliche Nähe wagen konnte. Alle ergriffen die Flucht, scheinbar von den rasch um sich greifenden Flammen verfolgt. Nun erreichte das Feuer den Markt mit der Unmasse trockener Holzbauten, die sämmtlich binnen wenigen Minuten eingeäschert wurden. Durch die vom Winde auf weite Entfernungen hinüber gewehten Funken fingen auch auf der andern Seite der Stadt einige Häuser Feuer, so daß Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 68
69 von nun an von zwei Enden sich die Flammenmassen näherten, um nach kurzer Zeit zu einem einzigen ungeheuern Flammenmeere zu werden. Alles das ging mit so rasender Geschwindigkeit von statten, daß nach dem Verlaufe von einer Stunde bereits die ganze Stadt in Flammen stand. Der grausigste Moment war der Einsturz der hohen Kuppel der von den Flammen ergriffenen großen katholischen Kirche. Bis zum Abend lag der ganze bessere Stadttheil in Asche und Trümmern; mit dem Anbruche der Dunkelheit pflanzte sich das Feuer auf die von der armen Bevölkerung bewohnten Vorstädte über, wo es noch bis zur frühen Morgenstunde hauste. Von der ganzen Einwohner zählenden Stadt sind nur einige wenige Gebäude übrig geblieben, namentlich solche, die von Gärten und sonstigen Baumanlagen umgeben sind Alles in allem vielleicht der zehnte Theil der Stadt. Durch den Brand sind über Menschen obdach- und vollständig mittel- und erwerbslos geworden. Die Noth der armen Bevölkerung spottet aller Beschreibung. Am 5. d. Monats in der Frühe langten aus den benachbarten Orten Feuerwehren an, doch blieb ihnen nichts nichts mehr zu thun übrig. Von der uralten Stadt Ostrog ist nun so viel wie gar nichts übrig geblieben. - Es ist zu bemerken, daß etwa vor zehn Jahren die dicht bei Ostrog gelegene Stadt Rowno ebenfalls von einer fürchterlichen Feuerstbrunst heimgesucht wurde, der sie fast vollständig zum Opfer fiel. Libausche Zeitung 18. Oktober 1889 Rowno, Gouv. Wolhynien. G e h e i m e B r a n n t w e i n b r e n n e r e i. Wie der Kiewl. berichtet, wurde dieser Tage in Rowno in einem unbewohnten Hause eine geheime Branntweinbrennerei entdeckt. Die Brennerei war mit allen nothwendigen Apparaten versehen und, als die Polizei erschien, in vollem Betrieb. Der vorgefundene Sprit erwies sich von bester Qualität. Die Arbeiter, sämmtlich Juden, erklärten, daß die Brennerei nicht von ihnen eingerichtet worden und ihnen das Ungesetzliche ihrer Existenz unbekannt gewesen sei; ihr Prinzipal, dessen Name ihnen nicht bekannt sei, wohne in dem Landstädtchen Slawuta. Die Brennerei war schon eine Woche lang in Betrieb; der Acciseversucht der Krone wird auf 4000 Rbl. geschätzt. Libausche Zeitung 27. November 1889 Warschau. N e u e r E l e k t r o m o t o r. Wie die Lodz. Ztg. einem im Kiew. Ssl. veröffentlichen Schreiben entnimmt, hat ein aus dem Kreise Rowno, im Gouvernement Wolhynien gebürtiger gewisser Ch. Schapiro, der seine Bildung in der Rownoschen Realschule genossen hat, einen neuen Elektromotor erfunden, dessen Kraftausnützung trotz der Größe dieser Kraft, sich unvergleichlich billiger stellt, als der Gebrauch der Dampf- oder einer anderen Kraft. Der Vater des Erfinders, der sich um ein Patent auf seine Erfindung bemüht, hat in Warschau bereits den Bau eines Elektromotors von 10 Pferdekraft begonnen. Der Erfinder arbeitet gegenwärtig an einem zweiten Werk, einem thermoelektrischen Apparate, zu dessen Herstellung große Mittel erforderlich sind. Düna-Zeitunf 26. Januar 1890 Odessa. In Odessa hat sich eine Gesellschaft von Kapitalisten zu dem Zwecke gebildet, die Wälder im Gouvernement Wolhynien auszubeuten. Hauptsächlich beabsichtigt die Gesellschaft das Holz zum Bau sogenannter schwedischer Häuser zu verarbeiten. Diese Häuse sind äußerst zweckmäßig und vortheilhaft für die Bauern. Die Gesellschaft will den Bauern zudem die Möglichkeit geben, diese Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 69
70 Häuser in Theilzahlungen zu erwerben. Bauten dieser Art sind nach Rußland zuerst aus Schweden eingeführt und haben sich wirklich als sehr praktisch erwiesen. Düna-Zeitung 20. April 1890 (Auszug) Ländliche Spar- und Vorschußkassen. Für die Beschaffung eines billigen Kredits, dessen der kleine Landmann zu einem rationellen Betriebe seiner Wirthschaft dringend bedarf, haben sich als die beste und zur Zeit wohl bei uns allein mögliche Form die ländlichen Spar- und Vorschußkassen erwiesen. Bei einer bäuerlichen Bevölkerung von mehr als 50 Millionen giebt es deren in Rußland 835 mit einem Umsatz von Rbl., woraus zu schließen ist, daß diese Kassen noch einer weiteren Ausdehnung bedürftig und wohl auch fähig sind. Im Zarthum Polen existiren nur drei dieser Kassen, und zwar sämmtlich im Gouvernement Warschau, im Südwestgebiet 12 Kassen (im Gouv. Kiw 7, Wolhynien 3, Podolien 2). Der Jahresumsatz der Kassen in Polen beträgt Rbl., im Südwestgebiet Rbl. ( ) Düna-Zeitung 30. April 1890 Wolhynien. In der Umgegend von Rowno am Ufer der Gorhyna ist vor Kurzem ein äußerst interessanter Fund, bestehen aus in einem Gefäße von ca. zwei Garnitz Inhalt befindlichen alten Münzen, gemacht worden. Am Fundorte hat einst ein alter Wald gestanden, und ist man beim Pflügen oft auf alte Baumwurzeln gestoßen. Beim Ausgraben einer solchen Wurzel wurde nun von eiinem Bauern dieser Fund gemacht. Die Geldstücke erwiesen sich als Römische und sind nur zum Bedauern schnell in die Hände verschiedener Bauern gewandert und so der Wissenschaft verloren. Zwei Münzen hat der örtliche Gutsbesitzer erhalten, und ist auf einer derselben um einen Manneskopf die Aufschrift: Octavianus Augustus Magnus Regens, auf der Kehrseite eine sitzende Frrau mit einer nicht mehr leserlichen Inschrift herum, auf der zweiten ein Frauenkopf (griechischer Styl und Typus) und der Aufschrift Flavianus, die anderen Aufschriften sind unleserlich, auf der Rückseite eine stehende Frauengestalt. Alle Geldstücke sollen vorzüglich erhalten sein und keines durch Rost gelitten haben. Außerdem sagt man, daß unter den Münzen auch einige von länglicher Form mit einem springenden Pferde darauf gewesen sein sollen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der gefundene Schatz viele Jahrhunderte in der Erde geruht. Düna-Zeitung 28. August 1890 Rowno. Einer Korrespondenz des "Вил. Выстн." entnehmen wir, daß das Gebäude der dortigen Realschule zu einem Palais für die Allerhöchsten Herrschaften umgeschaffen ist; die ganze innere Ausschmückung ist aus Petersburg herbeigeschafft worden und vor dem Gebäude ein herrlicher Blumengarten angelegt. Das für gewöhnlich etwas schmutzige Städtchen hat sein Aussehen ganz verändert. Bei der Einfahrt in die Stadt (vom Bahnhof aus) ist eine Triumphpforte errichtet, der Bahnhof und der Eisenbahndamm der südwestlichen Bahnen ist fast auf eine Werst hin elektrisch beleuchtet. Alle Häuser sind reparirt und neu angestrichen, die Straßen gepflastert. Die Quartierpreise sind natürlich zur Zeit entsetzliche; ein kleines Zimmerchen, mehr schon eine Hundebude kostet für die Manöverzeit, d.h. für 7 8 Tage 50 Rbl. Die Lebensmittelpreise sind auch nicht schlecht. An Fuhrwerken herrscht großer Mangel; für gewöhnlich hat Rowno seine Iswoschtschiks, für ein so kleines Städtchen ganz genug, jetzt aber ist dies, obgleich aus Shitomir noch 20 Fuhrleute zugekommen sind, nur ein Tropfen im Meer. Der Anreisende muß daher vom Bahnhof bis zur Stadt (mehr als eine Werst) zu Fuß gehen oder stundenlang auf einen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 70
71 freiwerdenden rosselenkenden Wanka warten. Seit dem 16. August hat der Generalgouverneur des Südwestgebiets Graf. A. P. Ignatjew, seinen Sitz in Rowno genommen, der stellvertret. wolhynische Gouverneur Sechten ebenfalls. von Kiew aus sind 90 Polizeibeamte und Gorodowois nach Rowno gesandt, ebenso ein Theil der Shitomirschen Polizei. Zur Verstärkung der Post- und Telegraphenbehörde sind 20 Beamte aus Kiew eingetroffen. Vom 27. August bis zum 3. Sept. wird die Stadt festlich dekorirt, mit Flaggen geschmückt und täglich illuminirt sein. Russische und ausländische Korrespondenten sind eine Menge eingetroffen. Düna-Zeitung 13. September 1890 Petersburg. Ueber die Ankunft und den Aufenthalt Ihrer Kaiserlichen Majestäten in Spala veröffentlicht der Прав. Выстн. nachstehenden Bericht d.d. 8. September. ( ) Über den Aufenthalt Ihrer Majestäten in Wolhynien trägt das offizielle Blatt dann noch nach, daß am Sonntag, den 2. September, derselbe seinen Abschluß fand, worauf ihre Majestäten sich aus Rowno nach Spala, im Gouvernement Petrokow, begaben, wo sich ein Jagdschloss inmitten eines majestätischen Waldes befindet. Bei der Abfahrt Ihrer Majestäten waren die Straßen Rowno s mit Volksmassen gefüllt und bei der Eisenbahnstation hatte sich eine Menge Landsleute versammelt. Auf dem Perron hatte eine Deputation mehrerer Gemeinden des Kreises Ostrog mit dem Friedensvermittler an der Spitze Aufstellung genommen neben den Schülern der Realschule, die in militärischem Aufzuge anmarschirten und sich in zwei gliedern formirten. Hurrahrufe und die Klänge der Nationalhymne begleiteten die Abfahrt des Kaiserlichen Zuges, wobei Ihre Majestäten aus dem Fenster des Waggons leutselig grüßten. Während der Manöver berührten Ihre Majestäten mehrere Dörfer und besuchten die Städte Luzk und Dubno, während die Allerhöchste Residenz sich in Rowno befand. Das sind alles sehr alte Städte Wolhyniens, aber die älteste Stadt des Gebiets ist Wladimir Wolynsk, das vom hl. Großfürsten Wladimir gegründet ist. Gegenwärtig ist der Ort ein abgelegener Winkel, der nur durch seine Denkmäler aus dem Alterthume und die Ruinen des Mstislawschen Tempels, welche jetzt restauriert werden, Interesse bietet. Eine Deputation der Stadt, sowie der anderen Städte und Kreise Wolhyniens trafen in Rowno ein und stellten sich ihren Majestäten vor. Am 2. September fand eine Vorstellung der bäuerlichen Stipendiaten des Ostrogschen Progymnasiums und der gesammten Mädchenschule der Stadt Ostrog statt, die von der Gräfin Bludow zum Gedächtniß an den Grafen D. R. Bludow errichtet ist. Die Schule ist eine geschlossene Lehranstalt mit den Rechten eines Gymnasiums. Die Schülerinnen wohnten dem Gottesdienst bei, wurden von Ihrer Majestät der Kaiserin gnädig befragt und kehrten nach einer Bewirthung um 1 Uhr Nachmittags mit einem Extrazuge nach Ostrog zurück. Düna-Zeitung 6. November 1890 Luzk. Ein romantischer Räuberhauptmann. vor nicht langer Zeit wurde, wie dem Peterb. Wed. zu entnehmen, im Bezirksgericht zu Luzk der Proceß eines Räuberhauptmanns Krukowski verhandelt, der Jahre lang im Gouvernement Wolhynien einer Bande von Straßenräubern vorgestanden. Der Angeklagte und Held dieses romantischen Prozesses ist eine hochinteressante Persönlichkeit und die ganze Proceßverhandlung könnte einen prächtigen Stoff zu einer Criminalgeschichte à la Eugen Sue abgeben. Krukowski ist der Sohn reicher Eltern, die in den Gouvernements Wolhynien und Podolien collossale Güter besitzen, und erhielt eine ausreichende Bildung, bei der allerdings mehr auf äußere Dinge Gewicht gelegt war. So konnte er vorzüglich tanzen, reiten, schießen, sprach das Französische wie ein Pariser etc. Als die Eltern starben, begann der für die Welt erzogene Krukowski in dieser Welt zu leben. Er unternahm Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 71
72 Vergnügungsreisen in s Ausland, reiste nach Kiew, um dort kostspielige Feste zu veranstalten, warf das Geld überall mit vollen Händen auf die Straße und brachte das väterliche Erbe so bald und gründlich durch, daß er im Jahre 1880 nur noch ein einziges kleines Gütchen in Wolhynien besaß, daß jedoch groß genug war, einen Menschen mit bescheidenen Ansprüchen zu ernähren. Die Ansprüche Krukowski s waren jedoch nicht bescheiden, er hatte außerdem in seinem Prasserleben auch den letzten Rest jeden moralischen Haltes verloren und sich an das Vagabundenleben eines Abenteurers zu sehr gewöhnt, um nun in der Blüthe seiner Jahre die Rolle eines bescheidenen Gutsbesitzers zu spielen. Wäre Krukowski eine gemeine Natur, so hätte er es bald zu einem gemeinen Verbrecher gebracht, allein es war in seiner Natur ein idealistischer Zug und es fehlte ihm nicht an schwärmerischen Neigungen. Dieselben waren nur sehr sonderbarer Art. Schon als Jüngling, bei Lebzeiten seiner Eltern, schwärmte der damals noch reiche Krukowski für romantische Räubergeschichten, verkleidete sich oft als Garibaldi und stattete in diesem Costüm seinen Nachbarn und Bekannten nächtliche Visiten ab. Als er nun nach dem Tode seiner Eltern sein ganzes Erbtheil durchgebracht hatte, kam ihm die Idee, ein echter und rechter Räuberhauptmann zu werden. Er organisirte die erste Bande aus seiner nächsten Umgebung: sein Kutscher, zwei Diener und mehrere Bauern seines Dorfes wurden die ersten Räuber, an deren Spitze er auf Abenteuer auszog. Zuerst tauchte die Bande im Gouvernement Kiew auf, wo Krukowski einsame Gutsbesitzer auf ihren Gütern überfiel und Kaufleute auf den großen Straßen ausplünderte. Seine oberflächliche Bildung, seine physische Entwicklung und seine Tollkühnheit kamen ihm hier sehr gut zu statten und lange Zeit hindurch konnte die Bande nicht abgefaßt werden. Als es schließlich bei einem frechen Ueberfall derselben auf ein Gut bei Potschajew dazu kam, verstand es der Räuberhauptmann in der Verkleidung als Bettler den Händen der Gendarmen zu entwischen und verschwand darauf spurlos aus Rußland. Zwei Jahre vergingen, ohne daß von ihm etwas gehört wurde, da tauchte er plötzlich mit einer neuen Bande im selben Gouvernement wieder auf. Die Bande hatte er in Galizien gesammelt und bald waren einzelne Kreise von ihnen wieder unsicher gemacht. Seine frechen Ueberfälle waren wieder im Munde Aller, dabei wurden von ihm mitunter solche Heldenthaten erzählt, daß er im Volke sich nicht wenig Freunde und Bewunderer erwarb. Bei keinem seiner Ueberfälle kam es je zu einem Mord und Blut klebt nicht an den Händen dieses verschrobenen Menschen. Oft bewies er sogar eine Menschenfreundlichkeit, die zu seinem Handwerk in keinem Verhältniß stand, und vor Gericht kamen mehrer solcher romantischen Episoden seines Lebens zur Sprache. Bauern sagten als Zeugen vor dem Gericht z.b. aus, daß sie von Krukowski bei Viehseuchen, Dorfbränden und anderen Unfällen oft mit Geld und Lebensmitteln versorgt worden seien. Eine Gutsbesitzerin, deren Besitzung wegen einer Schuld von 1000 Rbl. unter den Hammer kommen sollte, erhielt von Krukowski brieflich eine Quittung der bezahlten Schuld übersandt, der seine Visitenkarte beigefügt war. Alle diese Handlungen verschafften ihm, wie gesagt, viele Freunde, was seine Verhaftung außerordentlich erschwerte. Krukowski war dabei von einer persönlichen Tollkühnheit, die ihres Gleichen suchte und ihm oft aus der schlimmsten Verlegenheit half. So erschien er z.b. trotzdem er steckbrieflich verfolgt wurde, oft in größeren Städten, wie Luzk, Dubno etc. Eines Tages wurde dem Isprawnik von Luzk die sichere Kunde, daß Krukowski sich in der Stadt aufhalte. Man begann ihn zu suchen. Ein Jude machte dabei die Meldung, daß Krukowski in einer Scheune der Schänke im Dorfe Kiwertzy (bei Luzk) übernachte. Die Schänke wurde von der Landpolizei umzingelt. Da erscheint plötzlich in der Thür derselben ein feiner höherer Officier und läßt sich einen Fuhrmann holen, um in die Stadt zu fahren. Die Polizei ist in tödtlicher Verlegenheit und weiß nicht, ob sie ihn verhaften soll. Da ruft der Officier plötzlich den Urjadnik heran, bittet ihn, einen Gruß an den Isprawnik auszurichten und übergiebt ihm dabei eine Visitenkarte mit französischer Aufschrift und einer Krone darüber. Der Urjadnik hilft ihm auf den herbeigeholten Wagen und machte ihm Honneur. Man kann sich die Ueberraschung des Urjadnik denken, als es herauskam, daß der Officier Krukowski war und sein Name sogar auf der abgegebenen Visitenkarte zu lesen war.- Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 72
73 Sehr oft fing Krukowksi reiche Gutsbesitzer und Gutsbesitzerinnen ab und ließ sich dann für ihre Freilassung theures Lösegeld bezahlen. Alle erzählten Episoden sind vor Gericht durch Zeugenaussagen beglaubigt worden und stehen unzweifelhaft fest. Das Ende Krukowski s war ebenso romantisch wie sein ganzes Leben. Er wurde ein einem Liebesabenteuer abgefangen. Er hatte sich nämlich in ein Dorfmädchen verliebt, das einen Bräutigam hatte. Letzterer überraschte nun seine treulose Braut bei einem Rendezvous mit dem Räuberhauptmann und gab das Versteck der Beiden der Polizei an. Vor Gericht legte er freimütig ein offenes Bekenntnis ab. Er ist zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt worden. Düna-Zeitung 1. Dezember 1890 Der Gashdanin klagt über den M a n g e l a n A e r z t e n in den entfernteren Gouvernements des Reichs. Wo die Institution des Semstwo noch nicht existiere, da gebe es in einem ganze Kreise gewöhnlich nur zwei Aerzte: den Stadt- und den Kreisarzt, die auch weit weniger Aerzte, als medizinische Beamten wären. Mit Amtsgeschäften, officiellen Expertisen, Sectionen etc. seien sie so überhäuft, daß sie nicht daran denken dürften, eine freie ärztliche Praxis zu entwickeln. Dabei erhielten sie eine Gage, die geringer wäre als das Stipendium, das sie auf der Universität genossen. Es wäre daher kein Wunder, daß die Personen auf diesen Stellen rasch wechselten, da unter diesen Umständen Jeder, dem eine etwas bessere Aussicht winke, einen derartigen Platz so schnell als möglich aufgebe. Eine weitere Folge dieser unbefriedigenden Verhältnisse wäre die großartig entwickelte C u r - p f u s ch e r e i, die z.b. in Wolhynien von unwissenden Barbieren betrieben werde. Diese Leute führten sogar jede Art von Operation aus und häufig sei der Tod des Patienten die Folge davon. Ein Barbier der Stadt Rowno kam noch unlängst wegen eines solchen Falles vor das Kriminalgericht. Außerdem gibt es in jedem Kreisstädtchen des Polessjegebietes Läden, in denen alle möglichen Apothekermittel und häufig sehr starkwirkende, an das Volk verkauft werden. Der Kampf der örtlichen Aerzte gegen dieses Unwesen hat wenig Erfolg; strenge und möglichst häufige Revisionen würden besser durchgreifen. Das beste Mittel aber zur Beseitigung all dieser Uebelstände wäre eine beträchtliche Erhöhung der ärztlichen Gagen und Vermehrung der Stellen, wodurch ein frischer Zuzug des ärztlichen Personals auch in die entlegenen Provinzen erzielt werden könnte. Libausche Zeitung 30. Januar 1891 Ostrog (Gouv. Wolhynien). Wie dem Kiewsk. Slowo aus Ostrog geschrieben wird ist daselbst unlängst eine Verfügung eingetroffen, nach der a l l e d e u t s c h e n K o l o n i e n m i t r u s s i s c h e n N a m e n z u b e l e g e n s i n d. In Wolhynien bestehen etwa 850 deutsche Ansiedelungen, welche von dieser Verfügung betroffen sind. Libausche Zeitung 28. Februar 1891 Wolhynien. R e i c h e r K i n d e r s e g e n. Die Zeitung Wolga bringt folgende interessante Mittheilung: In der deutschen Colonie Golendry, sechs Werst von der Stadt Ostrog, leben zwei deutsche Frauen Auch und Schajer, von denen jede 19 Kinder hat; die erste von ihnen, Frau Auch, ist kürzlich gestorben, die zweite aber erfreut sich der besten Gesundheit, ist erst 41 Jahre alt und hat daher Hoffnung auf noch weiteren Kindersegen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 73
74 Verheiratet ist diese Frau 22 Jahre und schenkte in den ersten 16 Jahren in jedem Jahre einem Kinde das Leben. Von ihren 19 Kindern sind 16 Knaben. Libausche Zeitung 17. April 1892 Es ist, dem Rig. Tgbl. zufolge, beschlossen, in Kiew eine S ü d r u s s i s c h e G e s e l l- s c h a f t z u r F ö r d e r u n g d e s A c k e r b a u e s u n d d e r l a n d w i r t h- s c h a f l i ch e n I n d u s t r i e zu gründen um den Landwirthen in den Gouvernements Kiew, Podolien, Wolhynien, Tschernigow, Poltawa, Chersson und Bessarabien den Bezug von Gegenständen der landwirthschafltichen Industrie und Konsumartikeln guter Qualität zu möglichst billigem Preise zu erleichtern und ebenso auch für den Absatz landwirthschaftlicher Producte gute Quellen zu sichern. Der Gesellschaft ist gestattet, sowohl in Rußland wie im Auslande Niederlassungen und Magazine und Kommissions-Agenturen für Kauf und Verkauf zu eröffnen. Zu bemerken ist an dem Statut der neuen Gesellschaft, das sonst mit dem 1890 bestätigten Statut der L i b a u e r Gesellschaft zur Förderung des Ackerbaues und der landwirthschafltichen Industrie übereinstimmt, daß Mitglieder der Gesellschaft ausschließlich r u s s i s c h e U n t e r t h a n e n c h r i s t l i c h e r K o n f e s s i o n werden können. Es soll mit dieser Bestimmung einmal dem Eindringen jüdischer Elemente in die Gesellschaft vorgebeugt werden, durch deren Eintritt, wie man befürchtet, die Gesellschaft in eine rein kommerzielle umgewandelt werden könnte, und zweitens auch der Einfluß der gerade im Süden zahlreich vertretenen Ausländer auf das volkswirthschaftliche Leben Rußlands abgeschwächt werden. Libausche Zeitung 29. Mai 1892 Z u r J u d e n f r a g e. Der Gouverneur von Wolhynien hat, wie wir der St. Pet. Ztg. entnehmen, cirkulariter angeordnet, daß die Juden aufhörten, im Gouvernement Immobilien ungesetzlicher Weise zu besitzen oder zu exploitieren. Binnen Kurzem soll die Auswanderung der Juden unter Aegide der Gesellschaft für Kolonisirung der Juden beginnen, jedoch nur in mäßigem Umfange. Die preußische Regierung hat das Verbot des Durchzugs russischer Juden aufgehoben. Düna-Zeitung 14. August 1892 Kiew. Die Schulen in den deutschen Colonieen. Unseren Lesern wird es erinnerlich sein, daß der Curator des Kiewschen Lehrbezirks - wie wir s. Z. berichtet haben - seine besondere Aufmerksamkeit den Schulen der deutschen Colonieen zugewandt und dabei die Anschauung ausgesprochen hat, daß die deutschen Volksschullehrer nicht nur in der russischen Sprache, sondern vielmehr auf allen Gebieten allzu geringe Kenntnisse aufwiesen. Jetzt sind, wie der Kiewlj. mittheilt, für die Ferien besondere Curse eingerichtet, wo die deutschen Lehrer, die für die Lehrthätigkeit nicht genügend vorbereitet sind, von Kameraden für den pädagogischen Beruf weiter ausgebildet werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient nach den Worten des Kiewlj. der Umstand, daß bei zwei Volksschulen in den Kreisen Shitomir und Nowogradwolynsk die Vorbereitungscurse von L e h- r e r i n n e n geleitet werden. Anfangs weigerten sich die deutschen Lehrer am Unterricht theilzunehmen, da sie es für erniedrigend hielten, sich von russischen Baben so bezeichneten sie die Lehrerinnen belehren zu lassen. In der letzten Zeit aber sind diese Curse dank der erfolgreichen Tätigkeit der Lehrerinnen, von deutschen Volksschullehrern und andern Colonisten, die sich der Lehrthätigkeit in den Colonieen zu widmen wünschen, ü b e r f ü l l t. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 74
75 Düna-Zeitung 6. Oktober 1892 Odessa. Von den Schiffswerften in London und Hull langten hier Agenten an, um Bauholz zu kaufen, besonders Eiche, Fichte, Esche und rothe Erle. Da die Agenten in den Niederlagen in Odessa kein Holz fanden, begaben sisch sich in die Gouvernements Wolhynien und Mohilew. Düna-Zeitung 17. November 1892 (Anzeigenteil) Auf e. großen Gute Wolhyniens finden junge Leute aus geh. Ständen in einem do. Hause gegen mäß. Pensionszahlung Aufnahme zur prakt. Erlernung der Landwirthsch. u.d. russ. Sprache. Adr.: Волынской губ. ст. Дружкоиоль Э.ф.Г. Düna-Zeitung 13. Januar 1893 Archäologische Ausgrabungen werden in diesem Sommer in der in historischer Beziehung interessanten Umgegend des Fleckens Gorodniza, im Gouvernement Wolhynien, stattfinden. Die Gegend ist außerordentlich reich an historischen Denkmälern: man vermuthet dort das Grab Oleg s, auch existiert dort die Ruine eines Gebäudes, von welchem man annimmt, daß es das Badehaus der Fürstin Olga gewesen ist. Rīgas Pilsētas Policijas Avīze 7. Februar 1893 E r f r o r e n. Aus dem Flecken Kodni, Gouv. Wolhynien, schreibt man dem Odessk. Now., daß sich dorft eine tragische Katastrophe abgespielt hat. Am 11. Januar sollte die Hochzeit eines jungen Paares stattfinden. Ein Sohn des Sch. Spektor heirathete eine Tochter Schnaider s. Am Tage vor der Hochzeit begab sich der Vater des Bräutigams nach dem 22 Werst von Kodni entfernten Shitomir, um die Verwandten zur Hochzeit einzuladen. Die Zahl der Geladenen betrug 13. Sie bestiegen alle ein Fuhrwerk und führen nach Kodni ab. Unterwegs überraschte sie ein Schneegestöber und sie verirrten sich. Zwei von ihnen, Brüder, verließen das Fuhrwerk und gingen fort, um den Weg zu suchen, fanden ihn aber nicht, sondern verirrten sich vollständig und erfroren. Man fand sie todt. Sie hatten einander umarmt und lagen leblos da. Düna-Zeitung 16. August 1893 Gouvernement Wolhynien. Steinkohlenlager. Eine Untersuchung der mineralischen Schätze des Kremenezer Montanbezirks im Gouvernement Wolhynien, die vor Kurzem von der Südwestbahnen- Gesellschaft veranstaltet worden ist, hat, wie dem Kiewljanin zu entnehmen ist, ergeben, daß die dortigen Steinkohlenlager eine Schicht von anderthalb Faden Dicke bilden. Die Lage der Schicht ist sehr regelmäßig. Der gesammte Kohlenvorrath des Bezirks wird auf Pud geschätzt. Die Kremenezer Kohle, die schon mehrfach untersucht worden ist, zeigt viele gute Eigenschaften, entwickelt keinen schwarzen Rauch und bildet eine lockere Asche. Genaue Berechnungen haben ergeben, daß das Pud Kohle bei einer jährlichen Ausbeute von 5 Millionen Pud etwas 3 ½ Kop. kosten wird. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 75
76 Rīgas Pilsētas Policijas Avīze Zum Hopfenbau. Die Hopfenbauer an der Wisla und in Wolynien, die vom Finanzministerium auf ihr Gesuch über eine Erhöhung der Einfuhrzölle auf ausländischen Hopfen eine ablehnende Antwort erhalten haben, regen die Frage über die Nothwendigkeit einer Normirung im Hopfenbau an. ( Pet. Wed. ) Libausche Zeitung 4. März 1894 Kiew. E i n p o s t a l i s c h e s K u r i o s u m. Unser Postwesen im Innern des Reiches so schreibt die Pet. Ztg. steckt ja bekanntlich noch in Kinderschuhen, was sowohl auf die riesigen Entfernungen, als auf die Spärlichkeit der Eisenbahnverbindungen und manchen anderen Umstand zurückzuführen ist. Es giebt daher bei uns im Innern des Reichs Städte, die geographisch kaum 400 Werst von einander entfernt sind, postalisch aber weiter als Toulon und Kiew. Ein Einsender der Now. Wr. erzählt von einem solchen Städtepaar sehr kuriose Dinge. Er wohnt in Kiew und hat einen beständigen Geschäftsverkehr mit einigen Personen, die in Nähe von Rowno (Gouv. Wolhynien), 6 Werst von der Station Rowno der Südwest-Bahn leben. Die Korrespondenz und der Postverkehr mit diesen Geschäftsfreunden ist, wie der Einsender schreibt, nur auf dem Wege rekommandirter Sendungen möglich, da keine einzige unrekommandirte Korrespondenz weder aus Kiew noch Rowno, noch von dort nach Kiew jemals von der Post zugestellt worden war; alle ordinären Briefschaften sind einfach auf dem Wege zwischen diesen beiden Punkten spurlos verloren gegangen. Der Einsender schließt seine Korrespondenz gewöhnlich um 5 Uhr Nachmittags ab, um welche Stunde das Haupt-Postkomptoir in Kiew bereits geschlossen ist; er giebt also die Sendungen in dem Haupt-Telegraphenamt auf und dieses pflegt alle rekommandierten Briefschaften zweimal täglich um 12 und 4 Uhr Nachmittags auf die Haupt-Poststation zu senden, obgleich diese Stunden absolut nicht der Abgangszeit der Postzüge entsprechen, sondern einfach so angenommen sind; vielleicht wirkt die Erledigung der Korrespondenz vor dem Frühstück und Mittag wohltätig auf die Verdauung der Telegraphen-beamten. Wenn nun also der Einsender der Now. Wr. seinem Korrespondenten in Rowno einen rekommandierten Brief per Post zuschickt, so nimmt diese Prozedur diesen Verlauf; am M o n t a g, um 5 Uhr Nachm., schickt der die Briefschaften ins Telegraphen-Kompoir; am D i e n s t a g, um 12 Uhr Mittags, werden sie dem Hauptpost- Komptoir übersandt; am M i t t w o c h um 9 Uhr Morgens, gehen sie mit dem Postzug der Süd- West-Bahnen nach Rowno ab, wo sie um 12 Uhr Nachts eintreffen. Am D o n n e r s t a g findet in Rowno die Sortirung der Briefschaften statt, die angesichts des spärlichen Beamtenpersonals des örtlichen Post-Komptoirs nicht früher vorgenommen werden kann. Am F r e i t a g, um 1 Uhr Nachmittags, wird aus der Stadt Rowno die Anweisung des Post-Komptoirs der 6 Werst entfernten Gemeinde-Verwaltung des Dorfes Rowno zugesandt und am S o n n a b e n d, um 3 Uhr Nachmittags, befindet sie sich glücklich in den Händen des Adressaten. Am S o n n t a g findet im Post-Komptoir keine Ausgabe von Korrespondenzen statt, der Adressat wartet also bis zum M o n t a g und begiebt sich denn nach Rowno, um den rekommandirten Brief in Empfang zu nehmen. Die Entfernung zwischen Kiew und Rowno beträgt 366 Werst! In der Zeit, die der rekommandirte Brief braucht, um von Kiew nach Rowno zu kommen, kann der Einsender, wie er schreibt, ganz bequem von Kiew nach Toulon reisen, dort auf dem Platz von dem Hôtel de Ville Vive la France! schreien und dann gemächlich heimkehren, wollte er aber zu Hause eine Antwort aus Rowno vorfinden, so könnte er auch nach Paris einen Abstecher machen und sich dort alles genau ansehen. Natürlich ist unter solchen Bedingungen ein regelmäßiger Geschäftsverkehr zwishen den beiden genannten Orten nicht gut möglich. Als rettender Engel taucht aber auch hier der ewige Jude auf. Es wird ihm angeboten, einen regelmäßigen Postverkehr zwischen Kiew und Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 76
77 Rowno zu organisiren. Er deponirt je nach dem Werth der Korrespondenzen eine Kaution von 10 bis 200 Rbl. und sofort Alles Uebrige. Am bestimmten Tage um 5 Uhr Nachmittags erscheint er bei seinem Klienten, nimmt alle Korrespondenzen in Empfang und am nächsten Tage um 9 Uhr Morgens sind die Briefschaften bereits in Händen des Adressaten. Am dritten Tage, eine Stunde nach Eintreffen des Courierzuges in Kiew hat der Absender bereits die Quittung seines Korrespondeten über den Emfpang der Sendung. Die Expedition kostet je nach dem Umfange der Korrespondenz 1 bis 3 Rbl. pro Sendung, die jedoch nicht schwerwer als 3 Pfd. sein darf. Wie der Jude das zu Wege bringt, weiß der Einsender der Now. Wr. nicht, daß er aber das Geschäft akkurat und gut besorgt, bezeugt er sehr gern. Rigasche Rundschau 25. März 1895 (Auszug aus Berichten über Regierungsentscheidungen des Kaisers) Petersburg. ( ) Der Gouverneur von Wolhynien erklärte, daß im Gouvernement Wolhynien, welches hauptsächlich einen landwirthschaftlichen Charakter an sich trägt, nur eine niedrige landwirthschaftliche Schule existirt und daß die errichtung von landwirthschaftlichen Schulen den Bauern großen Nutzen bringen und ein Contingent von fachkundigen Arendatoren und Gutsverwaltern russischer Herkunft schaffen würde. S e. M a j e s t ä t d e r K a i s e r geruhte eigenhändig die Resolution zu verzeichnen: Hierauf ist Aufmerksamkeit zu verwenden. Düna-Zeitung 25. April 1895 Dubno. Brand. Die "Now. Wr." bringt aus der Feder eines Augenzeugen eine Schilderung des entsetzlichen Brandes, welcher in der Nacht auf en 18. d. Mts. die Hälfte der Stadt in Asche legte. Dank der mangelhaften Umsicht der Stadtverwaltung, welche sich in keiner Weise beeilte, Pferde nach den Feuerlöschgeräthen zu schicken, traf die Feuerwehr, statt um 1 Uhr Nachts, nicht vor 5 Uhr Morgens ein, so daß über 400 Wohnhäuser, Buden, Ställe, Scheunen u.s.w. dem von einem scharfen Winde angefachten Elemente zum Opfer fielen. Das Elend unter der obdachlosen Bevölkerung, die Alles verloren hat, soll unbeschreiblich sein. Rigasche Rundschau 29. April 1895 Ueber die d e u t s c h e n K o l o n i s t e n in Wolhynien hat der bekannte Nationalökonom Professor I s s a j e w, dessen vortreffliche Broschüre über den Nothstand wir s. Z. besprochen haben, in der Russkaja Mysl eine Abhandlung veröffentlicht, über welche die Od. Ztg. ein eingehendes Referat bringt. Das letztgenannte Blatt bemerkt, daß Professor Issajew um Manneslänge die zahlreichen Correspondenten überragt, die sich bisher über diesen Gegenstand versucht und kaum mehr zu Tage gefördert haben als sensationellen Klatsch. Auch Prof. Issajew selbst führt an, daß ihm von verschiedenen Leuten die ungeheuerlichsten Dinge über die deutschen Kolonien erzählt worden seien, die er natürlich nicht bestätigt gefunden hat. Wir unsererseits können wol von einer Wiedergabe der Beobachteung des Prof. Issajew ganz absehen, da sie für unsere Leser kaum etwas Neues enthalten. Wir constatiren mit Befriedigung, daß sich ein sachverständiger Beurtheiler der deutschen Colonien gefunden hat, dessen Urtheilsfähigkeit zweifellos erscheint, da Prof. Issajew bekanntlich als Autorität in den wirthschaftlichen Fragen anerkannt ist. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 77
78 Rigasche Rundschau 15. Mai 1895 Durch das vom 2. Mai Allerhöchst bestätigte Reichsrathsgutachten wird der staatliche Brannweinverkauf eingeführt: mit dem 1. Juli 1896 in den Gouvernements Bessarabien, Wolynien, Jekaterinosslaw, Kiew, Podolien, Taurien, Chersson, Tschernigow; mit dem 1. Juli 1897 in den Gouvernements Wilna, Witebsk, Grodno, Kowno, Minsk, Mohilew und Smolensk; in den Gouvernements des Königreichs Polen soll das Monopol spätestens am 1. Januar 1898 eingeführt werden. Gleichzeitig mit der Einführung des Branntweinverkaufs seitens der Krone werden in den oben angeführten Gouvernements Mäßigkeits-Curatorien in s Leben gerufen. Düna-Zeitung 18. September 1895 In Anlaß der Cholera im Südwest-Gebiete, die so große Dimensionen angenommen hatte, daß der General-Gouverneur, Graf Ignatjew, aus diesem Grunde seinen Urlaub abgekürzt hatte, schreibt der Kiewljanin : Seit ihrem ersten Auftreten im Jahre 1892 hat die Cholera in Wolhynien eigentlich nie ganz aufgehört; in den Jahren 1893 und 1894 trat zwar die Seuche so gelinde auf, daß im Laufe des letzten Jahres in den Grenzen des Gouvernements Wolhynien nur 464 Erkrankungen mit relativ günstigem Verlaufe zu verzeichnen waren. Einen ebensolchen sporadischen Charakter trug die Cholera in der ersten Hälfte dieses Jahres. Doch seit dem Juli hat die Zahl der Erkrankungen beängstigend zugenommen. Das charakteristische Moment der Choleraepidemie in Wolhynien liegt nicht so sehr in der Intensivität, mit der sie auftritt, sondern in der rapiden Art und Weise, wie sie sich ausbreitet und ganz unerwartet an einem Orte erscheint. Während noch im Juli die Cholera nur in 85 Ortschaften herrschte, konnte ihr Auftreten einen Monat später an 330 Punkten constatirt werden. Das gleichzeitige Auftreten der Cholera an so vielen Ortschaften, die zudem noch weit von einander entfernt sind, hat den Kampf gegen diese Epidemie in hohem Grade erschwert. Die Bemühung der Gouvernements-Administration war zunächst auf Vergrößerung des ärztlichen Personals gerichtet, so daß dank diesen Bemühungen 65 Aerzte, 24 Studenten und 150 Feldscher bemüht sind, der verheerenden Krankheit ein Ziel zu setzen. Seit der Rückkehr des Grafen Ignatjew hat der Kampf gegen die Cholera einen noch energischeren Charakter angenommen. Manche der ergriffenen Maßnahmen sind vom Herrn General-Gouverneur als unzulänglich erkannt worden, weiter hat man erkannt, daß die zur Disposition stehenden Mittel zu unbedeutend sind, um den erwünschten Erfolg zu sichern. Der Chef des Gebietes hat daher einen Ergänzungscredit von Rbl. beantragt, der aus den Mitteln der Landschaft beschafft werden soll. Düna-Zeitung 27. Mai 1896 Luzk (im Gouvernement Wolhynien). Feuersbrunst. Die Stadt ist, wie dem Kiewlj. zu entnehmen, am 12. Mai durch eine gewaltige Feuersbrunst zur Hälfte eingeäschert worden. Es sind etwa 100 Holzgebäude bis auf den Grund niedergebrannt, während von den Steingebäuden nur die nackten Mauern übrig blieben. Nur dank den in Luzk garnisonirenden vier Regimentern, deren Mannschaften wacker eingriffen, konnte das Feuer localisirt werden. Das Elend der Obdachlosen, die nur das nackte Leben zu retten vermochten, soll groß sein. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 78
79 Düna-Zeitung 9. September 1896 Shitomir. Eine famose Eisenbahn! Der Kijewl. schildert in einer Correspondenz die geradezu unglaublichen Zustände auf der Bahnlinie Shitomir-Krementschug. Die Herren Ingenieure erbauten eine Parodie auf eine Eisenbahn, so abstoßend und monströs, wie man sich kaum vorstellen kann. Wir verstehen es überhaupt nicht, wie man den Transport von Lebewesen auf einer derartigen Bahn zuließ; wer sie je benutzte und wider Erwarten heil und unversehrt die Fahrt zurücklegte, thut ein feierliches Gelübde, sich nie wieder dieser Bahn anzuvertrauen. Der Bahnkörper ist nach den Worten des Kijewl. das non plus ultra liederlicher Bauart und weist ganz unmotivirte Curven und halsbrechende Steigungen auf. Ein Glück noch, daß die Geschwindigkeit der Züge der einer Deligence gleichkommt, immerhin entgleisen sehr oft Waggons, welche die Passagiere mit vereinten Kräften auf die Schienen bringen!! Die Gesellschaft für Zufuhrbahnen hat sich jedenfalls mit dieser Bahn ein monströses Denkmal gesetzt. Düna-Zeitung 1. Oktober 1896 Sasslawl. (Gouvernement Wolhynien). Dem "Plesk. Stadtbl." zufolge schreibt man der Zeitschirft "Shisn i Isskustwo" Folgendes: Unlängst passirte in unserer Stadt der curiose Fall, daß ein Mann seine Frau verkaufte. Ein Bauer, der bereits gehörig "hinter die Binde" gegossen hatte, vertrank sein Weib an einen Bekannten für einen "Halb-Stof" Branntwein. Der Käufer des Weibes nahm seinen Einkauf gleich nach Hause mit. Als der "Strohwittwer" zu sich gekommen war, hauptsächlich aber, weil er vom Gespött der Nachbarn verfolgt wurde, entschloß sich nach 3 Tagen, seine Frau zurückzuholen. Doch der neue Besitzer gab sie ihm nicht. Da mußte schon der Ehemann für seine eigene Frau 5 Rbl. als Entschädigung erlegen und dann erst konnte er mit ihr heimwärts ziehen. Düna-Zeitung 31. Dezember 1896 Shitomir. Ein Amazonenheer von 600 Weibern im Dorfe Slotwin im Shitomirschen Kreise nahm eines schönen Tages, wie der Wolyn schreibt, ein Landstück in Besitz, welches der Arrendator des Grafen Ledochowsky mit Winterkorn bestellten wollte. Sie erklärten, daß das Land seit urdenklichen Zeiten als Viehweide gedient habe. Die Heldinnen schlugen die Arbeiter in die Flucht und wichen nicht vom Platze, als die Polizei sie auseinandertreiben wollte. Infolgedessen wurden 12 Bäuerinnen zur Verantwortung gezogen und zu zweimonatlichem Arrest verurtheilt, welche Strafe infolge des Gnadenmanifestes auf 20 Tage ermäßigt wurde. Düna-Zeitung 12. März 1897 Katastrophen im Eise. Ueber eine Kathastrophe, der vier Menschenleben zum Opfer fielen, berichtet die Zeitung Wolyn. Am Ufer des Flusses K a m e n k a waren zwölf Wäscherinnen mit dem Ausspülen der Wäsche beschäftigt, als plötzlich durch den Andrang des Eises die hölzerne Schleuse bei der benachbarten Wassermühle zerstört wurde und sich mächtige Wasser- und Eismassen flußabwärts ergossen und Alles mit sich rissen, was ihnen in den Weg kam: die zwölf Wäscherinnen mit der gesammten Wäsche und einen Kutscher mit Wagen und Pferd. Vier Wäscherinnen fanden den Tod, die übrigen sowie der Kutscher und das Pferd wurden gerettet. Der Werth der im Wasserstrudel fortgeschwemmten Wäsche wird auf 2000 Rbl. veranschlagt und zahlreiche Personen sind davon in Mitleidenschaft gezogen, da die professionellen Wäscherinnen aus vielen Häusern die Wäsche zum Spülen an den Fluß gebracht hatten. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 79
80 Düna-Zeitung 18. April 1897 Shitomir. Hoffmannstropfen als Berauschungsmittel sind, wie der Wolyn schreibt, in letzter Zeit unter dem Landvolke in Aufnahme gekommen. Die deutschen Colonisten haben dieses Mittel zu allererst angefangen zu brauchen, da es billiger ist, als Spiritus oder Branntwein. Man bemerkt den Consum dieses Aethers auf allen Südwestbahnen, besonders in Shitomir, wo er zum Handelsartikel in großem Maßstabe geworden ist. Im Kontext: Düna-Zeitung 21. Dezember 1900 Shitomir. Hoffmannstropfen in Concurrenz mit dem Monopolschnaps. Seit Einführung des Monopols soll, der Kiewsk. Gas. zufolge, in den deutschen Colonien sich die Gewohnheit eingebürger haben, den Branntwein durch ein neues Getränk unter dem Namen Hoffmannstropfen zu ersetzen, welches die Consumenten in den Zustand sinnlosester Betrunkenheit versetzt. Die Zusammensetzung dieser Flüssigkeit ist eine sehr verdächtige, da Sacharin und wahrscheinlich ein nicht unbeträchtliches Quantum Schwefeläther dazu gehört. Pro Wedro stellt sich das Getränk auf ca. 1 Rbl. 20 Kop. Auch die den Colonisten benachbarten Bauern kommen in den Geschmack, da sie dahinter kommen, daß man für einen sehr geringen Preis sich einen gehörigen Rausch viel schneller anlegen kann, als wenn man sich des gewöhnlichen Branntweins bedient. Sogar die Bäuerinnen, wenn sie in den deutschen Buden einen Einkauf machen, verlangen unbedingt eine Herzstärkung ( ), worunter sie das neue Getränk verstehen, - die Fabrication findet im Flecken Romanowo statt, von wo der Stoff, in Flaschen gefüllt, nach den Consamtionspunkten befördert wird. Die Frage liegt wohl nahe, ob es in vielen diesen Gegenden keine Acciseverwaltung giebt. Die Zusammenstellung der sehr bekannten Flüssigkeit ist eine nichts weniger als verdächtige und ihre berauschende Wirkung über jeden Zweifel erhaben. Düna-Zeitung 13. März 1897 Neue Projecte in Petersburg. Dem Stadtamt sind, dem Herold zufolge, folgende zwei Projekte eingereicht worden: ( ) der Besitzer der zwischen Kiew und Shitomir verkehrenden Diligencen wünscht 600 Equipagen mit Benzin-Motoren in der Residenz coursiren zu lassen; der Unternehmer verzichtet auf ein Monopol und beabsichtigt, 75 Kop. für eine Stunde Fahrt zu erheben. Düna-Zeitung 15. Mai 1897 Kowel. Nicht jeder Stadt ist es beschieden, gutes Trinkwasser zu haben. Unsere Hauptstadt geht in dieser Hinsicht nicht aus dem Bereiche der Pläne und hält sich ablehnend derartigen pia desideria ihrer bleichen Einwohner, andere Städte gehen mit größerer Energie an's Werk, doch nicht immer mit gutem Erfolge. So beschloß die Stadt Kowel, wie einer der angereisten Honoratioren erzählt, von der man bis jetzt nicht einmal die Einwohnerzahl kennt, einen artesischen Brunnen anzulegen. Nachdem Rbl. (!) vergraben waren, erwies es sich, daß der Brunnen reichlich.. M i n e r a l w a s s e r gab. Die Stadtverwaltung verzichtete aber darauf, eine Curanstalt zu gründen und ließ den kostbaren Brunnen zuschütten und die Stelle mit Gras bewachsen; sie wird wohl für längere Zeit aus erklärlichen Gründen nichts für die Stadt thun. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 80
81 Düna-Zeitung 23. Mai 1897 Wolhynien. Die Emigration der Hebräer nach Argentinien war, wie die Wolhynische Gouv. Ztg. schreibt, in letzter Zeit infolge des Gerüchts, als ob die Argentinische Regierung die Hebräer ausweisen würde, schwächer geworden. Das in vielen Orten Rußlands organisierte Emigrationscomité hilft gegenwärtig den Hebräern aus dem Grodnoschen Gouvernement, da diese zur Landwirthschaft besonders tüchtig sind, zur Auswanderung. Seit dem Anfange des Jahre sind schon 1000 Familie expedirt worden. Düna-Zeitung 19. Mai 1898 Ein verschwundenes Kind. Die Kurl. Gouv.-Ztg. veröffentlicht nachstehenden Aufruf: Am 23. März 1898, um 4 Uhr Nachmittags, v e r s c h w a n d, unbekannt wohin, aus dem Flecken Goroschki, Kreis Shitomir, mein Sohn, ein Knabe von 6 Jahren, K a r l S p i e g e l (Vatersname Friedrich). Seinen Familiennamen und alle seine Verwandten weiß er gut zu nennen. Besondere Merkmale des Knaben: Wuchs 1 ½ Arschin, Statur stämmig, Gesicht weiß und rein mit rothen Wangen, Augen grau mit leichtem blauen Schimmer, Stirn etwas gerundet, Nase mitteler, Kopf- und Brauenhaare dunkelrothbraun, nur schwar bemerkbare Impfnarben. Der Knabe ist hübsch, gewandt und flink, kann sich ganz gut auf deutsch ausdrücken und nicht ganz sicher auf russisch; kennt das deutsche Alphabet auswendig. Er trug nachstehende Kleidung: ein Kattunhemd roth kleingewürfelt, einen Gymnasiastenkittel und Beinkleider von dunkelgrauer Farbe, Mütze aus iminirtem Baranchen und kleine Schächtenstiefel. Ich wende mich mit der egebenen Bitte an alle guten Menschen, allen in den verschiedenen Ortschaften eintreffenden Reisenden ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, insbesondere den Blindenführern, Bettlern, Zigeunern, Akrobaten und den von ihnen mitgeführten Kindern, ob sich nicht unter ihnen ein Knabe befindet, auf den die obenangeführten Merkmale passen. (Am Tage des Verschwindens des Knaben verließ den Flecken Goroschki eine Akrobatentruppe). Für die Ertheilung von sicheren Auskünften würde die unglückliche Mutter sehr dankbar sein. Ich bitte die anderen Zeitungen inständig, diesen Brief abzudrucken. Mathilda Gustawowna S p i e g e l. Rigasche Rundschau 19. Dezember 1898 Kiew. Ueber die l u t h e r i s c h e n S c h u l e n im Kiewschen Lehrbezirk entnimmt der Kiewl. dem officiellen curatorischen Rechenschaftsbericht pro 1897 einige Daten, die wir hier wiedergeben wollen: Zum 1. Januar 1898 bestanden im genannten Lehrbezirk 340 lutherische Schulen, von denen allein 324 auf das Gouvernement Wolhynien entfallen, wo die deutschen Colonien dicht bei einander liegen. In den Kreisen Shitomir, Nowgorod-Wolynski, Wladimir-Wolynski, Luzk und Rowno übersteigt die Zahl der lutherischen Schulen die der Landvolksschulen nicht nur absolut, sondern auch im Verhältniß zur Bevölkerungsziffer. In den genannten fünf Kreisen giebt es nämlich n u r 134 Landvolksschulen, die eine auf 6478 Seelen griechisch-orthodoxer Confession, während in den deutschen Colonien daselbst 296 Schulen, d.i. je eine auf 403 Seelen protestantischer Confession entfällt. Der Aufwand für die Schulen ist übrigens im Allgemeinen nicht bedeutend, da der Lehrer nur Rbl. baar und einiges Land erhält und wo er zugleich Küster ist noch eine Zulage von etwa 20 Rbl. An einigen Orten sind die Lehrer auch besser gestellt, bis zu 150 Rbl. Gehalt und verschiedene Naturalien. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 81
82 In den deutschen Kolonien kommt ein Schüler auf 11 Einwohner. Die Schüler der allgemeinen Volksschulen bilden nur 0,7 1,1 % der orthodoxen Bevölkerung, die Schüler der Kolonistenschulen 9,7 bis 11,5 % der protestantischen Bevölkerung. Im Bericht des Curators heißt es: Die angeführten Daten legen Zeugniß dafür ab, wie tief in das Leben der Wolhynischen deutschen Kolonisten die von ihnen errichteten Schulen eingreifen, und welche wichtige Bedeutung diese oder jene auf diese Schulen bezüglichen Maßnahmen haben müssen, und insbesondere ein eventueller Aufwand zu ihrer Verbesserung gemäß den Anschauungen und Zwecken der Regierung. Düna-Zeitung 2. August 1899 Die Cementproduction im Südwestgebiet. Bis zu der neuesten Zeit hat das Südwestgebiet seinen Bedarf an Baucement aus dem Königreich Polen bezogen, wobei, dem "Herold" zufolge, die Hauptlieferanten die Cementfabriken "Kljutscha", "Wyssoka" und "Grodzec" waren. Seit jedoch in diesem Jahre die Portland-Cementfabrik in Kiew eröffnet ist, die jährlich ungefähr Pud Cement liefert, hat sich die Zufuhr aus dem Weichselgebiet bedeutend vermindert, dieselbe wird mit der Zeit noch mehr sinken, da jetzt zwei neue Fabriken, eine in der Nähe von Sdolbunowo ihre Thätigkeit schon eröffnet hat und die andere in Dubno noch im Bau begriffen ist. Jede der neuen Fabriken wird jährlich auch etwa 1 Mill. Pud liefern, so daß der Cementbedarf des Südwestgebiets durch diese drei Fabriken völlig gedeckt werden dürfte. Düna-Zeitung 31. August 1899 Elektrische Straßenbahn in Shitomir. Am 22. c. fand in Shitomir die feierliche Eröffnung der von der Actiengesellschaft Russische Elektrotechnische Werke Siemens & Halske im Auftrag der Gesellschaft der Straßen- und Zufuhrbahnen in Rußland erbauten elektrischen Bahnen statt. Die Anlage der Bahn und der dazugehörigen Centralstation, welche auch die öffentliche und Privatbeleuchtung der Stadt speist, ist, nachdem die ministerielle Erlaubniß im Juli vorigen Jahres ertheilt wurde, im Laufe eines Jahres beendet worden. Die Gesammtlänge der beiden ausgeführten Linien beträgt ca. 8,5 Werst. Die größte der auf diesen Linien vorhandenen Steigungen hat den sehr erheblichen Betrag von 1 : 12, diese Steigung (auf der Tschudnowskaja zum Ufer des Flüßchens Teterew) wird jedoch von den mit 2 starken Motoren ausgerüsteten Wagen anstandslos überwunden. Die Bahn ist für den Betrieb mit oberirdischer Stromzuführung hergestellt, die Abnahme des Stromes vom Fahrdraht erfolgt durch bügelförmige Stromabnehmer nach dem Systeme Siemens & Halske. Die Motorwagen sind geschlossen, solid und elegant angerichtet, und bieten auf 16 Sitz- und 12 Stehplätzen jeder Raum für 28 Passagiere. Die Waggons sind auf der Russisch-Baltischen Waggonfabrik in Riga erbaut, die Motoren sowie die sonstige elektrische Ausrüstung der Bahn, die Maschinen für die Centralstation, das gesammte Leitungsnetz für Bahn und Beleuchtung sind aus den Petersburger Fabriken der Russischen Elektrotechnischen Werke Siemens & Halske hervorgegangen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 82
83 Rigasche Rundschau 4. November 1899 Rußlands Gänse-Export in s Ausland hat in letzter Zeit großartige, bisher noch nicht dagewesene Dimensionen angenommen. Wie der Kiewljänin meldet, ist die Zahl der zu exportierenden Gänse so groß, das es an Waggons zum Transport gebricht und große Partien Gänse an den Sammelpunkten längere Zeit liegen bleiben mußten, bis die Reihe an sie kam. Bemerkenswerth ist der Umsand, daß das Gouvernement Wolhynien alljährlich eine immer größere Anzahl Gänse zum Export stellt. Einige Ortschaften des Gouvernements, so besonders die Polesje, haben sich ganz der Gänsezucht zugewandt. Da die Gänsezucht nur Wasser und natürliche Weideplätze erfordert, so sind die Bedingungen in der Polesje in hohem Grade günstig für die Entwicklung dieses Zweiges der Landwirthschaft. Die Gänsezucht bringt der Bevölkerung in den genannten Ortschaften einen doppelten Nutzen: im Sommer werden die Gänse lebendig gerupft und die Federn apart verkauft, im Herbst dagegen werden die Gänse selbst zum Schlachten verkauft. Trotz des Anwachsens des Gänse-Exports sind die Preise für Gänse durchaus nicht gesunken, zeigen vielmehr steigende Tendenz. Nicht selten sieht man Eisenbahnzüge von Waggons, die nur mit Gänsen angefüllt sind. Rigasche Rundschau 13. Dezember 1899 Shitomir. E i n G e g n e r d e s B r a n n t w e i n - M o n o p o l s. Unter dieser Spitzmarke referiert die St. P. Ztg. über eine der in Shitomir erscheinenden Zeitung Wolyn übersandte, offenbar ironisch gemeinte Zuschrift: Hochgeehrter Redakteur! Gestatten Sie mir, mit Hilfe Ihres geschätzten Blattes, gehörigen Orts zur Kenntniß zu bringen, daß der Schnaps in Wolhynien schlechter geworden ist. Als großer Liebhaber des Schnapses und täglicher Consument von mindestens 10 Schnäpsen, die ich bei guter Gesundheit, je nachdem ich dazu aufgelegt bin, bis auf 15 steigere, liegt es natürlich in meinem Wunsche, daß der Schnaps mir Behagen bereite und mir zuträglich sei. So war es auch früher, als ich noch die Schnäpse von Smirnow (Gott halte ihn bei guter Gesundheit) trank, um nach Einführung des Monopols auf den sogenannten Stolowoje zu 55 Kop. pro Flasche überzugehen. Jetzt fange ich an zu merken, daß die Waare immer schlechter wird. Es fehlt ihr jener exquisite, ölige, mollige Beigeschmack, der von den Verehrern Smirnows und Nowossilzews, freundlichen Angedenkens, so sehr geschätzt wird. Von unserem Monopolschnaps 10 Gläschen täglich zu trinken, ist schon nicht mehr angenehm; ja es kommen sogar solche Flaschen vor, wo man sich bereits zum achten Glase zwingen muß. Specialisten, an die ich mich wandte, meinten, der Schnaps werde wahrscheinlich über Kohlen abgezogen. Noch neulich versuchte ich wieder den Smirnowschen Schnaps und muß gestehen, daß ein wahrer Abgrund der Verschiedenheit ihn von dem Getränke scheidet, auf das wir jetzt angewiesen sind. Während unser Schnaps einen groben Geschmack hat, ist der Smirnowsche einfach deliciös zu nennen. Ich trank von letzterem 10 Gläschen (zum Mittag- und zum Abendessen), und zwar nicht nur ohne jeglichen Zwang, sondern im Gegentheil, ich mußte mich zwingen, nicht mehr zu trinken. Wäre es daher nicht angebracht, daß die örtliche Niederlage ein Getränk bereite, bei dem man nicht in die Lage käme, vergangener besserer Tage zu gedenken? Ein g e m ä ß i g t e r Schnapsconsument. Das ist, so bemerken hierzu die Nowosti, die schicksalsschwere Frage, welche die Gemüther aller gemäßigten Schnapsconsumenten des Gouvernements Wolhynien bewegt, die es mit einer Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 83
84 täglichen Normalportion von 15 Schnäpsen halten. Wieviel mögen sich aber wohl in diesem Falle die unmäßigen Consumenten gestatten? Rigasche Rundschau 26. Januar 1900 Zur Judenfrage. Einer von den Residenzblättern colportierten Nachricht zufolge besteht, wie wir bereits berichtet haben, die Absicht, den jüdischen Ansiedlungsrayon zu erweitern. Dieselbe Frage hat, wie der St. P. Her. bemerkt, schon vor 35 Jahren auf der Tagesordnung gestanden und zwar mit dem Ziel, die Juden mit dem übrigen Volk zu verschmelzen. Es bestanden verschiedene Beschränkungen für die jüdischen Einwohner, durch welche die Ausübung von Gewerben unter ihnen zum Theil verhindert wurde. Wegen der beschränkenden Maßnahmen, in deren Folge die Juden gewissermaßen eine isolirte Stellung einnahmen, konnte die Völkerverschmelzungsidee nicht durchgeführt werden. Man mußte also daran gehen, den Boden dazu zu ebnen; man sammelte Daten über die Beschränkungsmaßnahmen, um deren Aufhebung herbeizuführen. Dabei ist es geblieben. In der langen Zeit von 35 Jahren sind für das staatsbürgerliche Leben der Juden noch manche Anordnungen getroffen worden. Die Nothwendigkeit, den Kreis, in welchem das Erwerbsleben der Juden sich bewegt, z u e r w e i t e r n, besteht aber ebenso gegenwärtig, wie sie damals, vor 35 Jahren bestand. Die Gouverneure des jüdischen Ansiedlungsrayons haben in dieser Frage gewichtige Gutachten abgegeben. Der Chef des Gouvernements Mohilew erklärt, wie der Woschod berichet, daß in seinem Gouvernement viele jüdische Handwerker sich durch solide und schöne Arbeiten auszeichnen, nur bleibe ihre Mühe unfruchtbar, weil die jüdischen Handwerker nicht die Rechte genießen, wie die Handwerker in den inneren Gouvernements und weil es eine so große Zahl jüdischer Handwerker gebe, daß das Angebot der Fabrikate bedeutend größer sei, als die Nachfrage. Die Handwerker litten in Folge dessen unter einer empfindlichen Noth. Weiter theilt der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien mit, daß die Städte des Westgebiets mit Juden überfüllt seien. Die Mehrzahl der Juden seien Handwerker. Nicht alle hätten die Möglichkeit, sich durch ehrliche Arbeit zu ernähren und so griffen viele zu zweifelhaftem Erwerb. Der Chef der Gebiete von Noworossisk und Bessarabien berichtet aus seinen Gouvernements ungefähr dasselbe. In den Gouvernements befindet sich eine große Menge Juden und fast das ganze Handwerksgewerbe ist in ihren Händen. Der Generalgouverneur hat den Vorschlag gemacht, den jüdischen Ansiedlungsrayon gänzlich abzuschaffen, das heißt, den Juden volle Freiheit zu geben, sich überall im Reiche, wo es auch sei, aufzuhalten und ihrem Gewerbe so wie jeder Andere nachzugehen. Die Gutachten der Gouverneure reden also dringend für eine R e f o r m d e r J u d e n g e s e t z e. Rigasche Rundschau 17. Februar 1900 Ueber die K r e i s s t ä d t e i m W e s t g e b i e t bringt die Nedelja eine Betrachtung, der wir nach dem Referat der St. Pet. Ztg. folgendes entnehmen: Im Westgebiet gibt es eine ganze Gruppe von Städten - sogar Kreisstädten - welche P r i v a t- l e u t e n g e h ö r e n. Ein solcher Ort ist zugleich Kreisstadt und Eigenthum des einen oder anderen Gutsbesitzers. In Wolhynien allein befinden sich von 12 Städten 5 in einer solchen Lage, im Gouvernement Kiew zwei (Berditschew und Lipowetz) und in Podolien eine Jampol. Außerdem giebt es in den drei Südwestgouvernements noch mehr als 300 solcher Flecken. Diese letzteren sind im Grunde genommen ebensolche städtischen Ansiedelungen mit Kaufleuten und Handwerkern und haben nur infolge ihrer geringen Größe keine Stadtrechte erhalten. Dieselbe Erscheinung kommt im Nordwestgebiet und in Bessarabien vor, wir besitzen aber keine genauen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 84
85 Daten über diese Ortschaften. Indem die Einwohner dieser Orte ihrem Gewerbe nachgehen oder ihrer Wirthschaft vorstehen, hängen sie nicht nur von den Regierungsinstitutionen, sondern auch von den Privatbesitzern ab, deren Rechte ihnen beschwerlich fallen müssen. Abgesehen davon, daß zur Ansiedelung in den genannten Orten die Einwilligung der Besitzer nothwendig ist, haben die Bewohner noch verschiedene Verpflichtungen gegen den Besitzer und sind in ihrem Gewerbe eingeschränkt. Die erste Verpflichtung ist der Zins oder die Geldpacht, deren Höhe und Zahlungsmodus nicht normirt sind, sich nach den Ansprüchen der Besitzer richten, Streitigkeiten, Processe und Exmissionsforderungeen etc. zur Folge haben, gegenseitige Erbitterung und überhaupt äußerst gespannte Beziehungen zu Wege bringen. In zweiter Linie stehen die Beschränkungen des Eigenthums und Gewerberechtes. Die praktische Anwendung dieser Einschränkungen ist vielfachem Wechsel unterworfen gewesen, was aber die augenblickliche Lage betrifft, so liegt uns eine frische Meldung aus Wolhynien vor, welche die Kreisstadt Rowno betrifft. Die Kaufbriefe und Documente, welche den Hausbesitzern von den Gutsverwaltern ausgestellt werden, enthalten den Vorbehalt. daß die Errichtung von Fabriken und anderen Handels- und Industrie-Etablissements nur mit jedesmaliger besonderer Erlaubniß gestattet sei, für welche eine Extrazahlung erhoben werde; nach Ablauf eines jeden Decenniums kann der Zins erhöht werden, selbst beim Weiterverkauf ist die Erlaubniß des Besitzers nothwending, da er das V o r- k a u f s r e c h t hat. Die Höhe der Zahlungen ist durchaus nicht gering. In dem erwähnten Falle beträgt sie 10 Kop. pro Quadratfaden, was für eine kleine Kreisstadt gar keine geringe Steuer ist. Düna-Zeitung 19. Mai 1900 Wladimir-Wolynsk, 17. Mai. Furchtbare Feuersbrunst. Am 16. Mai in der Nacht zerstörte eine Feuersbrunst die halbe Stadt. Ueber 800 hebräische Familien sind gänzlich mittellos geworden. Die Noth ist unbeschreiblich. Die örtliche Wohlthätigkeit ist unzureichend. Es ist ein Comité gebildet worden, an welches man Spenden zu richten bittet. Düna-Zeitung 25. September 1900 Südwestrußland. Die Reform der deutschen Colonistenschulen im Südwestgebiet. Wie gerüchteweise verlautet, beabsichtigt das Ministerium der Volksaufklärung, die Statuten der Elementarschulen fremder Confessionen einer Revision zu unterziehen. Eine bedeutende Gruppe dieser Schulen werden die deutschen Colonistenschulen im Südwestgebiet sein. Man zählt derselben 323, von welchen sich 306 allein im Gouvernement Wolhynien befinden. Die Schulen entstanden zugleich mit den deutschen Colonien in den 60er Jahren. Bis zum Jahre 1887 war die Unterrichtssprache der Colonistenschulen die deutsche, von da ab stehen die Anstalten unter der Leitung des Ministeriums der Volksaufklärung und wird der Unterricht in russischer Sprache ertheilt. Wie im Jahresbericht des Curators des Kiewer Lehrbezirks pro 1898 bemerkt wird, ist mit dem Uebergehen der Schulen unter das Ministerium für Volksaufklärung ihre Einrichtung besser geworden. Aber man rügt, daß die deutschen Lehrer mangelhaft die russische Sprache kennen. 85,5 pct. Lehrer sind keine rechtmäßigen Pädagogen und von den 14,5 pct. rechtmäßigen Lehrern haben viele die russische Sprache infolge Mangels an Praxis in derselben so weit vergessen, daß ihr Unterrichten nicht für befriedigend erachtet werden kann. Darum unterscheiden diese Lehrer sich nur wenig von den nicht rechtmäßigen. Welche Umwandlung die in Aussicht genommene Reform der Schulen bringen wird, ist vorläufig noch nicht bekannt. Der Ssewerny Kurjer spricht sich dahin aus, daß man bei der Reorganisation die größte Duldsamkeit gegen das religiöse Gefühl der Lutheraner walten lassen müsse. Man muß immer vor dem Auge Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 85
86 halten, erklärt das Blatt, daß ein Lehrer der deutschen Kolonistenschule gleichsam der Küster der Gemeinde ist, welche beiden Aemter stets in den deutschen Colonien von einer Person bekleidet werden. Ernennt der Volksschuleninspektor einen Lehrer, so ernennt er dadurch auch immer den Küster. Besonders heikel wäre es, einen T h e i l d e r S c h u l e n z u s c h l i e ß e n. Die deutschen Colonistenschulen sind, wie gesagt, gleichsam Gebethäuser und demnach schlösse man mit den Schulen auch Orte des Gottesdienstes. Dadurch rührte man an die innigsten Gefühle der Lutheraner und das könnte nicht ohne Folgen bleiben. Anstatt eine Annäherung der deutschen Colonisten zu dem russischen Volke zu erreichen, würde man nur eine unnütze Erregung hervorrufen. Schon das ist in Anbetracht der religiösen Gefühle der Colonisten nicht recht am Platz, daß der Volksschuleninspector ihnen auch den Küster ernennt, was doch in einigen reorganisirten Schulen geschieht, welche noch als Gebetshäuser genutzt werden. Ueber diese Schulen gebietet ein Lehrer, der kein Lutheraner ist, und trotzdem giebt das Volk sich damit zufrieden. Eine ganz andere Lage würde aber geschaffen, wenn man einen Theil der Schulen schlösse. Die Erhaltung der Schulen, welche organisch mit den Sitten und der Religiosität des Volkes verknüpft sind, ist eine conditio sine qua non. Das wäre der einzige richtige Ausweg aus der gegenwärtigen Lage. Zum Schluß macht der Ssewerny Kurjer noch folgenden Vorschlag: Man ernenne für die bestehen gebliebenen Schulen gute Lehrer und statte sie mit guten Lehrmitteln und Bibliotheken aus. Zur Ausbildung von Lehrern wäre ein L e h r e r s e m i n a r zu gründen und es müßte dann noch eine 2klassige Vorbereitungsschule für das Seminar eröffnet werden. In den 1klassigen Volksschulen wären ausschließlich rechtmäßige Lehrer, die L u t h e r a n e r sind, anzustellen; auf den Lehrerposten der übrigen Lese- und Schreibeschulen könnten nicht rechtmäßige Lehrer ernannt werden, jedoch müssten sie L u t h e r a n e r sein. In jedem Falle muß man bedenken, daß das I g n o r i r e n d e r B e d i n g u n g e n d e s ö r t l i c h e n V o l k s l e b e n s s e h r s c h w e r e F o l g e n h a b e n k a n n. Düna-Zeitung 4. Oktober 1900 Ueber den Einfluß der deutgschen Colonisten in Wolhynien auf die bäuerliche Landwirtschaft bringt der "Ssewernyi Kurjer" einen Artikel, aus dem ersichtlich, zu welch raschen und radicalen Reformen der durch seine Indolenz bekannte russische Bauer fähig ist. Die deutschen Colonisten im Shitomirschen Kreise sind, wie es auch bei uns zu Lande der Fall, auf Höfen angesiedelt, so daß jeder Wirth sein ganzes Feld-, Wald- und Wiesenareal auf einen Platz beisammen hat, während die russischen Bauern auf ihrem Gemeindeland die alte Dreifelderwirtschaft betreiben, so daß die einzelnen parcellen eines Besitzers wersteweit von einander entfernt sind. In letzter Zeit nun habe sich unter den Bauern eine Bewegung zu Gunsten des Ueberganges zur Gesindewirthschaft gezeigt. Bereits zu Anfang der 90. Jahre beschlossen einige Dorfgemeinden das Gemeindeland dementsprechend anders einzutheilen, wobei der Werth der einzelnen Parcellen so streng wie möglich eingehalten wurde. Diese complicirte Procedur wurde ungemein rasch und leicht bewerkstelligt. Zur Zeit sind dem Beispiele dieser Gemeinden fast alle Dorfgemeinden des Shitomirschen Kreises gefolgt und die Bewegung hat bereits nach dem Nowograd-Wolhynskischen Kreise hinübergegriffen. "Dörfer giebt es hier jetzt nicht mehr," schreibt der "Kurjer". "Dort, wo der Uebergang zur Gesindewirthschaft sich vollzogen, sieht man jetzt nur unabsehbare Felder, auf denen hier und da Bauernhütten verstreut sind. Der Standort der Dörfer wird nur durch eine Kirche, eine Schule, wo eine solche vorhanden, und das Haus des Priesters bezeichnet. In dem Flecken sind fast nur Juden zurückgeblieben. Die Hütten sind abgetragen und in's Feld fortgeschafft worden, und nur hier und da zeigen einige Bäume an, daß hier einst eine Wohnstätte gewesen. Die Uebersiedler sind mit ihrem Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 86
87 Schritte sehr zufrieden, aber auch die Verbreitung einer Bewegung, die mit solch einer radicalen Umwälzung der Lebensbedingungen verbunden war, zeugt davon, daß die Bewegung jedenfalls Boden hat. Die Wirthschaft der Bauern nach dem Uebergang hat, soweit man nach so kurzer Frist urtheilen kann, bereits Fortschritte gemacht. Die Dreifelderwirtschaft macht einem intensiveren Wirthschaftssystem Raum, stellenweise bürgert sich der Wiesenbau ein. Ueber das Endresultat kann zur Zeit noch kein Urtheil gefällt werden. Jedenfalls sind bereits auch einige Schattensieten zu verzeichnen. Die Deutschen haben in diese Waldeinöden einen größeren Vorrath von Cultur mitgebracht, aber auch bei ihnen macht sich hier ein gewisser Rückschritt bemerkbar. Es steht daher zu befürchten, daß das Leben auf vereinzelten Höfen auf unsere Bauern einen noch stärkeren Einfluß ausüben dürfte. Das Schulwesen hat bereits unter der Reform zu leiden: der Besuch der Schule wird einerseits durch die großen Entfernungen behindert, andererseits druch den Umstand, daß jeder Wirth jetzt seinen eigenen Hirten haben muß, wozu gewöhnlich Schulkinder verwandt werden. Indessen wird die Bedeutung der Reform dadurch nicht abgeschwächt." Es habe eines großen Aufschwunges communalen Sinnes bedurft, um diese radicalen Reformen so rasch durchzuführen; das Gemeindeprincip habe sich selbst, sozusagen, den Schwanengesang gesungen. Düna-Zeitung 8. November 1900 Kiew. Ein sehr bemerkenswerthes Circulair des General-Gouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien, General Dragomirow, veröffentlichte die Kiewsche Gouvernementszeitung : Dragomirow hattte auf einer Inspectionsreise aus Kowel nach Wladimir-Wolynsk unterwegs eine große Zahl von Bauerngruppen angetroffen, die mit der Remonte des Weges beschäftigt waren. Die Bauern waren aus 40 vis 50 Werst entfernten Dörfern zusammengejagt (согнаны) worden und wurden an Ort und Stelle ca. 2 Wochen festgehalten, obgleich die Landstraße sich in durchaus gutem Zustande befand. Eine derartige willkürliche Belastung der Bauern schreibt Dragomirow kann nicht geduldet werden. Indem ich dem Kowelschen und Wladimir-Wolynskischen Isprawnik hiermit einen Verweis ertheile, bitte ich Euer Excellenz die Verfügung zu treffen, daß die Wegelasten nur nach Maßgabe thatsächlicher Nothwendigkeit auferlegt würden, womöglich zu arbeitsfreier Zeit, und daß irgend welche Durchreisen der Obrigkeit nie den Vorwand zu willkürlicher Belastung der Bevölkerung, die ohnehin schon in dieser Hinsicht überbürdet ist, geben. Die Wege müssen im Interesse der Bevölkerung selbst, für die sie existiren, in gutem Zustande sein und dürfen nicht zu Ungunsten dieser Interessen bei zufälligem Durchreisen der Obrigkeit remontirt werden. Der Bevölkerung aber eine Umschaufelung des Sandes auf einer durchaus gut erhaltenen Landstraße und das Beeggen derselben, wie das auf der Kowel-Wladimirschen Poststraße der Fall war, aufzubürden, ist ganz und gar unerlaubt. Ich verwarne die Kreispolizei und mache sie darauf aufmerksam, daß ich, fallls ich nochmals derartigen MIßbrauch in Betreff der Wegelasten bemerke, mit aller Strenge verfahren werde. Auch habe ich bemerkt, daß die Wege an einigen Stellen und zwar in ziemlich bedeutender Ausdehnung, mit abgehauenen und in die Erde gesteckten Kieferbäumchen besetzt war, was auch auf Verfügung der Polizei geschehen war. Den Bauern muß eine richtige Auffassung von möglichst sparsamem Umgang mit Wald eingeflößt weden, und sie sollen nicht dazu angehalten werden, den Wald zu vernichten, und das noch einer faden Spielerei wegen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 87
88 Rīgas Pilsētas Policijas Avīze 8. Februar 1901 Ein russisches Tansvaal. In den Gouvernements Wolhynien und Grodno und zwar in den aneinander grenzenden Kreisen Kowel und Brest-Litowsk befinden sich, wie die Blätter melden, gegen 10 kleine Burencolonien, die schon in den zwanziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts entstanden sind. Die Gesammtzahl der hier, in diesem russischen Transvaal lebenden Buren beläuft sich zur Zeit auf Seelen. Die örtliche Bevölkerung nennt sie Holländer, weil sie aus Holland eingewandert sind. Alle diejenigen typischen Züge und Eigenschaften, welche in Schilderungen das charakteristische Merkmal der südafrikanischen Buren bilden, sind auch diesen russischen Buren eigen. Sie leben ebenfalls in Farmen, tragen die charakteristischen Burenhüte, haben dieselbe Vorliebe für die Bibel, welche sie stets in ihrer freien Zeit lesen, und zeichnen sich durch Ehrlichkeit, Arbeitsamkeit u.s.w. aus. Mit der russischen Bevölkerung leben sie in Frieden und Eintracht. Während ihres 75jährigen Aufenthalts in Rußland haben sich die Buren schon so weit russificirt, daß sie sich ihrer Sprache nur beim Lesen der Bibel und beim Beten bedienen, während die Umgangssprache bei ihnen die russische ist. Dabei verstehen sie alle russisch zu schreiben und zu lesen. Düna-Zeitung 5. September 1901 Shitomir. Einsturz eines Platzes. Am 22. August hat sich eine Katastrophe ereignet, die leicht größeres Unglück hatte anrichten können. Nach dem Bericht der Wolynj wurde an diesem Tage um 9 Uhr Abends vom Stary Basar her entsetzliches Hilferufen gehört. Mehrere Dutzend von Fruchtund Victualienhändlern und -händlerinnen kamen die Kathedralnaja entlang gelaufen, beladen mit Körben und Säcken, aus denen Aepfel, Birnen, Tomaten etc. auf das Pflaster rollten. Wie sich herausstellte, war der Platz, auf dem diese Händler ihr Standquartier hatten, eingestürzt. Das Ereignis war umso überraschender, als Niemand das Vorhandensein eines riesigen Kellerraumes unter diesem Platze geahnt hatte. Derartige Einstürze sind übrigens in Shitomir keine Seltenheit. Im vorliegenden Falle wurde ein von dem katholischen Kloster ausgehender unterirdischer Gang nachgewiesen, an den sich jener Keller anschloß, außerdem aber sind die Straßen unterwühlt von ausgedehnten Gängen, die sich fast Werste weit erstrecken. Bei der Katastrophe wurden zwei Frauen beschädigt, die eine erlitt einen Bruch beider Beine und liegt schwer darnieder. Rīgas Pilsētas Policijas Avīze 28. Oktober 1901 Russische Buren. Das letzte Heft der "Einogr. Obosr." bringt kurze, aber interessante Nachrichten über die "russischen Buren". Vor ungefähr 75 Jahren ließen sie sich im Kowelschen Kreise des Gouv. Wolhynien und im Brest-Litowsker Kreise des Gouv. Grodno bei den Dörfern Sabushe und Dokatschewo nieder. In dieser Zeit sind dort gegen 10 kleine Burenfarmen mit einer Bevölkerung von annähernd 500 Seelen entstanden. Die örtliche Bevölkerung nennt diese Ansiedler Holländer. Sie beschäftigen sich mit der Landwirthschaft, leben mit der russischen Bevölkerung in Eintracht und Frieden, hassen die Engländer und interessieren sich jetzt sehr für das Loos ihrer afrikanischen Stammesbrüder. Sie tragen wie die letzteren breite Hüte, zeichnen sich durch Ehrlichkeit und Arbeitsamkeit aus und sind sehr gottesfürchtig. Unter den ärmlichen kleinrussischen Dörfern zeichnen sich die Burenfarmen durch materiellen Wohlstand aus: die Häuser sind hoch, mit Ziegelschornsteinen und Eisenbeschlag an den Thüren und Fenstern. Die Wagen haben eiserne Achsen, die Pferde und das Vieh sind groß, kräftig und gesund. Die Höfe und Gärten sind mit starken Zäunen eingefriedigt. Gemüse und Geflügel ist im Ueberfluß vorhanden. Die Frauen beschäftigen sich mit der Milchwirthschaft und die Männer mit dem Ackerbau. Sogar im Winter leben Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 88
89 die Buren nicht ohne Beschäftigung, sondern suchen Arbeit in den nächsten Fabriken, Sägemühlen u.s.w. Wenn sie des Sonnabends nach Hause kommen bringen sie ihren ganzen Verdienst der Familie mit. Trunksucht kennt man bei ihnen nicht, und wenn sie trinken, dann nur Bier, und auch das nur in sehr geringem Maße. Im Gegensatz zu den deutschen Colonisten des Gouv. Wolhynien verabscheuen es die russischen Buren trotz ihres höheren Bildungsniveaus nicht, mit der benachbarten bäuerlichen Bevölkerung in Eintracht und Frieden zu leben. Da sie mit ihr in nahem Verkehr stehen, sprechen sie alle vorzüglich russisch. Im Laufe ihres 75jährigen Aufenthalts in Rußland sind sie schon so weit russificirt worden, daß sie sich ihrer Muttersprache nur noch beim Lesen der Bibel und beim Beten bedienen. Sie lesen und schreiben alle russisch und nur ihr Glaubensbekenntniß, das sich in ihnen fest eingebürgert hat, scheidet sie von dem russischen Volke. Düna-Zeitung 5. (18.) März 1903 Die Arbeit der deutschen Colonisten im Kiewschen und Wolhynien Unter den deutschen Colonisten in den Gouvernements Kiew und Wolhynien hat bekanntlich eine starke Bewegung um sich gegriffen, die auf ein Verlassen der bisherigen Wohnsitze und die Rückwanderung nach Deutschland, Amerika und Sibirien hinzielt. In der Odessaer Zeitung, die das Interesse der deutschen Colonisten in Rußland besonders pflegt, finden sich in letzter Zeit nicht selten Artikel, welche wohl der Beachtung werth sind. Die deutschen Colonisten in den genannten Gouvernements, die aus Polen ausgewandert sind, sind fast ausschließlich Pächter, die jetzt dadurch in die Ferne getrieben werden, daß die Großgrundherren, auf deren Boden sie Pachtland bebauen, eine Erneuerung des Pachtcontracts einmal nur auf 1 Jahr, zum andern nur unter enormer Erhöhung des Pachtzinses bewilligen. Nur mit schwerem Herzen - heißt es in einem aus dem Fürstenlande der Odess. Ztg. zugehenden Bericht - trennen sich die Ansiedler von ihrer bisherigen Heimath; erfreut sich doch die Ansiedelung derjenigen Vorzüge, welche einem Menschen die Heimath lieb und werth zu machen vermögen. Auch materiell ist es ihnen immer gut gegangen, für die landwirthschaftlichen Producte finden sie guten Absatz, die Arbusengärten rentiren, die Obstgärten werfen Rbl. p.a. den fleißigen Colonisten ab. Auch die Schönheit der Colonien, welche zum großen Theil durch die Gärten und die geräumigen, wenn auch einfachen, so doch netten Landhäuser bedingt wird, sei betont. Vor allen anderen zeichnet sich Michelsburg aus: die Straße ist schnurgerade und eben, an den Seiten ragen in 2 Reihen stattliche Holzbirnbäume empor, welche zur Zeit der Blüthe wie zwei sich weithin ausdehnende weiße Wände erscheinen, und dahinter prangen in mannigfaltiger Farbenpracht Aepfel-, Birnen-, Pflaumen- und andere Obstbäume. Die Colonie liegt hart am Dnjeprthal, welches hier 15 Werst breit ist, und zur Zeit des Hochwassers mit seinen wogenden Wassermassen dem Auge ein herrliches Schauspiel bietet, später aber durch zahlreiche kleine Seen dem Fischer willkommene Gelegenheit zur Ausübung seines Gewerbes giebt. Und nun soll das alles verschwinden! Schon jetzt ist das Ansehen der Colonien sehr verändert: Sergejewka und Alexanderthal, heißt es in dem angezogenen Brief, sind schon zum großen Theile abgetragen, während auch in allen Dörfern einzelne Höfe der Verwüstung anheim gefallen sind. Die Wehmuth beschleicht das Herz beim Anblick dieser Zerstörung: die Zäune sind niedergerissen, mannhohes Unkraut wuchert in allen Winkeln des Hofes, die Obstbäume sehen mit ihren Alles verheerenden Raupen recht traurig und verlassen aus, und die in Trümmern liegenden Wände verkünden den Vorübergehenden nur noch, daß hier einst gelebt und geschafft wurde. Auf einem Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 89
90 anderen Hofe ist ein Haus schon ganz weggeräumt und nur eine Lücke unter hoch aufgeschossenen Bäumen zeigt den Ort an, wo es gestanden hat. Wie viel besser, ruft der Schreiber aus, könnte es um unsere Ansiedelung bestellt sein, wenn man das Land käuflich erworben hätte, als es vor Jahren einmal unter günstigen Bedingungen angeboten wurde. Hätte man damals in die Zukunft blicken können, sicherlich säßen wir jetzt auf eigenem Lande, nun aber ist s zu spät. In einem N. N. gezeichneten Artikel Die Ein- und Auswanderung der deutschen Colonisten Wolhyniens in der Odess. Ztg. wird die eminent wichtige Frage nach der Zukunft der deutschen Pächter mit einem Rückblick auf die Zeit der Einwanderung und die Culturarbeit verknüpft, aus dem wir hier das Wesentliche folgen lassen. Es heißt da: Ehe wir auf unser Ziel losgehen, müssen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit thun, um zu sehen, wie Wolhynien vor der Einwanderung deutscher Colonisten beschaffen war. Noch vor wenigen Jahrzehnten war Wolhynien zu einem großen Theil ein Wüsteinei: Moräste, Gesträuch, verwüstete Wälder wechselten mit einander ab. Man macht jetzt den Deutschen den Vorwurf, daß sie die Wälder vernichtet hätten; das ist unrecht, denn die Edelleute hatten dies vorher schon, oft in sinnloser Weise, gethan - den Deutschen blieb in dieser Beziehung nicht viel zu thun übrig. Was sie ausgerottet haben, waren keine Wälder mehr, sondern nur noch Strünke und Strauchwerk. Die Gegend war wenig bevölkert; man traf nur hier und da die verwahrlosten Wohnstätten der Edelleute und die elenden Hütten der Leibeigenen an. Und um nichts besser waren die Dörfer der russischen Bauern. Ihr ganzes Wissen von der Landwirthschaft bestand darin, daß sie das Land mit einem hölzernen Pflug ein wenig umkratzten und dann den Samen hineinstreuten und mit einem geeigneten Aste eggten. Das gewonnene Getreide wurde mit zwei Handsteinen gemahlen, und das machte die Hauptnahrung der Bevölkerung aus. Rindvieh und Schweine hatten nur die Namen mit diesen Thieren gemein, sonst aber nichts. Diese Thiere waren sich selbst überlassen und gingen den ganzen Sommer frei im Walde umher. Im Spätherbst wurde dann eingefangen, was die Wölfe nicht gerissen hatten, und Jeder suchte das Seine aus, das er an besonderen Kennzeichen erkannte. Den Winter über fand das Vieh keine Unterkunft in Ställen, sondern mußte Tag und Nacht im Freien bleiben, wo es sich an den Heuschobern nach Belieben gütlich thun konnte; eine Fütterung fand nicht statt. Die Wohnung bestand aus einem einzigen Raum von 6 8 Arschin im Geviert. Das war zugleich Wohnstube, Küche, Futterstelle für Schweine, Gänse und Hühner und Schlafraum für die ganze Familie. Das Getreide wurde in Schobern aufgestapelt und im Winter nach Bedarf gedroschen. Das war die Wirthschaftsweise der russischen Bauern, ehe sie mit den Deutschen in Berührung kamen, und da wo keine Deutschen sind, ist sie heute noch so. Dem Edelmann, der meist im Staatsdienst stand, war sein Gut eine Last. Er mußte es einem Verwalter überlassen, der ebenso wenig von der Landwirthschaft verstand wie die Bauern auch. Der Edelmann hatte nur den Gewinn von seinem Gut, daß er den Wald schlagen ließ oder es versetzte. Diesen Edelleuten nun erschienen die aus Polen (nicht Preußen!) einwandernden Deutschen als willkommene Abnehmer ihres Landes, sei es durch Kauf oder durch Pacht. Es war Beiden geholfen: der Edelmann war sein lästiges Gut los, und der Deutsche hatte Land. So entstand eine Colonie nach der anderen, Schulen wurden gebaut und das Land mit verbesserten Geräthen bearbeitet. Auch Handwerker waren eingewandert. Der Unterschied in der Bearbeitung des Landes war ein gewaltiger. Wo der russische Bauer 6 8 Pferde - und was für welche! - vor seinen Pflug spannen mußte, da ackerte der Deutsche mit einem Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 90
91 oder zwei Pferden vor seinem amerikanischen Pfluge und leistete doch mehr und bessere Arbeit. Wo früher Wolf und Eber hausten, da prangten nun herrliche Getreidefelder und wohlgebaute Colonien. Da sah denn auch der russische Bauer bald den Unterschied und schaffte sich auch eiserne Pflüge und eisenachsige Wagen an. In wenigen Jahrzehnten hat deutscher Fleiß, deutsche Ausdauer und deutsche Cultur dies Alles zu Wege gebracht. Zum Schluß des Artikels wird die Hoffnung ausgesprochen, daß, zumal die Haltung der russischen Bauern und der russischen Presse zu den Deutschen eine wesentlich gerechtere geworden ist, auch das Verbot, Land zu kaufen, aufgehoben werden möge. Dadurch würde die bestehende Unzufriedenheit beseitigt und dem Lande ein nützliches Element erhalten werden, das heute, gewiss nicht zum Segen des Landes, sich vorbereite das Land zu verlassen, an dessen Cultur sie Kraft, Gesundheit und Leben gesetzt haben. Düna-Zeitung 17. Mai 1902 Wolhynien. Aus deutschen Colonistenkreisen geht uns folgender Brief zu: Als Wolhynier fühle ich mich verpflichtet etwas zurecht zu stellen. was die Wolynj berichtet hat und in der Düna-Zeitung Nr. 94 aufgenommen ist. Es gelangen bis jetzt nur einzelne Ansiedler zur Aussiedelung und nicht ganze Colonien und wenn von versammelten Deutschen des Kreises die Rede ist, so ist die Wolynj einfach falsch berichtet, denn Wolhynien hat 8 Kreise, in welchen Deutsche und [?? - Auslassung im Original] so ziemlich zu gleichen Theilen wohnen und giebt es in Wolhynien etwa Deutsche, wovon gegen die Hälfte Eigenthümer sind, welche sich an solchem Streite überhaupt nicht betheiligen würden. Die Deutschen weigerten sich nicht in erster Linie höhere Pachtzahlungen zu leisten, sondern daß bei Abfassung eines neuen Contracts der Besitzer in denselben die Bedingung aufnehmen lassen will, daß die vorhandenen Gebäude nach Ablauf von Jahren (Beendigung der zu schließenden Contractdauer) sein Eigenthum werden soll; das wollen begreiflicher Weise die meisten Deutschen in diesem Gute nicht, weil sie das Baumaterial für eigene Mittel beschafft haben, daher verlangen, daß die Gebäude ihr Eigenthum bleibe, oder der Gutsbesitzer selbige ihnen bezahle; geschieht letzteres, so würden sie in s Ausland etwa nach Posen auswandern. Kein Wunder, ist ihnen doch, obwohl sie heute russische Unterthanen sind, von einem Beamten in Nowograd-Wolynsk gesagt worden: Ihr habt Euren Kaiser hinter der Grenze, was verlangt Ihr Rechte! Die unbedachten Worte haben furchtbare Erbitterung hervorgerufen! Können die Colonisten sich doch ohne Ueberhebung dessen rühmen, ein gutes Stück Culturarbeit gethan zu haben. Als nach der polnischen Revolution von 1863 die ersten Deutschen (abgesehen von wenigen Colonien, die schon bestanden haben) aus Polen und später auch aus Preußen nach Wolhynien kamen, wurden sie mit offenen Armen aufgenommen. Vor kurzem waren die russischen Bauern befreit und die Besitzer hatten wenig Einnahme, der nördlichste Theil des Landes war noch undurchdringlicher Wald. So gaben denn die Besitzer zu guten Bedingungen das Land in Arrende. Jetzt, da die Sümpfe getrocknet, Wälder gelichtet, Straßen angelegt und Felder urbar gemacht sind, jetzt finden sich natürlich auch andere Elemente bereit, diese Ländereien zu pachten, notabene wenn die von den Deutschen errichteten Gebäude darauf bleiben sammt den bestehenden Schulen, Zäunen, Gärten und anderen Einrichtungen, welche dem Gutsbesitzer keinen Kopeken kosten. Es ist nicht nur in den Augen der Colonisten eine Ungerechtigkeit der Besitzer, gegen Leute solch ein Verfahren einzuschlagen, die mithalfen, Cultur in s Land zu bringen. Wenn der Besitzer des Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 91
92 Gutes die Gebäude und Gärten taxirt und sie bei der Arrende in 10 bis 12 Jahren in Abzug brächte, sodann das Land klassificirte, dann wäre er im Recht, die Leute zu zwingen, wenn sie solchem Verfahren widerstrebten, was auch kaum geschehen würde. Es giebt Land in diesem Gute, wo man bei hiesigen Verhältnissen bis 6 Rbl. pro Dessjatine zahlen könnte, dagegen auch Stellen, für welche 1 Rbl. zu viel ist. Gelangen die Deutschen zur Ansiedelung, so haben sie in 30- bis 40jähriger Mühe für sich nichts weiter erreicht, als den bestehenden Viehstand, der bei manchen auch nicht so viel einbringt, um die Reise ins Ausland anzutreten, und nicht soviel ausmacht, als Geld hergebracht wurde. S.A. Libausche Zeitung 21. September 1902 Shitomir. Z e h n K o p e k e n t ä g l i c h oder 1 Kop. f ü r d i e A r b e i t s s t u n d e wurde in der Tabaksfabrik von Bojarski in Shitomir gezahlt, bis die Fabrikinspection dahinter kam und nach Feststellung der Thatsache eine kleine Gagenerhöhung veranlaßte. Dem Wolgar zufolge waren auf der Fabrik insgesammt 100 Mädchen im Alter von 15 bis 25 Jahren beschäftigt. Der höchste Monatslohn belief sich auf 7 Rbl., der niedrigste auf 2 Rbl. 50 Kop., und zwar erhielten die meisten Mädchen den Lohn von 2 Rbl. 50 Kop. pro Monat. Da der Monat im Durchschnitt 24 Arbeitstage von je 10 Arbeitsstunden zählt, so verdient eine große Zahl der Mädchen bei der gesundheitsschädlichen Arbeit 10 Kop. täglich oder 1 Kop. für die Arbeitsstunde. Da die meisten Arbeiterinnen in der Stadt leben, wo Wohnung und Lebensmittel theuer sind, so reicht der Verdienst auch nicht annähernd zur Bestreitung der allernothwendigsten Lebensbedürfnisse aus. Als die Arbeiterinnen die Arbeit einzustellen drohten, machte ihnen der Fabrikinhaber eine Monatszulage von 1 Rbl. 50 Kop. bis 2 Rbl. 50 Kop. im Maximum. Dankbar wurde diese generöse Gehaltsaufbesserung acceptirt und die Arbeit wieder aufgenommen. Für ihre schwere Arbeit werden also die Mädchen statt der bisherigen 2 Rbl. 50 Kop. zukünftig 5 runde Rubel erhalten, wofür sie ihre Wohnung bezahlen, siche bekleiden und beköstigen müssen! Daß die Mädchen unter solchen Bedingungen geradezu gewaltsam der Unzucht in die Arme getrieben werden, braucht wohl nicht betont zu werden. Düna-Zeitung 6. (19.) November 1902 Aus Wolhynien. Gutes Beispiel ist die Hauptsache! Aus Wolhynien schreibt uns ein Leser: Ich stoße beim Durchblättern der Zeitung auf den Schlußartikel in Nr. 199 und möchte Ihnen unsere Erfahrungen mitteilen: Nicht helfen dem russischen Bauern eiserne Geräthe noch staatliche Geldmittel, sondern gute Beispiele. Als die Deutschen hier in Wolhynien sich ansiedelten, da wußten die Russen noch nichts von Herbststürzen, die Stoppeln blieben bis zum Frühjahre stehen, wo sie dann umgebrochen und durchgehackt wurden, um Buchweizen darauf zu säen; überhaupt kannten sie nichts anderes als Brache, Roggen und Buchweizen, den Dünger fuhr man auf die Straße in die Löcher, oder wenn er zuviel wurde, brach man den leichten Stall ab und stellte ihn anderswo auf; heute düngen die russischen Bauern schon, in Folge dessen stellen sich bessere Ernten ein und der Weizen ist schöner. Dresch- und Putzmaschinen, Mähmaschinen, bessere Pflüge, Eggen, Wagen und Geschirre, das thut noth! Das Kind lernt nur gehen, wenn es Kraft spürt und nicht, wenn es am Gängelbande geführt wird! Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 92
93 Rigasche Rundschau 18. Februar 1903 Shitomir, 17. Februar. Auf Initiative des Vorsitzenden der Gesellschaft zur Erforschung Wolhyniens, des Gouverneurs von Wolhynien, ist ein Memorandum ausgearbeitet worden, in welchem die Nothwendigkeit der Vereinigung Shitomirs mit dem Netze der breitspurigen Eisenbahnen, mittels einer von St. Petersburg über Slobin durch das Gouvernement Wolhynien nach dem Süden durchzuführenden Linie, dargelegt wird. Rigasche Rundschau 6. August 1903 Shitomir. Der Polizeimeister von Shitomir Wolhyn einen Befehl, aus dem hervorgeht, daß der Gouverneur von Wolhynien es bemerkt hat, daß die auf Posten stehenden Schutzleute, statt ihren officiellen Obliegenheiten nachzukommen, selbst zur Störung der öffentlichen Ordnung beitragen. Ganz abgesehen davon daß sie von den Vorgängen auf der Straße wenig Notiz nehmen oder irgendwo schlummern, haben sie auch durch ein freies und freches Benehmen die Aufmerksamkeit des Gouverneurs auf sich gelenkt. So kommt es vor, daß ein Schutzmann mit seinen Bekannten auf dem Trottoir stehend, dieses den Passanten nicht freigiebt, oder daß ein anderer ungenirt einer Köchin nachläuft und ihr die Tour schneidet, u. dgl. m. Infolge dessen wird den höheren Polizeibeamten eingeschärft, strenger auf die Einhaltung der Disciplin zu sehen. Düna-Zeitung 20. April 1904 Automobilverkehr. Dem Grafen W. M. Grocholsky ist gestattet worden, zwischen Kiew und Shitomir auf der Kronschaussee einen Passagier- und Güterverkehr auf Automobilen einzurichten. Vorläufig soll die Fahrgeschwindigkeit 25 Werst in der Stunde betragen. Düna-Zeitung 4. November 1904 Shitomir. Ein sensationeller Brandstiftungsprozeß ist in Shitomir verhandelt worden, in dem der Chef der Feuerwehr B r a n d m e i s t e r O s s i p o w und der O b e r s t l e u t n a n t A b r a m o w i t s c h als Angeklagte fungierten. Ossipow wurde zu 3 Jahren Zwangsarbeit, Abramowitsch unter Anerkennung von Milderungsgründen zu zwei Jahren Zwangsarbeit mit Rang- und Ordensverlust verurteilt. Die Wolynj teilt einige Daten aus der Anklageakte mit, in der es u.a. heißt, daß Ossipow während der Löscharbeiten häufig das brennende Haus ruhig weiterbrennen ließ und die Nachbarhäuser zu gießen befahl, oder ohne jegliche Notwendigkeit teilweise beschädigte Häuser zerstören ließ, oder endlich, während die Mannschaft in voller Fahrt zum Brandplatz eilte, plötzlich Halt kommandierte und die Feuerwehrleute für irgend ein Vergehen zur Rede zu stellen begann. Aus dem curriculum vitae dieses sonderbaren Brandmeisters ist u.a. zu ersehen, daß er bereits einmal durch das Urteil des Kiewer Appellhofs vom Amte entfernt worden war, weil er als Landgendarm bei einem Bauern ohne jeglichen Grund Geld beschlagnahmt und als Pristawsgehülfe einen Kleinbürger ohne jeglichen Grund in Haft genommen hatte. Noch vor dieser Verurteilung hatte Ossipow G e f ä n g n i s s t r a f e n für D i e b s t a h l und für D o k u m e n t e n- f ä l s c h u n g verbüßt. Wie ein Mensch mit einer so illustren Vergangenheit in einer Gouvernementsstadt Brandmeister werden konnte, ist ein Rätsel, das wohl nur in Shitomir geknackt werden kann. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 93
94 Libausche Zeitung 22. November 1904 Dorf Kotelenki, Kreis Nowogradwolynsk. Ein schreckliches Unglück ereignete sich, lesen wir im Russk. L., in Kotelenki. Ein Bauer dieses Dorfes f e i e r t e d i e H o c h z e i t seiner Tochter, zu der er all seine Dorfgenossen eingeladen hatte. Zur Bewirthung der Gäste wurde aus dem Nachbarorte von einem Bauern, der eine geheime Schenke unterhielt, eine große Menge Schnaps geholt. Die Gäste warfen sich gierig auf das Getränk Plötzlich, als es gerade recht hoch herging, fühlten sich alle Festgäste übel. Nach 2 3 Stunden starben neuen Mann unter fürchterlichen Qualen. Als erste Opfer fielen die Eltern des Brautpaares, dann dieses selbst, dann die nächsten Verwandten. Nach diesen starben bis zum nächsten Tage noch elf Gäste unter deutlichen Vergiftungserscheinungen und den größten Qualen. Die Untersuchung stellte fest, daß die Verstorbenen sich mit schlechtem ungerereinigtem Spiritus, der zu Politurzwecken verwendet werden sollte, vergiftet hatten. ( ) Libausche Zeitung 11. Juni 1905 Shitomir. 10. Juni. Im Dorfe Jurewitschi (Kreis Kowel) ist es während des Jahrmarktes zu einer Judenhetze gekommen, wobei einige umgekommen sind und offen geplündert wurde. Der Aufruhr konnte im Keime erstickt werden. Libausche Zeitung 22. August 1905 Saslawl. (Gouv. Wolhynien) 12 bewaffnete Räuber überfielen den Stall des Adelsmarschalls im Dorfe Tschernolowka, fesselten die Wächter und nahmen einen Viererzug theurer Pferde und 2 Wagen mit. Dieselbe Bande bestahl den Priester in Dubrischtschi. Rigasche Rundschau 23. August 1905 (Auszug) Die Deutschen in Rußland. Bisher war man bei Angaben über die zahlenmäßige Stärke des Deutschtums in Rußland fast dudrchaus auf ungefähre Schätzungen und annähernde Berechnungen angewiesen. Jetzt liegen in den amtlichen Veröffentlichungen über die russische Volkszählung von 1897 auch genaue statistische Angaben über den deutschen Bevölkerungsanteil in Rußland vor. Es ergibt sich, so schreiben die Mitteilungen des Allg. deutschen Schulvereins, bei einem Vergleich, daß die früheren Schätzungen der wirklichen Zahl der Deutschen in Rußland ungefähr entsprachen. Die Volkszählung von 1897, die erste allgemeine Volkszählung, die in Rußland überhaupt stattfand, hat nämlich, soweit die Ergebnisse bis jetzt vorliegen, , d.h. bei eienr Gesamtbevölkerung von Köpfen 1,4 Prozent Deutsche ergeben. Bisher ward die Zahl der Deutschen in Rußland gewöhnlich auf insgesamt 2 Millionen geschätzt. Diese Zahl dürfte auch annähernd erreicht werden, wenn erst für eine Reihe noch ausstehender Gebiete und Gouvernements die einschlägigen Ziffern auch noch vorliegen werden. In der Hauptsache ist das jetzt schon der Fall; die betreffende Statistik ermöglicht einen interessanten Ueberblick über die Verteilung der Deutschen auf die verschiedenen Teile Rußlands. Am vollständigsten liegt das amtliche Material bereits vor für die Ostseeprovinzen (die hier benutzte Statistik rechnet. das Gouv. St. Petersburg auch dazu) und für Polen; besonders die ersteren sind ja auch, was das Deutschtum angeht, die wichtigsten und interessantesten Teile Rußlands. Es sitzen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 94
95 in E s t l a n d Nationaldeutsche, die 3,9 v.h. der Bevölkerung bilden; in K u r l a n d Deutsche, d.h. 7,6 v.h., in L i v l a n d , d.h. 7,6 v.h., in P e t e r s b u r g , d.h. 3 v.h. der Gesamtbevölkerung. ( ) In den Gouvernements des inneren Rußlands sind insgesamt Deutsche ermittelt, doch fehlen hier noch die Ziffern aus drei Gouvernements, darunter das wichtige Moskau. Die Stadt Moskau allein hat aber mindestens Deutsche, die hier also noch nicht mitgezählt sind. Die Zahlen für einige Gouvernements des Innern seien noch besonders hervorgehoben. In S a m a r a bilden die Deutschen mit Köpfen 8,2 v.h. der Bevölkerung, in W o l h y n i e n 5,7 v.h. mit , in S a r a t o w 6.9 v.h. mit , in C h e r s s o n 4,5 v.h. mit , in J e k a t e r i n o s l a w 3,8 v.h. mit , in T a u r i e n 5,4 v.h. mit , in B e s s a r a b i e n 3,1 v.h. mit usw. ( ) Die Zahl der R e i c h s d e u t s c h e n beträgt Es sitzen ihrer in den O s t s e e- p r o v i n z e n , davon in Pebersburg; in Polen , davon im Gouverrnement Petrikau, im Gouvernement Warschau. In den Gouvernements des inneren Russlands sitzen Reichsdeutsche, davon in W o l h y n i e n , in J e k a t e r i- n o s l a w , in M o s k a u Endlich sitzen in K a u k a s i e n 2.782, in S i b i - r i e n 385 und in M i t t e l a s i e n 140 Reichsdeutsche. Düna-Zeitung 25. August 1905 Sasslaw. (Gouv. Wolhynien). Eingestürzt. Auf der Zuckerfabrik des Grafen Potocki, die nach einem Brande wieder aufgebaut worden war, ist das Dach eines dreistöckigen Gebäudes eingestürzt. Getötet und schwer verstümmelt sind 22 Arbeiter. Düna-Zeitung 1. Juni 1906 Petersburg. Eine kleine Illustration zur Agrarfrage gibt der bekannte General Kossitsch, früher Gouverneur von Ssaratow, später Kommandierender der Truppen in Kiew und Kasan, einer der aufgeklärtesten russischen Administratoren, in folgender kurzer Zuschrift an die Now. Wr. : Im Jahre 1904 traf in Kasan eine Partie Rekruten ein: 40 Bauern aus Woronesh, 40 aus Wolhynien und 40 Esten. Die Woronesher: ärmliche Kleidung; nicht allzugroße Landanteile, des Lesens und Schreibens kundig - die Hälfte (dank der Landschaft); verheiratet 50 Prozent. Die Wolhynier: großer Landanteil, dank der politischen Lage des Südwestgebiets, obwohl das Land sandig ist, aber auf gleich großen Anteilen werden die deutschen Kolonisten wohlhabend; ärmlich gekleidet, alle - Annalphabeten (keine Semstwo!), Äußeres hungerleidig, alle verheiratet. Die Esten - l a n d l o s. Vortrefflich gekleidet, alle mit Taschenuhren; glänzende körperliche Verfassung; alle des Lesens und Schreibens kundig, kein einziger verheiratet. Detaillierte Erläuterungen fähre ich nicht an: es hängt eben alles von den Grundlagen der Erziehung einer strengen sozialen Ordnung usw. ab. Wir empfehlen diese kurze Notiz der Beachtung des Herrn Deputierten H e l l a t. Düna-Zeitung 15. (28.) März 1906 Wolhynien. Politische Betätigung deutscher Kolonisten. Die Odessaer Zeitung Deutsches Leben berichtet: Aus dem Nowogradwolinschen richteten die deutschen Bauern von mehr als 65 Kolonien Wolhyniens eine P e t i t i o n an den Ministerpräsidenten Witte, zunächst mit der Bitte, Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 95
96 Sr. Majestät dem Kaiser ihren Dank zu übermitteln für das kaiserliche Geschenk vom 17. Oktober wie auch ihr Treuegelöbnis für die Zukunft. Sie seien aber besorgt, daß die Kaiserliche Gnade sie nicht erreichen werde, weil in der russischen Tagespresse sich Andeutungen finden, daß der Wolhynische Bauer deutscher Nationalität als ein staatsgefährliches Element anzusehen und dementsprechend nicht als Vollbürger Rußlands anzuerkennen sei. Die Petition fährt dann fort: Wir weisen aber dem gegenüber auf die trotz aller Bedrückung und Rechtlosigkeit unwandelbar gebliebene Untertanentreue hin. Sämtliche Staatsabgaben haben wir gewissenhaft geleistet. In den vaterländischen Kriegen sind wir nicht an letzter Stelle gestanden. In einem bisher toten Lande ist durch unsern Fleiß eine Kultur geschaffen worden, durch welche der Wert des Landes im Verlaufe von 30 Jahren um das Zehnfache gestiegen ist, die Vieh- und Pferdezucht belebt und die Rentabilität der Güter gehoben wurde. Trotzdem wurde uns der Landankauf verboten, die Pächter waren der Willkür der Gutsbesitzer anheimgegeben, die Religionsausübung wurde nach Möglichkeit erschwert, und die Schulen der Muttersprache beraubt. Auf das Kaiserliche Manifest vom 17. Oktober gestützt, verlangen wir: 1) die völlige Gleichstellung mit allen russischen Bürgern; 2) die Gewährleistung der freien Religionsausübung ohne einschränkende Bestimmungen; 3) die Wiedereinführung des Unterrichts in der Muttersprache in unseren Schulen mit Beibehaltung der Reichssprache als Unterrichtsgegenstand; 4) die Möglichkeit für die Pachtbauern, das von ihnen urbar und ertragsfähig gemachte Land mit Hülfe der Bauernbank käuflich zu erwerben, auf dieselbe Weise, wie die Zinsbauern; 5) dieselben Rechte zur Erwerbung von Land, wie sie den russischen Bauern gewährt sind, auch für die wolhynischen Bauern deutscher Nationalität; 6) eine Erweiterung des Wahlrechts, damit auch den Bauern deutscher Nationalität die Möglichkeit einer Vertretung in der Reichsduma gegeben sei. Diese Petition dem Grafen Witte zu überreichen, wurden zwei Männer ausgewählt, die am 19. Januar abreisten und am 23. vom Adjutanten des Grafen Witte empfangen wurden, der ihre Erläuterungen zur Petition anhörte und einen stenographischen Bericht über seine Unterredung mit den Deputierten beim Ministerpräsidenten vorlegte. Am nächsten Morgen wurden die beiden Abgeordneten vom Grafen Witte selbst empfangen, der ihnen seine Sympathie aussprach und ihnen den Anschluß an den Verband vom 17. Oktober empfahl. Mit diesem Bescheid sind die Delegierten nach Hause gereist und haben ihren Auftraggebern Bericht erstattet. Diese haben dann ein Komitee gewählt und mit der deutschen Gruppe des Verbandes vom 17. Oktober Fühlung genommen. Düna-Zeitung 28. März 1906 Nowogradwolynsk (Gouv. Wolhynien). Die Petition der deutschen Kolonisten. In Nr. 61 der Düna-Zeitung vom 15. März 1906 fand ich eine Notiz aus der Odessaer Zeitung Deutsches Leben in betreff einer Deputation und Bittschrift der hiesigen deutschen Kolonisten an den Grafen Witte. Da diese Notiz mehrere Unrichtigkeiten enthält, die unsere Kolonisten in ein falsches Licht stellen könnten, so bitte ich um gefällige Korrektur derselben. 1) Die Eingabe enthielt nach der Ergebenheitserklärung eine B i t t e und keine Forderung. Es hießt: Auf das Kaiserliche Manifest vom 17. Oktober gestützt, bitten wir und nicht verlangen wir. 2) Die Bitte enthielt nur 4 Punkte und zwar: a. die völlige Gleichstellung mit allen russischen Bürgern. (Was gegen die Ausnahmegesetze im Südwestgebiet gerichtet ist.) Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 96
97 b. Die Wiedereinführung des Unterrichts in der Muttersprache in den Dorfschulen mit Beibehaltung der Reichssprache als Unterrichtsgegenstand. c. Den Pachtbauern die Möglichkeit zu geben, das von ihnen urbar gemachte Land mit Hülfe der Bauernbank käuflich zu erwerben und zwar auf dieselbe Weise wie die Zinsbauern. d. Dasselbe Recht ihnen zur Erwerbung von Land zu geben, wie es den russischen Bauern, die ohne Land sind, eventuell gewährt werden wird. 3) Die Bitte wurde nicht bloß von den Nowogradwolynischen Kolonisten, sondern v o n d e n K o l o n i s t e n d e r S h i t o m i r s c h e n, H e i m t a l e r, E m i l t s c h i n e r u n d N o v o g r a d w o l y n s k e r Kirchspiele im Gouvernement Wolhynien, also ca. 165 K o l o n i e n mit ca S e e l e n eingereicht. 4) Graf Witte hat den 4 Deputierten (nicht 2) seine Sympathien ausgesprochen und seine Mithülfe in der Reichsduma zugesagt, ihnen a b e r k e i n e n R a t g e g e b e n in betreff des Anschlusses an irgend eine politische Partei. Für die Richtigkeit obiger Zurechtstellung, die ich auch der Zeitung Deutsches Leben zugehen lassen werde, kann ich bürgen, da ich die Petition vor Abfahrt der Deputierten in der Hand gehabt habe und dieselben gleich nach der Rückkehr aus Petersburg mir von der Audienz Bericht erstattet haben. J. B. Baltische Post 2. Juni 1906 Sasslawl, 1. Juni. Ein s t a r k e r P l a t z r e g e n, der in Sasslawl und im benachbarten Ostrogschen Kreise niederging, hat die Holzbrücken fortgeschwemmt und die am Ufer belegenen Häuser unter Wasser gesetzt. Die Verluste sind bedeutend. Rigasche Rundschau 16. März 1907 Shitomir. Die Stadtverwaltung beschloß, den Juden den S o n n t a g s h a n d e l freizugeben. Auch die christlichen Geschäftsinhaber können ihre Geschäfte offen halten, dürfen jedoch nicht ihre Angestellten beschäftigen. Rigasche Rundschau 2. April 1907 Erfindung eines Bohrers, der künftig in keiner Waldwirtschaft, noch auch in Landwirtschaften fehlen dürfte. Der Od. Ztg. wird aus S h i t o m i r geschrieben: Bis vor ca. 12 Jahren wurde in dem einst so waldreichen Wolhynien die Erneuerung von Waldflächen nur auf natürliche Weise erzielt, indem man auf den abgehauenen Flächen von Nadelwäldern Samenstämme stehen ließ, und die Laubwälder sich durch Samen und Anwuchs von den Wurzeln erneuerten. Nachdem aber der Holzbedarf so rapide gestiegen war, mußte die Walderneuerung, um der Nachfrage für die Zukunft zu genügen, intensiver betrieben werden. Zu diesem Zwecke werden Waldflächen besät und dann mit 3 5jährigen Stämmchen jährlich hunderte von Dessjatinen bepflanzt. Zur Anpflanzung aber müssen Löcher gegraben werden, was sehr zeitraubend und kostspielig ist. Um diesen Uebelstand zu beseitigen, kam der Kronsoberförster Herr Nikolai Rosanow auf den Gedanken, einen speziellen Bohrer herzustellen, mit dem man die Löcher zur Bepflanzung von Waldflächen fertig stellen könnte. Nach vielen Versuchen ist dies Herrn Rosanow vortrefflich gelungen. Bei der Herstellung dieses Bohrers war dem Erfinder der Schmiedemeister und Kolonist der Kolonie B e r e s o w k a, unweit Shitomirs, A. Z i e l k e sehr behilflich. Der Bohrer bohrt nicht nur auf eine beliebige Tiefe, sondern w i r f t auch beim Bohren sogleich die E r d e Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 97
98 h e r a u s und schneidet daumendicke Wurzeln durch. Ein Arbeiter kann a n e i n e m T a g e leicht 800 L ö c h e r ausbohren. Der Bohrer wird bis jetzt in drei Größen hergestellt. Nachdem die hiesige Gouvernementsverwaltung für Landwirtschaft und Landeinrichtung sich von dem großen Nutzen dieses Bohrers überzeugt hatte, empfahl sie denselben allen Förstereien in Wolhynien. Letztere arbeiteten mit diesem Bohrer im verflossenen Herbst mit sehr großem Erfolg. Auch dürfte der Bohrer für die Anpflanzung von Hopfen, Wein, Sträuchern und sogar Obstbäumen zu verwenden sein, da er Löcher in jeden Boden bohrt. Für Deutschland hat Herr Rosanow schon ein Patent erhalten und ist auch schon in Oesterreich, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Rumänien und Bulgarien darum eingekommen. Eine Firma in Berlin, die sich mit Ausnützung von Erfindungen beschäftigt, bietet Herrn Oberförster Rosanow Mark für Abtretung des Privilegiums einer konkurrenzfreien Herstellung des beschriebenen Erdbohrers. Rigasche Rundschau 11. April 1907 Wolhynien. Die Deutschen in Wolhynien und ihre Agarverhältnisse. Das Odessaer Blatt Deutsches Leben schreibt: In der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war die Einwanderung der Deutschen aus Polen, Preußen und auch Oesterreich sehr groß, zum größten Teil hervorgerufen durch die Agenten der Wolhynischen Edelleute, die sie nach allen Seiten aussandten, um Ansiedler zu werben für ihre Güter, die sie um jeden Preis los sein wollten, doch wohl aus dem Grunde, weil sie so gut wie wertlos für sie waren, denn alles Bauholz war abgeholzt. So war Wolhynien zu jener Zeit, außer den paar miserablen Städten und elenden russischen Dörfern, weiter nichts als eine Wüste von Sumpf, Gestrüpp und verkrüppeltem Holz. Die Edelleute stellten den Kolonisten die vorteilhaftesten Bedingungen: wer kein Geld hatte, das Land für 10 Rbl. und weniger, höchstens 25 Rbl. die Dessjatine zu kaufen, konnte, soviel er wollte, auf Zins nehmen. Die ersten Jahre war es zinsfrei, je nach Uebereinkunft von 3 bis 6 Jahren. Nach den Freijahren hatte er von 50 bis 75 Kop. und 1 Rbl. Zins zu zahlen. Solche Kontrakte wurden gewöhnlich auf 40 Jahre geschlossen. Weil die Mehrzahl der Eingewanderten ohne jegliches Geld war, so nahm man diese gewiss günstigen Pachtverhältnisse sehr gern an. Dank diesem sind hier die meisten Dörfer auf Zins. Der deutsche Kolonist hat Wolhynien zu einer der schönsten Provinzen des Reiches gemacht. An Stelle der Moräste sind Weizen- und Kornfelder getreten. Wo früher der Eber die Zähne zeigte, klappert jetzt die Erntemaschine Zum Dank für seine Kulturarbeit droht aber gegenwärtig dem deutschen Kolonisten die Aussicht, Haus und Hof verlassen und sich eine neue Heimat suchen zu müssen. Die meisten Kontrakte sind bald, in zirka zwei Jahren, abgelaufen, die Russen und andere bieten dem Edelmann für das früher fast wertlose Land, das der Kolonist mit seinem Schweiß gedüngt und kultiviert hat, über 200 Rbl. für die Dessjatine. Der Edelmann braucht Geld. Er ist formell im Recht: er kann es verkaufen, wem er will. Aber den Wert, den das Land jetzt hat, hat der deutsche Kolonist ihm gegeben. Daß der Edelmann auf die alten Bedingungen Kontrakte abschließe, ist fast unmöglich, denn dazu gehört mehr denn ein edles Herz. Zwar gibt es auch Eigentümer unter den Kolonisten, doch denen geht es nicht besser, wie den Pächtern: dem Edelmann war es zu umständlich, sich selbst mit dem Landverkauf zu befassen, er trug das seinen Verwaltern auf; diese gaben das Geschäft wieder an Makler ab. Zum Dank dafür, wenn so ein Gut verkauft oder verpachtet war, bekam der letztere einige Hufen Land, meist die Hofesstelle. Die verkaufte er bei der nächsten Gelegenheit an wohlhabende Uebersiedler für ein schönes Stückchen Geld. Mit diesem ging er zum Verwalter eines anderen Gutes, kaufte ihm das Gut ab, zahlte das mitgebrachte Geld an, den Rest zahlte er, wenn er selbst das Gut verkauft hatte, was dann auch dank dem großen Zudrang aus dem landarmen Polen bald geschah. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 98
99 Auf diese Weise haben die Landverkäufer Zehn- ja Hunderttausende verdient. Nachdem der Edelmann sein letztes Geld bekommen hatte, erbot er sich, den Leuten jetzt das Land auch gesetzlich verschreiben zu lassen; aber nur wenige hatten ihre Papiere in Ordnung. Die sie hatten, bekamen nun in Gemeinschaft mit dem ersten Ankäufer die erste Verschreibung von dem ganzen Gut gegen das heilige Versprechen, den anderen, sobald sie ihre Papiere in Ordnung haben, ohne alle Umstände verschreiben zu lassen. Aber was geschah? Fürs erste suchten die Pokupschtschiki (wie sie jetzt alle genannt werden) sich gegenseitig zu überlisten. Schließlich gelang es den Ankäufern, als den Geriebensten, den Anteil der anderen an sich zu bringen. Jetzt schaltet und waltet er in der Gemeinde, daß ein chinesischer Mandarin von ihm lernen könnte. Wer vor ihm oder einem Angehörigen seines Hauses den gewünschten Respekt unterläßt, muß entweder gutwillig vom Land oder sich einen langen sonst kostspieligen Prozeß gefallen lassen, der in den meisten Fällen für ihn ungünstig verläuft. Rigasche Zeitung 21. April 1907 Petersburg. Deutscher Unterricht in den Kolonistenschulen. Die Verfügung des Ministerrats ist Allerhöchst bestätigt worden, wonach gestattet worden ist, in den Elementarschulen der ehemaligen Kolonisten der Gouvernements Bessarabien, Chersson, Taurin, Jekaterinoslaw, Wolhynien und des Donischen Heeresgebiets, a l l e F ä c h e r des Elementarunterrichts in d e u t s c h e r Sprache zu ertheilen, mit Ausnahme der russischen Sprache, Geschichte und Geographie. Der Minister der Volksaufklärung ist ferner ermächtigt, diese Maßnahme auf deutsche Schulen ehemaliger Kolonisten a n d e r e r O r t e auszudehnen. Düna-Zeitung 26. Mai (8. Juni) 1907 Wolhynien. Gründung eines Deutschen Vereins. An die Gemeindeschulzen der deutschen Kolonien in Wolhynien wurde, wie die Zeitung Deutsches Leben mitteilt, vor kurzem folgendes Rundschreiben versandt: Hiermit bringe ich zur allgemeinen Kenntnis, daß in Wolhynien ein Deutscher Verein im Entstehen begriffen ist. nachdem wir vergeblich verschiedene Mittel und Wege versucht haben, die Lage der Deutschen in Wolhynien zu bessern, erwies sich die Gründung eines solchen Vereins als einziges Mittel, die schweren Notstände, unter denen die Deutschen in Wolhynien vielfach leiden, zu lindern. Denn nur Einigkeit macht stark und ermöglicht eine gegenseitige Hilfeleistung; daher haben auch unsere Glaubensgenossen im ganzen russischen Reiche sich fast überall bereits zu Vereinen zusammengeschlossen. Der Hauptzweck unseres Vereins ist eine gegenseitige Hilfeleistung der Deutschen in Wolhynien auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens, der Schule und der Kirche. Die Statuten des Vereins sind bereits ausgearbeitet, und ihre Bestätigung wird in der nächsten Zeit erwartet. Als erstes Unternehmen des Wolhynischen Deutschen Vereins ist in Aussicht genommen die Gründung einer gegenseitigen Feuerversicherungskasse für ganz Wolhynien, deren Kapital zum Unterhalt einer Leihkasse dienen soll, wo die Mitglieder des Vereins unter günstigen Bedingungen Kredit erlangen können. Zur Versicherung sollen angenommen werden nicht nur die Gebäude (wie in der Wolost), sondern außerdem noch sämtliches Inventar, d.h. Wirtschaftsgeräte, Maschinen, Hausrat und Viehstand, und zwar in einer Summe, die dem wirklichen Werte des Besitztums entspricht, ohne daß die Versicherung, wie in der Wolost, auf eine bestimmte Summe von jeder Wirtschaft beschränkt ist. Der Preis der Versicherung wird jedenfalls niedriger sein als bei der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 99
100 freiwilligen Versicherung in der Wolost (die unfreiwillige Versicherung in der Wolost von 30 Rubel auf jede Wirtschaft muß selbstverständlich bestehen bleiben.) Die Glieder der Verwaltung, sowohl des Wolhynischen Deutschen Vereins, als auch der Feuerversicherungs- und Leihkasse, werden von den Mitgliedern des Vereins aus ihrer Mitte gewählt, stehen unter der Kontrolle der Regierung und müssen alljährlich einen genauen Rechenschaftsbericht veröffentlichen. Im Namen der übrigen Gründer des Wolhynischen Deutschen Vereins Th. v. Gööck Rigasche Zeitung 9. Juni 1907 Wolhynien. Zur Gründung eines deutschen Vereins in Wolhynien wird der Nordl. Ztg. von Herrn Th. v. Gööck mitgeteilt: Wir haben uns einem Vorschlag des Herrn Professors Knauer in Kiew gemäß, mit einer Kiewer Gruppe zur Gründung eines Südwestlichen Deutschen Vereins zusammengeschlossen, der alle in den Gouvernements Kiew, Wolhynien, Podolien, Poltawa und Tschernigow wohnenden Deutschen zu gegenseitigen Hilfeleistung auf allen Gebieten vereinen soll. - Die Statuten dieses Vereins sollen am 1. Juni der Kiewer Gouv.-Behörde zur Registrierung eingereicht werden. Rigasche Zeitung 27. Juni 1907 Müllerkongresse. pta. S a s s l a w l, 26. Juni. Im Flecken Schepetowka wird am 2. Juli ein Kongreß der Müller des Gouvernements Wolhynien eröffnet werden, auf dem über die Bedürfnisse des Müllergewerbes, angesichts der zu erwartenden Mißernte in Roggen und Weizen, beraten werden soll. Düna-Zeitung 17. August 1907 Wolhynien. Kreis Rowno. Kostopol. Furchtbare Feuersbrunst und Zerstörung einer Stadt. In der Nähe der Eisenbahnstation Kostopol liegt die gleichnamige Stadt Kostopol und ½ Werst von dieser entfernt die deutsche Kolonie Kostopol. Seit einiger Zeit schon erhielten die Einwohner der Stadt Drohbriefe, es werde in der Stadt brennen, falls die Einwohner nicht gewillt sein sollten größere Geldsummen zum Besten verschiedener "dunkler Mächte und Parteien zu opfern". Diesen Erpressungsversuchen würde von Seiten der Einwohnerstadt keine besondere Beachtung geschenkt. Sonnabend, den 11. August, entstand nun gleichzeitig an verschiedenen Stellen in der Stadt Feuer und vom Winde begünstigt war in kujrzer Zeit die halbe Stadt ein einziges Flammenmeer. Die druch die Angst kopflos gewordenen Einwohner machten nur schwache Löschversuche und am Abend war die ganze Stadt ein Trümmerhaufen. Verschont blieben nur zwei deutsche Fleischerläden dank ihrer isolierten Lage. Die Einwohner der benachbarten deutschen Kolonie Kostopol leisteten tatkräftige Hilfe. Die äußerst schwache Polizei hat nicht die geringste Spur von den Brandstiftern gefunden. F. Rigasche Rundschau 8. Oktober 1907 Einkauf von Weizen im Kaukasus für die Mühlen in Wolhynien. Die großen Mühlen in Wolhynien, die Sasslawer, Schepetower und Tschartorisker, haben infolge des Mangels an Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 100
101 örtlichem Getreide seinerzeit einen Bevollmächtigten zum Einkauf mehrerer Partien Weizen für die Mühlen von Wolhynien in den Kaukasus, ins Kubangebiet, abkommandiert. Wie aus Sasslawl mitgeteilt wird, wurde von ihm für die Sasslawler und Schepetower Mühle zu 8000 Waggons, und für die Tschartorisker 4000 Waggons angekauft. Rigasche Rundschau 5. Oktober 1907 Der russische Bauer und die Einzelhofwirtschaft. Ein charakteristischer Zug des bäuerlichen Anteilbesitzes liegt bekanntlich in der ungeheuren Zersplitterung des Besitzes jedes Einzelwirten in kleine Zwischenfelder, wobei die Zahl der einem Wirten gehörenden Felder oft hundert oder mehr erreicht. Diese Erscheinung, welche unter der Bezeichnung der inneren Zwischenfelderwirtschaft bekannt ist, läßt sich sowohl bei Gemeinden als auch beim Hofbesitz beobachten, weil die Bauern durch diese unsinnige Teilung und Zersplitterung einen Ausgleich des Besitzes schaffen wollen, damit kein Bauer vom besseren Boden ein Fleckchen mehr erhält. Der Bauer selbst teilt das ihm zukommende Landstück nach dem üblichen Bau der Dreifelderwirtschaft in mehrere Teile. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige Zersplitterung des Besitzes von schädlichen Folgen für die Wirtschaft begleitet ist und eine rationelle Bearbeitung der Felder meist unmöglich macht. Der Schaden, den diese innere Zwischenfelderwirtschaft hervorruft, ist den Bauern nicht unbekannt, doch ist der Bauer zu träge, um sich von der althergebrachten Felderwirtschaft loszusagen und auf neue Methoden überzugehen. Um diese Trägheit zu vertreiben und im Bauern die Lust nach der Vielfelderwirtschaft zu wecken, sind die Kreis-Landeinrichtungskommissionen ins leben gerufen und ihnen als Hauptpflicht die Arbeit zudiktiert worden, den bäuerlichen Gemeinden zu helfen, ihren Landbesitz zu verbessern. Hauptsächlich sollte bei dieser Förderung der Uebergang zur Einzelhofwirtschaft im Auge behalten werden. Die Mehrzahl der Landeinrichtungskommissionen richtet, wie die Now. Wremja laut einem Referat des Herold versichert, ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Anreizung der Bauern zum Uebergang zur Einzelhofwirtschaft, wobei den zur Einzelhofwirtschaft übergehenden Bauern allerhand Vorteile, wie freies Bauholz aus den Kronsforsten usw. gewährt wurde. Dank diesem Vorgehen der Ausschüsse ist es gelungen, das Mißtrauen der Bauern gegen die neue Wirtschaftsführung teilweise zu beseitigen und sie zum Uebergang zur Einzelhofwirtschaft zu bewegen. Dementsprechend hat in diesem Jahr ein ganz kolossaler Uebergang der Bauern zur Einzelhofwirtschaft stattgefunden, der sich besonders in den Gourvernements des Südwest-, des Nordwestgebietes und der weißrussischen Gouvernements beobachten ließ. Außerdem trag dieses Bestreben aber auch dort zutage, wo sich bisher kein einziger Fall eines solchen Ueberganges beobachten ließ. So im Kreise Nowousen des Gouvernements Ssamara, im Kreise Dwinsk des Gouvernements Witebsk und im Gouvernement Jekaterinosslaw. Den ersten Platz der Zahl der Höfe nach, die zur Einzelhofwirtschaft übergegangen sind, nimmt das Gouvernement Wolhynien ein, wo die Zahl der neuen Einzelhöfe 3935 erreicht. Es folgt das Gouvernement Chersson mit 3162 Einzelhöfen, Witebsk it 3012, Jekaterinosslaw mit 2712, Grodno mit 2630, Ssamara mit 2100, Mohilew mit 1492, Podolien mit 1105 und Minsk mit 1085 Höfen. ( ) Die Gesamtzahl der Wirte, welche im Verlauf des letzten Jahres zur Einzelhofwirtschaft übergegangen sind, beläuft sich in den 34 obengenannten Gouvernements immerhin auf ( ) Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 101
102 Düna-Zeitung 11. (24.) Oktober 1907 Kiew. Ein neuer deutscher Verein. Vor kurzem hat wieder ein deutscher Verein die Bestätigung der Regierung erhalten. Es ist dies der südwestliche Verein der Deutschen Rußlands, welcher die Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien umfaßt. Die Bestätigung hat über ein Jahr auf sich warten lassen, da die in erster Fassung eingereichten Satzungen nicht genehmigt wurden. Das hervorragende Verdienst um die Gründung des Vereins hat der Rechtsanwalt Gööck, ein aus Dorpat stammender Balte, der als einziger deutscher Advokat in Wolhynien lebt. So haben nun auch die über deutschen Kolonisten Wolhyniens eine nationale Organisation gefunden. Als erste Aufgabe hat sich der Verein die Gründung eines Volksschullehrerseminars in Heimtal bei Shitomir, einen Feuerversicherungsverein auf Gegenseitigkeit und die Gründung von kleinen Kreditkassen gestellt. Eine nicht minder wichtige Aufgabe des Vereins wird die Ueberwachung der starken deutschen Abwanderung aus Wolhynien sein. Bei derselben wird es sich darum handeln, dafür Sorge zu tragen, daß die abwandernden deutschen Elemente vor der Auswanderung nach Kanada, Südamerika, Ostasien und ähnliche Gebiete, wo sie dem deutschen Volkstum und der deutschen Kulturgemeinschaft auf die Dauer verloren gehen müssen, bewahrt bleiben. Der Verein beabsichtigt enge Fühlung mit den deutschen Vereinen in den baltischen Provinzen zu halten. Rigasche Rundschau 2. November 1907 Sasslawl, 1. Nov. Im Dorfe Gorinki sind 116 Häuser mit allen Nebengebäuden niedergebrannt. Nur die Kirche allein ist stehengeblieben. Düna-Zeitung 4. (17.) Dezember 1907 Aus Kiew wird unter dem 27. November der Odess. Ztg. geschrieben: Gestern Abend, am 26. November, fand in Kijew, im Saale der Kirchen-Realschule die konstituierende Sitzung des Südwestlichen deutschen Vereins statt, dessen Tätigkeit die Gouvernements Kijew, Wolhynien, Podolien, Tschernigow und Poltawa umfaßt. Trotz ungünstiger Zeitlage für viele war die Versammlung doch eine recht zahlreiche. Besonders erfreulich war, daß ungeachtet weiter Reisen von auswärts mehr kamen, als erwartet werden konnte. Es waren erschienen die Herren Pastoren: Barth (Shitomir), Johannson (Heimtal), Schlupp (Lutzk), Althausen (Rowno) und Stamm (Poltawa), ferner Herr Rechtsanwalt von Gööck (Lutzk), Kirchenrat Kaiser (Poltawa), mehrere Kolonisten aus Wolhynien und einige andere. Die Sitzung eröffnete Professor F. Knauer durch eine längere Ansprache, in welcher er eine Parallele zwischen Früher und Jetzt zog, darauf hinwies, daß die äußeren Bedingungen zur Verwirklichung deutscher Ideale nunmehr gegeben seien, und dartat, daß das Deutschtum sittlich wert genug sei, um erhalten und gefördert zu werden. Darauf wurde von Gööck als Leiter der Versammlung gewählt, Rechtskonsulent Lösch als Protokollführer und Pastor Königsfeldt (Kijew) als Referent. Es folgte dann Verlesung der Statuten durch Lösch mit eingeflochtenen Erläuterungen sowie Bericht des Organisationskomitees durch Knauer. Eine Pause wurde zu Beitragszeichnungen benützt. In der darauffolgenden Budgetfrage wurde dem Vorstand für das erste Jahr freie Vollmacht erteilt. Es kamen sodann Anfragen, Mitteilungen und Reden. Pastor Althausen sprach über wolhynische Bauernverhältnisse, Pastor Johannson desgleichen, dabei das Küsterseminar in Heimtal dem Verein besonders ans Herz legend, und Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 102
103 Pastor Stamm über die deutschen Verhältnisse im Poltawaschen. Alle drei betonten den großen geistigen und materiellen Notstand der Landleute und baten um Hilfe. Gööck kündigte an, daß in Lutzk die Gründung einer Leih- und Feuerversicherungskasse unverzüglich in Angriff genommen werde. Die anwesenden Kolonisten wünschen sich einen Konsumverein oder landwirtschaftlichen Verein einzurichten und fragen, wie sie das anzufangen hätten. Kirchenrat Kaiser legt die deutsche Sache vor allem den Müttern ans Herz. Zuletzt Wahl des Vorstandes. Einstimmig per Akklamation wurden gewählt: Prof. Knauer als Präsident, Rechtskonsulent Lösch als Vizepräses, Notarius Krüger als Sekretär und Wilhelm Blume als Kassierer; ebenso weitere 7 Vorstandsmitglieder, darunter 2 Damen, 5 Kandidaten, darunter ebenfalls 2 Damen, und endlich 4 Revidenten. Da viele auf sofortige Beitragszahlung nicht vorbereitet waren, so zeichneten vorläufig bloß 90 von den Anwesenden, was mit der bescheidenen Summe, die die Kolonisten mitbrachten, zusammen an die 800 Rbl. ergab. Viele weitere Zeichnungen sind bereits angekündigt. Die Versammlung lief schön und harmonisch. Es lag Begeisterung auf den Gesichtern und Hoffnungsmut sprach aus ihnen, wie mans nicht erwartet hatte. Auch wurde es direkt gesagt, welch außerordentliche Bedeutung man in Stadt und Land dem Verein beimesse. Wer zu rasch ernten will, wird enttäuscht. Viel Geduld und unermüdliche Arbeit ist nötig; nur so darf man auf Gottes Segen hoffen. Düna-Zeitung 29. Dezember 1907 Rowno (Wolhynien). Dr. Richter. Einen schweren Schlag hat das Deutschtum in Wolhynien durch den kurz vor Weihnachten erfolgten Tod des Doktors Richter erhalten. 4 Werst von der Kreisstadt Rowno hat der bekannte Philantrop Baron Steinheil auf seinen Gütern vor mehreren Jahren ein schönes Krankenhaus erbaut. Das Krankenhaus nahm zwar nur eine beschränkte Anzahl Kranker auf, aber völlig ohne Entschädigung. Da darf es einen nun nicht Wunder nehmen, wenn dieses Krankenhaus ständig bis auf den letzten Platz besetzt war. An diesem Krankenhaus wirkte nun unser Landsmann Dr. Richter und hat sich durch seine unermüdliche Treue im Beruf und durch sein wahrhaft edles und menschenfreundliches Wesen die Sympathien aller derjenigen erworben, die mit ihm in nähere Berührung kamen. Da raffte ihn plötzlich in wenigen Tagen ein Nervenfieber dahin. Er hinterläßt eine Witwe mit mehreren unerzogenen Kindern. Die Leiche des Verstorbenen wurde aus Rowno in das Städtchen Gorodok zur letzten Ruhe überführt. Hunderte von Leidtragenden, darunter auch die griechische Geistlichkeit, gab diesem Wohltäter der Menschheit das letzte Geleit. F. Rigasche Zeitung 8. Januar 1908 Verkauf einer Stadt. Die S t a d t D u b n o in W o l h y n i e n gehört der Gräfin S c h u- w a l o w. Der österreichische Graf Offensdorf hat nun der Gräfin Schuwalow den Vorschlag gemacht, ihm die Stadt für 4 Mill. Rubel zu verkaufen. Er hat die Absicht, die Stadt zu parzellieren und die einzelnen Grundstücke zu verkaufen. Düna-Zeitung 21. Februar 1908 Vom Müllerkongreß des Südwestgebietes. Auf dem Kongresse der Müller des Südwestgebietes ist, wie ein Telegramm aus Kiew meldet, folgendes beschlossen worden: In Kiew, Shitomir und Kamenez-Podolsk zwecks Ausbildung von Technikern Müllerlehrwerkstätten zu errichten, eine Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 103
104 Gesellschaft gegenseitigen Kredits für Müller zu organisieren, den Auslandsexport von Mehl durch Prämien zu heben, um Herabsetzung des Transporttarifs für Mehl nachzusuchen. Rigasche Zeitung 1. März 1908 Lutzk. Vom Südwestlichen Deutschen Verein. Der Nordlivl. Ztg. wird geschrieben: Am 25. Februar fand in Lutzk unter dem Vorsitze des Vereidigten Rechtsanwalts v. Gööck die Günderversammlung der L u t z k e r O r t s g r u p p e d e s S ü d w e s t l i c h e n D e u t- s c h e n V e r e i n s statt. Es traten der Ortsgruppe 69 Mitglieder bei; die Summe der Beiträge betrug 128 Rbl. 50 Kop. Die Ortsgruppe hat als besonderen Zweck die Gründung einer d e u t- s c h e n E l e m e n t a r s c h u l e in Lutzk und einer K l e i n k r e d i t K a s s e für Mitglieder des Vereins. In den Vorstand der Ortsgruppe wurden gewählt die Herren: Th. v. Gööck (Präses), Jul. Rosenbaum (Kassierer), Aug. Schulze (Schriftführer), Herm Mootz, Joh. Kauk, Ant. Knecht und Jak. Bäuerle. Die nötigen Schritte zur Gründung der Kleinkredit-Kasse sind bereits eingeleitet. Der S. W. D. V. zählt jetzt bereits über 533 Mitglieder. Ortsgruppen sind entstanden in: Nowograd- Wolynsk, Tutschin, Heimthal, Belowesh und Lutzk. Düna-Zeitung 6. (19.) März 1908: Luzk. Der Südwestliche Deutsche Verein zählt jetzt über 533 Mitglieder. Ortsgruppen sind entstanden in: Nowograd-Wolynsk, Tutschin, Heimthal, Belowesch und Luzk. Düna-Zeitung 17. März 1908 Gesuche deutscher Kolonisten in Wolhynien um Landankauf mit Hilfe der Bauernbank. Wie schon des öfteren auch an dieser Stelle berichtet wurde, schreibt die Odessaer Zeitung, sind unter den in Wolhynien wohnenden deutschen Kolonisten ein gut Teil nur Zinsbauern. Viele von ihnen durch ihre eigene Schuld, da sie es in früheren Jahren versäumt hatten, das Land als Eigentum anzukaufen, ehe ihnen später dieses Recht durch das Gesetz genommen wurde. Seit dem großen segenbringenden Manifest vom 17. Oktober 1905 erhielten ja alle Deutschen das Recht, Land als Eigentum zu erwerben. Doch waren die meisten mit eigenen Mitteln nicht imstande, dieses auszuführen, da das Land, welches die Kolonisten durch ihren Fleiß zu höchster Kultur gebracht hatten, von den Gutsbesitzern zu hoch angeschlagen wurde. Die Deutschen versuchten, mit Hilfe der Bauernbank Land zu erwerben; doch wurde ihnen solches abgeschlagen mit dem Bescheid, daß Vorschuß nur den geborenen Russen gewährt wird. Diese Ansicht wurde auch seinerzeit vom Kanzleidirektor für Landwirtschaft und Landeinrichtung Herrn Rittich auf der hiesigen Sitzung über Landzuweisung betont. In dieser bedrängten Lage wandten sich viele Kolonisten aus den Kreisen Shitomir, Nowogradwolynsk und Rowno an den Herrn Minister des Innern mit Gesuchen, ihnen zu bewilligen, das Zinsland mit Hilfe der Bauernbank als Eigentum zu erwerben. Die Kolonisten berufen sich darauf, daß nicht nur sie, sondern ihre Vorfahren seit langer Zeit schon auf ihrem Zinsland wohnten und es zu hoher Kultur gebracht haben, indem sie dabei viel Fleiß, Ausdauer und Energie an den Tag gelegt hätten. Wenn jetzt die Gutsbesitzer die Ländereien an andere Kauflustige abtreten, sind die Kolonisten ruiniert und jeglicher Existenzmittel beraubt. Diese Gesuche sind vom Minister des Innern an die hiesige Wolhynische Gouvernementskommission für Landeinrichtung übergeben worden. Die Kommission soll ihr Gutachten Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 104
105 abgeben, ob es zweckmäßig ist, wenn die Bittsteller als Deutsche mit Hilfe der Bauernbank Land erwerben können. Eine für die genannten Kolonisten günstige Lösung dieser Frage wird auch von großem Nutzen und Segen für die übrigen Kolonisten sein, da auch ihnen dieses zugute kommen würde. Es ist wohl hoch an der Zeit, daß gegen chauvinistische Agrarpolitik Einspruch erhoben wird, die allenthalben Untertanen erster und zweiter Klasse zu konstruieren beliebt. Das ist mit den elementarsten Gleichberechtigungsprinzipien völlig unvereinbar. Rigasche Zeitung 17. Juli 1908 (Auszug) Die L a n g l e b i g k e i t scheint nicht bloß unter den Lutheranern des Baltenlandes, sondern auch in den übrigen Gemeinden des weiten Reiches zu florieren. ( ) Im St. Petersburger Bezirk soll ihrer über 180 Männer und 280 Frauen gegeben haben, davon in Wolhynien 40 resp. 54; ( ) Fälle von einem Alter über 90 kamen überall vor; in Kurland wurde das Alter von 100 bis 108 Jahren, im Gouv. Nowgorod von 105, in Wolhynien von 104, in Tobolsk von 109 registriert. Düna-Zeitung 7. (20.) August 1908: Überführung der Scheiblerschen Fabriken? Wie der Kraj erfährt, führt die Aktien-Gesellschaft K a r l S c h e i b l e r i n L o d z Unterhandlungen mit dem Besitzer von Rozyszcze, Kreis Luck, in Wolhynien, Fürsten Golizin, zwecks Erwerbung dieser Güter und Überführung der Lodzer Fabriken nach dort. Das Städchen, welches am Styr liegt, der an dieser Stelle in einem breiten und tiefen Flußbett dahinschießt und eine von billigen Arbeitern bewohnte Umgebung hat, soll sich vorzüglich zur Anlage von Spinnereien eignen. In Rozyszcze wohnen gegenwärtig bereits viele Deutsche, die Färbereien und Appreturen besitzen, in welchen leichte Tuchwaren hergestellt werden. In der letzten Zeit tauchten auch Handwebstühle auf, auf denen billige Waren für die örtliche Bevölkerung hergestellt werden. Der Preis, der für Rozyczcze geboten wird, erreicht 2 Millionen Rubel. (Anmerkung: Diese Meldung wird in der nachfolgenden Ausgabe vom 8. August als müßige Erfindung bezeichnet, nachdem konkrete Nachforschungen angestellt worden sind.) Düna-Zeitung 13. August 1908 Wolhynien. Die Wirtschaften der deutschen und tschechischen Kolonisten bieten ein so wesentlich anderes Bild als die ihrer russischen Nachbarn, daß. wie der Reg. Anz. meldet, die Agrarordnungskommission des Kreises Luzk eine Enquete über diese Wirtschaften veranstaltet, deren Resultate d e m r u s s i s c h e n B a u e r n a l s A n l e i t u n g in die Hand gegeben werden sollen. Ob das wohl helfen wird? Düna-Zeitung 28. November 1908 Ein Lehrerseminar für die deutschen Kolonisten im Süden. In der St. Pet. Ztg. veröffentlicht Generalsuperintendent G. P i n g o u d einen Aufruf, in dem er um Gaben für ein d e u t s c h e s K ü s t e r l e h r e r s e m i n a r bittet, zu dessen Unterhalt noch 5000 Rbl. dringend erforderlich sind. In dem Aufruf heißt es u.a.: Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 105
106 Auch die Kreise der deutschen Landbevölkerung in Rußland bedürfen viel mehr Licht der Schulung und Erziehung zur Erkenntnis und Zartgefühl. Die Roheit ist noch eine gewaltige. Als ich in den Jahren ausgedehnte Reisen durch die deutschen Kolonien Wolhyniens machte und mich in den Dorfschulen mit den Bauernkindern unterhielt, fand ich in ihnen ein prächtiges Material, gesunde, blau- und braunäugige, offenherzige Menschenkinder, aber sie waren unkultiviert wie das Strauchwerk am Waldesrand und unwissend wie die jungen Kälber auf der Weide. Die Schreibhefte, die ich mir vorzeigen ließ, lieferten den Beweis, daß viele Lehrer nicht imstande waren, einen genügenden Sprachunterricht zu geben. Wie sollte es auch anders sein, da oft Bauernwirte oder Leute, die in den Städten nirgends passende Anstellung fanden, hier zu Lehrer avanciert waren. Die Beratungen, welche mit den Pastoren Wolhyniens in dieser Sache gehalten wurden, führten zu dem einstimmigen Resultat, daß wir ein d e u t s c h e s K ü s t e r- l e h r e r s e m i n a r für die Gouvernements W o l h y n i e n, P o d o l i e n, K i e w, P o l- t a w a und T s c h e r n i g o w nötig haben. Sind doch allein in Wolhynien 400 deutsche Ansiedlungen mit einer Bevölkerung von ca Seelen. Wir haben 7 J a h r e gearbeitet, bis uns die S t a t u t e n gehörigen Ortes b e s t ä t i g t worden sind, und zwar in Form von Küster-Klassen, die als Fortsetzung der zweiklassigen ministeriellen Schule eingerichtet werden sollten. Das Werk ist zustande gekommen. Dank der großen Hilfe der Unterstützungskasse für evangelisch-lutherische Gemeinden in Rußland, von der wir einmalig zum Bau Rubel und fortlaufend jährlich 3000 Rubel erhalten haben, konnte in der Kolonie H e i m t a l in Wolhynien, ein großes, zweistöckiges Steingebäude mit allen für den Zweck benötigten Räumlichkeiten errichtet werden, das i m H e r b s t d i e s e s J a h r e s seiner Bestimmung übergeben worden ist. Natürlich haben die Rubel zum Bau nicht gelangt. Es wurde in den dortigen Gemeinden auch noch kollektiert und eine Schuld liegt ebenfalls auf dem Hause. Herr Pastor J o h a n s o n, der am Ort selbst wohnt, ist die Seele des Ganzen, er hat keine Mühe, Kraft, Opfer und Zeit gescheut, das Werk in Gang zu bringen. Im August dieses Jahres ist die Anstalt mit 13 Zöglingen eröffnet ein kleiner, bescheidener Anfang, und wie schwer ist auch der geworden. Da die Sache neu ist, so melden sich die jungen Leute erst spärlich, nach einigen Jahren aber werden wir mehr als nötig haben; denn das Bildungsbedürfnis wacht auf. Der Herr Pastor G r u n d s t r ö m ist der Leiter der Anstalt, ihm zur Seite steht ein russischer Lehrer und ein Musiklehrer. Die Schüler sind alle im Internat. Die Unterrichtssprache ist das D e u t s c h e. Sie werden zu Küstern und Volksschullehrern ausgebildet. Wir haben aber die Absicht, nach dieser Seite hin mit der Zeit noch eine d r i t t e K l a s s e zu eröffnen, da das Russische mehr gepflegt werden muß. In den Freistunden wird ihnen auch noch Gartenkultur und Obstzucht angezeigt. So hat hier unter viel Mühe und Sorge eine edle Arbeit begonnen, die gewiss die Sympathie und Mitfreude aller einsichtigen und feinen Menschen finden wird, welche eine hohe Aufmerksamkeit und einen liebreichen Sinn für das Volk und seine Hilflosigkeit haben. Aber die Angelegenheit hat einen großen Fehler. Das V o l k i s t n o c h s o b e f a n g e n i n s e i n e m U r t e i l und so unerzogen für idale Zwecke etwas zu opfern, daß es an einem solchen ihm geltenden Werk o h n e V e r s t ä n d n i s vorübergeht. Einige einsichtige und erfahrene Männer erkennen wohl den großen Nutzen, der hier entsteht, aber sie dringen nicht durch. Die Masse ist wie die törichten Kinder, die alles, was Schule heißt, nicht schätzen. So kommt es, daß wir mit diesem Werk noch sehr bedrängt dastehen. Die Kollekten in den Gemeinden fallen spärlich aus, reiche Leute sind nicht vorhanden, die größere Spenden machen, und so darbt das Seminar wie manches andere edle Werk. Es fehlt uns an den nötigen Geldmitteln, den Lehrern ihre Gagen zu zahlen, den Zöglingen das tägliche Brot zu geben und die auf dem Hause noch liegende Schuld zu bezahlen! Das ist eine sehr schwer Sorge, die wir täglich fühlen und allein - nicht beseitigen können. Die Not ist nur eine augenblickliche, im Jahre 1909 hoffen wir Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 106
107 es schon leichter zu haben. Wir brauchen im Augenblick 5000 Rbl. um gerettet zu sein. Das ist eine für unsere Verhältnisse große Summe, aber das Werk ist es wert, daß man sie dafür opfert. Düna-Zeitung 27. Oktober 1908 Polen. Ein Boykott jüdischer Waren wird in einzelnen Teilen Polens und Wolhyniens in Vorschlag gebracht. Die Now. Wr. meint, daß der Vorschlag, den Juden aufs Portemonnaie zu klopfen die vernünftigste Art des Antisemitismus sei und behauptet, beim bloßen Aussprechen des Planes sei blasses Entsetzen in die jüdische Presse gefahren. Düna-Zeitung 28. Januar 1909 Shitomir. Von der deutschen Kolonie schreibt man uns: Die paar Hundert Deutsche, die kaum ½ Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, leben hier in der ganzen Stadt zerstreut und gehören den verschiedensten sozialen Stellungen an. Es gibt unter ihnen Gelehrte und Handwerker, Beamte und Hausknechte, Gutsbesitzer und Kaufleute, Köchinnen und Gouvernanten, und ist daher der Verkehr unter ihnen viel geringer als mit der russichen Gesellschaft in gleicher Stellung. Dies hat zur Folge, daß die Kinder, die in russischer Umgebung aufwachsen und russische Schulen besuchen, ihre Muttersprache nur höchst mangelhaft beherrschen, und die Eltern, des besseren Verständnisses wegen und aus Bequemlichkeit, sogar in der Familie sich der russischen Sprache bedienen. Hand in Hand mit dieser Entfremdung von der Muttersprache, tritt auch eine Entfremdung der Kirche gegenüber ein. Weil die Sprachkenntnisse nicht ausreichen, werden die Lehren nicht mehr verstanden und die Sitten und das Rechtsgefühl verwildern. Zur Bekämpfung solcher Uebelstände hat nun Pastor Barth gleich nach seiner Uebersiedelung im Sommer 1907 aus Nowogradwolynsk mit der ihm eigenen Frische, das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Deutschen zu beleben versucht. Allwöchentliche Singabende erwärmen jetzt die Herzen für das deutsche Lied und sorgen für Chorgesang an den Festtagen. Arbeitsabende vereinigen die fleißigen Hände der Damen, um im munteren Beisammensein für die Gemeindearmen zu sorgen. Sonntagsschule, Dienstbotenabende und besonders der Deutsche Abend geben vielseitige Anregung und sollen die deutsche Gesellschaft einen und stärken. Welchen Erfolg diese Tätigkeit bisher gehabt hat, sieht man deutlich aus den Resultaten der Arbeitsabende. Der im verflossenen November zum Besten der Gemeindearmen veranstaltete erste Basar brachte nämlich den für hiesige Verhältnisse unglaublichen Reingewinn von über 600 Rubel ein. Ein hübsches Bild bieten die hohen, eleganten und elektrisch beleuchteten Räume des Pastorats, wenn eine hundertköpfige, lebensfrohe Menge dieselben füllt. Der Schöpfer dieser Räume und der nebenanliegenden stattlichen Kirche, der Pastor emer. Wasem, fehlt dann auch nicht und folgt mit Interesse den Arbeiten seines Schwiegersohnes. Nach mehr als 40jähriger Amtstätigkeit hat der im ganzen Gouvernement (bei den Kleinrussen als Nemetzki Archierei ) hochverehrte Greis sich ein idyllisches Heim im Schatten der Kirche erbaut und verbringt in Ruhe mit seiner würdigen Gemahlin hier seinen Lebensabend. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 107
108 Düna-Zeitung 5. Februar 1909 Von der Synode des Petersburger Konsistorialbezirks (Auszug) ( ) Sehr bedenkliches ist von den Wolhynischen Kirchspielen zu berichten. Sie sind zum Teil dem Verfall preisgegeben. Dank der Agrarpolitik der Regierung: Die Agrarbank darf den Deutschen kein Geld zum Landkauf ausfolgen, und andererseits, weil der Gutsbesitzer, der sein Land veräußert, nicht so lange warten will, bis der Deutsche zahlen kann. Da ist der russische Käufer in ungleich größerem Vorteil: er erhält das Geld aus der Bank und damit das Land. So sind schon viele deutsche Dorfgemeinschaften in Wolhynien aufgelöst, eine Adjunktur wurde ganz aufgelöst und wieder unter die Nachbarkirchspiele verteilt. Ähnliches steht dort an vielen Orten bevor. ( ) Düna-Zeitung 14. (27.) März 1909 Uebervölkerung in den deutschen Siedlungen Wolhyniens. Aus Nowogradwolynsk schreibt ein alter Freund der Baltischen Post : Vor etwa vierzig Jahren war nicht allein die Gegend um Nowogradwolynsk und die Strecke bis Shitomir ein zusammenhängender Wald, sondern fast ganz Wolhynien wurde von demselben bedeckt. Doch bei der großen Menge und ohne Absatzwege war das Holz wertlos und die ausgedehnten Waldflächen gaben den Besitzern fast gar keine Erträge. Um von den großen Flächen Einnahmen zu erzielen, mußten andere Wege eingeschlagen werden. Dem Beispiele in Polen folgend, hatten schon früher einige Besitzer den Wald durch deutsche Kolonisten urbar zu machen versucht und dabei gute Erfolge erzielt. Als nun die Nachbarn sahen, daß aus derselben Waldfläche, die ihnen nichts einbrachte, Tausende gewonnen wurden, stürzte sich alles im ganzen Gouvernement auf diesen Weg. An geeigneten Stellen wurden gerade Straßen durch den Wald gehauen, 1 Hufe verteilt solcher Parzellen bildeten eine Kolonie und hatten die Schule mit dem Betsaale und den Kirchhof in ihrer Mitte. Da jedes Heim möglichst in der Mitte des Landstücks errichtet wurde, so lagen die Gebäude mehrere Hundert Schritte von der Straße und dem nächsten Nachbarn entfernt, weshalb die durch mehrere Werste sich hinziehende Kolonie in keiner Weise an ein Dorf erinnert. Die deutschen Kolonisten kamen ausschließlich aus Polen und regelte sich der Zuzug nach Maßgabe des dortigen Landmangels. Die plötzlich entstandene große Nachfrage nach Kolonisten, konnte daher durch das spärliche Angebot in keiner Weise befriedigt werden und es wurden den Kolonisten daher außerordentlich günstige Bedingungen gemacht, um sie anzulocken. In dieser gesegneten Zeit gründete nun Michel Ohnesorg sein Heim in der Gegend von Nowogradwolynsk und kam, unterstützt von seinen heranwachsenden acht Söhnen und sechs Töchtern schnell zu Wohlstand und Ansehen. Getreu der herrschenden Sitte wurden die Söhne mit 20 bis 25 Jahren und die Töchter mit Jahren verheiratet und für sie ein eigenes Heim gegründet. Dies fiel Vater Ohnesorg nicht schwer, denn überall gab es noch freie Parzellen und ein Paar überflüssige Kühe und Pferde standen stets in seinem Stalle, sowie auch der Geldbeutel immer stramm gefüllt war. Nach 20 Jahren saßen dann auch alle seine Kinder wohleingerichtet jeder an seinem eigenen Herde. Aber inzwischen waren auch die ersten Enkelkinder, bei deren Erscheinen Großvater Ohnesorg so laut aufgejubelt hatte, herangewachsen und verlangten gleichfalls ein eigenes Heim. Freie Parzellen gab es aber jetzt weder in der Nähe, noch überhaupt im ganzen Gouvernement. In den Jahren war alles Land von den Nachzüglern aus Polen und dem natürlichen Zuwachse am Platze besetzt worden und von den berühmten wolhynischen Wäldern war nichts mehr vorhanden. Großvater Ohnesorg runzelte sorgenvoll die Stirn! Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 108
109 Wenn die ersten Enkel aber schon Sorgen machten, so wurde es weiterhin immer schlimmer und schlimmer. Trotzdem ein Teil der Großkinder mit Reisegeld versehen nach Amerika, Australien, verschiedenen Teilen Rußlands und nach anderen Ländern ausgewandert waren, wuchs in den nachfolgenden Jahren doch die Zahl der ein eigenes Heim Benötigenden schon über 50. Um diese zu befriedigen hatten, durch Bitten ihrer Kinder verleitet, die meisten Väter den unbedachten Schritt getan, von ihren eigenen Parzellen, die eben nur ausreichen die Arbeitskraft einer einzigen Familie ganz auszunutzen, Stücke von 4 5 Dessjatinen abzuteilen, so daß auf derselben Parzelle sich jetzt 3 bis 4 Heimstätten befanden. Da Tagelohn nur zur Erntezeit zu haben ist, so führen die Bewohner dieser Heimstätten ein halbmüßiges Leben und gewöhnen sich an Trägheit und Lüderlichkeit. Mit Schrecken sieht Urgroßvater Ohnesorg wie der Kindersegen hier im umgekehrten Verhältnisse zu den Mitteln steht und die fünfzig Hütten sich von Jahr zu Jahr mehr und mehr damit anfüllen. Dazu kommt noch, daß bei den wenigsten das Land Eigentum ist, sondern die meisten auf Pachtland sitzen. Was soll nun aus diesen Kindern allen werden, die zu Hause nicht einmal Gelegenheit haben, das Arbeiten zu erlernen. Zur Auswanderung in die Ferne fehlt das Reisegeld und nur Kurland und Ostpreußen können noch in Frage kommen. (Warum nicht auch Livland? D. Red. der Balt. Post ) Was bedeuten aber diese Plätze für ganz Wolhynien? Urgroßvater Ohnesorg läßt den Kopf hängen, sein ganzes Geschlecht muß durch Ueberfruchtbarkeit zu Grund gehen, denn der Ackerbau auf dem vorhandenen Lande kann die ganze Nachkommenschaft nicht mehr ernähren. Die Uebergeburten einschränken wollen, wäre ein Kampf mit den Naturgewalten und aussichtslos, denn der Strom läßt sich nicht aufhalten. Aber was nun? Im Schädel des Urgroßvaters fängt es an zu dämmern. Wenn der Ueberschuß in andere Bahnen gelenkt werden würde? Warum sind die vielen Tausende Handwerker, Kaufleute, Beamten, Maschinisten usw. die sich von den Kolonisten nähren, nicht Deutsche? Der Einzelne ist machtlos diesen Fragen gegenüber, nur die Gesamtheit aller kann sie lösen. Diese Ueberzeugung kam auch in der von Pastor Deringer einberufenen Vorstandssitzung des hiesigen Zweigvereins zum Ausdruck, wo einstimmig beschlossen wurde zu der (mittlerweile stattgefundenen. Die Red. d. Düna-Zeitung ) Generalversammlung des Südwestlichen Deutschen Vereins zwei Glieder nach Kiew zu schicken damit durch persönliches Nähertreten ein engerer Zusammenschluß aller Deutschen in den Südwestlichen Gouvernements angebahnt werde, um dann mit vereinten Kräften die Lösung dieser Fragen anzustreben. Es gilt zunächst deutsche Kinder bei tüchtigen, vertrauenswürdigen Handwerksmeistern als Lehrlinge unterzubringen, dann auch gewerbliche Fachschulen und Fortbildungsschulen einzurichten. Düna-Zeitung 9. Mai 1909 Shitomir. Ermordung von vier Personen. Nur die ungeheure Unbequemlichkeit der Eisenbahnverbindung zwischen Shitomir und Kiew hält noch eine so vorsintflutliche und gefährliche Art der Reise, wie mit der Diligence, aufrecht. Mit ihr fahren nur arme Leute, für die reichen existiert bereits eine teure Automobilverbindung. In den vielen Jahren des Verkehrs der Diligencen zwischen Shitomir und Kiew sind Hunderte von Rauben und Morden vorgekommen. Noch hatte man, so wird dem Gol. Mosk. geschrieben, den blutigen Ueberfall in der Nähe von Kiew nicht vergessen, als in der Nacht auf den 29. April ein neuer entsetzlicher Vorfall sich ereignete. In die von Kiew nach Shitomir fahrende Diligence stieg auf der Station Iskorosten ein junger Mann, dem Ansehen nach ein Handwerker, ein. Außer ihm waren noch anwesend fünf Passagiere und der Kutscher. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 109
110 Ungefähr um Mitternacht, zwischen den Dörfern Kowel und Janowka, unweit von Shitomir, fing der zuletzt hinzugekommene Passagier auf den Kutscher und darauf auf die Passagiere zu schießen an. Der Kutscher wurde erst nach einigen Schüssen getötet, und dann wurden der Reihe nach umgebracht die zum Tode erschreckten Passagiere: der Jude Glosmann, eine unbekannte Jüdin und eine Russin. Mit der einen Hand schoß der Mörder, während er mit der anderern mit einem Messer um sich stach; ein Passagier wurde ebenfalls verwundet, doch gelang es ihm und einem anderen, der unverletzt geblieben war, in den Wald zu entfliehen. Der Mörder warf die Leichen, nachdem er sie ausgeplündert hatte, wobei ihm keine bedeutende Summe in die Hände fiel, aus dem Wagen und jagte nach der Station Tschepowitschi, von wo er wahrscheinlich mit einem Zuge weggefahren ist, denn die Pferde wurden in der Nähe der Station gefunden. Die Entflohenen gelangten in den Ort Korosten, wo sie das Geschehene anzeigten; es wurden sofort energische Maßregeln zu Aufsuchung des entmenschten Mörders getroffen. (St. Pet. Ztg.) Düna-Zeitung 8. September 1909 Shitomir. Die lutherische Predigersynode hat beschlossen, die d e u t s c h e n K o l o n i s t e n bei der Gründung von S p a r- und V o r s c h u ß k a s s e n materiell zu unterstützen. Rigasche Zeitung 31. Mai 1910 Rowno. Bauernunruhen. In Retschizy im Rownoschen Kreise ist der zu Landeinteilungsarbeiten engagierte L a n d m e s s e r M a k a r e w s k i v o n B a u e r n e r m o r d e t worden. Die Veranlassung hierzu haben Streitigkeiten zwischen dem Gutsbesitzer Issakow und den Bauern wegen Zinsrechtsfragen gegeben. Eine zur Unterdrückung der Unordnungen requirierte L a n d w ä c h t e r A b t e i l u n g wurde von den Bauern mit S t ö c k e n u n d B e i l e n b e w o r f e n. Der Vermittler Tripolski ist mißhandelt, ein Bauer getötet und ein Landwächter tödlich verwundet worden. Es gibt außerdem v i e l e V e r w u n d e t e. (pta.) Rigasche Zeitung 27. Dezember 1910 Shitomir. Im pädagogischen Dienst. Im Herold finden wir folgendes Stimmungsbild: Es ist halb zehn Uhr abends. Für Shitomir ist das recht spät. Still und öde ists auf den Straßen nur eine dunkle Gestalt bemerkt man auf dem Trottoir. Sollte es der Nachtwächter sein? -Nein, der schläft wie gewöhnlich an einem Torweg es ist ein K l a s s e n o r d i n a r i u s des Knabengymnasiums. es ist kein Erholungsspaziergang, o nein! Er ist dienstlich hier. Aufmerksam späht er umher, geht leise bis zur Ecke und sieht dann plötzlich die andere Straße hinunter. Wie Tartarin von Tarascon späht er gespannt nach irgendeinem Verbrecher d.h. einem Schüler aus, der es am Ende wagen könnte, nach 9 Uhr auf die Straße hinauszugehen. So geht der Klassenordinarius längs den Häusern dahin, wie ein Indianer auf dem Kriegspfade, oder wie Sherlok Holmes auf den Spuren eines Einbrechers. Da was ist das? Eine Tür knarrt und heraus tritt ein Paar Der Herr ist völlig vom aufgeschlagenen Kragen verhüllt, aber die Mütze oh! die erkennt er sofort, das ist eine Gymnasiastenmütze! Die andere Person ist eine Dame Mit raschen Schritten, wie ein Falke auf seine Beute stößt, hat er das Paar eingeholt. Richtig, es ist der Schüler der 3. Klasse B. und er geht mit einer Dame am Arm. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 110
111 Stehenbleiben! donnert der Pädagoge, wie wagen Sie es nachts sich herumzutreiben und noch dazu mit Damen! Das ist doch etwas zu toll Aber ich bitte stammelt der Jüngling, ich begleite doch meine Mama. Herr Lehrer, sagt die Dame, entschuldigen Sie bitte meinen Sohn, ich mußte durchaus einen wichtigen Gang machen, eines Briefes wegen, zum P o s t - k a s t e n, und bat meinen Sohn mich zu begleiten. Ich willl nichts weiter hören, schnaubt der Lehrer, marsch nach Hause! Sofort nach Hause, oder Sie sitzen morgen bei mir im Arrest. Kein Wort weiter Frau B. erschrak so sehr bei diesen ihrem Sohn geltenden Drohungen, daß sie eilig umkehrte und mit dem Jüngling nach Hause entfloh. Den Brief konnte sie erst am folgenden Tage in den Kasten werfen. Außerdem waren beide in großer Unruhe, was der Lehrer am nächsten Tage tun werde. Der Pädagoge aber ging tiefbefriedigt nach Hause. Er hatte seine Pflicht erfüllt und ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Rigasche Zeitung 24. November 1911 Sport. U e b e r d e n p o l n i s c h e n A v i a t i k e r M l y n s k y. In großem Stil betreibt der polnische Gutsbesitzer von Mlynsky die Aviatik; wenigstens wird es ihm, was den Reichtum der Mittel anbelangt, nicht so leicht ein Privatmann zuvortun. Er fährt nicht mehr zu seinen Gutsnachbarn zum Besuch, sondern er fliegt. Er verfügt über eine stattliche Anzahl französischer Mechaniker, die seine Ankunft an verschiedenen, vorher ausgemachten Punkten erwarten müssen. Von seinem Schloß Beresny fliegt Herr von Mlynsky nach Slawuta, dem Stammsitz der Fürsten Sangusko, von dort macht er einen 12 km weiten Abstecher nach Schepetowka zu seinem Nachbarn Grafen Potocki. Von da geht es zu den Swiatopolk-Tschwertinskis, zu den Lubomirskis und Miotschinskis, bis er die Runde durch ganz Wolhynien gemacht und seine Freunde besucht hat. In jenen Gebieten erregen die Luftfahrten des fliegenden Gutsbesitzers großes Aufsehen unter den Bauern, die fest und steif behaupten, der Pan Mlynsky haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und ihm seine Seele dafür verschrieben, daß er ihn durch die Lüfte führt, statt, wie seine Vorfahren, im feurigen Sechserzug dahinzulaufen und die ehrerbietigen Grüße seiner Bauern entgegenzunehmen. Jetzt schlagen die Bauern bei seinem Erscheinen ein Kreuz und beten ein stilles Vaterunser für die verlorene Seele. Nachdem sich Herr von Mlynsky jetzt zu einem äußerste gewandten Flieger ausgebildet hat, gelüstet ihn nach Ruhm auf diesem Gebiet. Er hat deshalb gleich zu einer möglichst schweren Aufgabe gegriffen. Diese Aufgabe ist nichts Geringes als die Ueberfliegung des Bottnischen Meerbusens. Rigasche Zeitung 29. März 1912 Unsere deutschen Stammesbrüder in Wolhynien Von mit den Verhältnissen in Wolhynien bestens vertrauter Seite geht uns folgende Schilderung zur Geschichte der dortigen deutschen Kolonien zu: Im Jahre 1816 berief ein polnischer Gutsbesitzer deutsche Bauern aus Preußen nach Wolhynien, mit dem Versprechen, ihnen hier Land zu geben. Diesem Rufe folgten auch einige Bauern und zogen mit Weib und Kind nach Rußland. In Wolhynien erhielten sie das ihnen versprochene Land zu niedriger Pacht oder erwarben es zu Eigentum. In der ersten Zeit lebten die Leute in Lehm- und Erdhütten und hatten viel Entbehrungen durchzumachen. Als die Häuser aufs primitivste fertiggestellt waren, ging s ans Ausroden und Urbarmachen der Wälder und bald waren ganz ansehnliche Felder dem Boden abgerungen. So Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 111
112 entstanden die beiden ersten Kolonien in der Nähe der Kreisstadt Nowograd-Wolynsk Anette und Josephine. Die Lage der ersten Einwanderer war aber doch eine sehr drückende. War auch das Haus gebaut, dem Boden Feld abgerungen, so sah man doch nicht freudiger in die Zukunft! Der russische Bauer betrachtete die neuen Ansiedler mit mißtrauischem Blick. Wohl bewunderte er ihre Energie, ihren Fleiß und ihr Streben, aber grade diese Vorzüge waren es, die ihn den deutschen Bauern hassen lehrten. So suchte er ihm zu schaden, wo er nur konnte. Und schließlich war die materielle Lage der Kolonisten auch keine gute, sondern vielmehr eine sehr traurige. Der Boden war gut und fruchtbar und belohnte die Arbeit, aber die Preise waren dermaßen niedrig, daß sich die angewandte Mühe kaum bezahlt machte. Lange Zeit blieben diese Kolonien die einzigen, da die drückenden Verhältnisse, unter denen diese Ansiedlung zu leiden hatte, keine neuen Einwanderer herbeilockten. Da führte die erste polnische Revolution (1831) einen Umschwung der Dinge herbei. Die politischen Verhältnisse im Zartum zwangen damals zahlreiche evangelische deutsche Kolonisten, die in Polen bereits zu einem beachtenswerten Faktor geworden und wegen ihrer Kaisertreue von den Polen bedrängt und verfolgt wurden, nach Rußland, hauptsächlich nach Wolhynien, auszuwandern. Diese polnischen Deutschen ließen sich in den Kreisen Rowno und Lutzk im Nordwesten des Gouvernements nieder. Gleichzeitig gingen aus den Kolonien Anette und Josephine Tochterkolonien zwischen Schitomir (Sitomir) und Nowograd-Wolynsk hervor. Die Zollgrenze wieder bewog viele Tuchmacher aus Polen und Preußen, industrielle Betriebe anzulegen. So vermehrte sich die Zahl der Eingewanderten zusehends; während man im Jahre 1838 gegen 1500 Deutsche zählte, gab es im Jahre 1859 schon 5900 in 45 Kolonien. Von der Regierung wurden die Deutschen als ein ruhiges, zarentreues Element begünstigt, aber der russische Bauer verhielt sich ebenso mißtrauisch zu den Kolonisten wie ehedem. Die materielle Lage wollte sich immer noch nicht heben, sondern blieb dieselbe drückende. Waren aber die materiellen Verhältnisse, unter denen die Kolonisten lebten, traurig, so waren es die geistigen noch viel mehr. Rohheit, Unwissenheit, Trunksucht und Liederlichkeit herrschten überall und untergruben das Wohl der Bevölkerung. Die Verwilderung nahm so überhand, daß Fälle vorkamen, in denen Küster trauten, schieden, die von ihnen Geschiedenen wieder trauten. Die Pastoren konnten die entfernten Orte nur einmal im Jahre besuchen und waren darum auch nicht im Stande dem Niedergange entgegenzuarbeiten. So schien der Untergang der Deutschen hier besiegelt. Da aber kam Hilfe. Im Jahre 1842 kamen Kolonisten aus der Steppe, die der dortigen methodistischen Richtung angehörten. Mit Ernst und Eifer arbeiteten sie auch hier in diesem Geiste. Wenn sich die Einheimischen anfangs auch widersetzten, mit Lärmen, Schreien und Fenstereinwerfen die Versammlungen zu stören suchten, so wirkte das Vorbild der ernsten Kämpfer doch auf sie ein, und nicht lange währte es, so konnte man den guten Einfluß an den Früchten erkennen. In wirtschaftlicher Hinsicht wirkte diese Zeit höchst wohltuend. Schenken und Wirtshäuser waren leer; Arbeit und Fleiß an der Tagesordnung und so konnte auch ein materieller Fortschritt nicht ausbleiben. In Polen hatte sich indes der zweite Aufstand vorbereitet. Es gärte dort heftig und wieder verließen tausende dortiger Deutscher ihre alte Wohnstätte, um in Wolhynien sich eine neue Heimat zu gründen. Schon in den Jahren vor dem Aufstande soll eine unerklärliche Unruhe und Wanderlust die dortigen Deutschen überfallen haben. Hals über Kopf verkauften sie ihr Eigentum, oft unter dem Preise, nur von dem Wunsch beseelt, möglichst schnell fortzukommen. Die Emigrantenscharen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 112
113 mehrten sich mit dem wirklichen Ausbruch des Aufstandes. Zu Massen wanderten sie aus dem Zartum nach Rußland aus. Der größte Teil wandte sich, wie die Vorgänger, nach Wolhynien. Hier lagen die Verhältnisse für die Einwanderer relativ günstiger. Die Landwirtschaft der Gutsbesitzer lag darnieder, die Güter, namentlich die riesigen Waldkomplexe, warfen wenig ab. Die bevorstehende Aufhebung der Leibeigenschaft machte das Land wertlos; die politischen Ereignisse verlangten große Geldopfer und schließlich begünstigte die Regierung die Deutschen wie ehedem. So waren denn auch diese Einwanderer willkommen. Sie pachteten oder kauften von den polnischen Gutsbesitzern brachliegende Ländereien oder Waldkomplexe, sie rodeten und bebauten. Für Rbl. konnte man damals eine Dessjatine als Eigentum erwerben. Doch die Einwanderer aus Polen blieben nicht die einzigen. Bald gesellten sich auch solche aus Deutschland und Galizien dazu. So kann man sich denn nicht wundern, wenn im Jahre 1880 die Zahl von Deutschen genannt wird. Doch die Zahl wuchs stetig und auch die Auswanderungsbewegung nach Amerika konnte das Wachsen nicht beeinflussen. Die ersten Kolonisten kamen aus Preußen und Polen. Sie hatten dort verhältnismäßig gute Schulen besucht und waren für Bauern genügend gebildet. Nun aber kamen sie hierher in die Fremde, wo sich keiner um ihre geistigen Bedürfnisse kümmerte. Wohl hatten sich unter ihnen ein paar geschulte Lehrer gefunden, die ihre Kinder unterrichteten, aber bald mangelte es an solchen und oft unterrichteten in den Schulen Leute, die selbst nicht gut lesen, geschweige denn schreiben konnten. Ein Schulhaus existiert aber in jeder Kolonie. Das erste, was bei der Entstehung einer Kolonie in Angriff genommen wird, ist der Bau eines Hauses mit einem Betsaal in einem Flügel und Räumen für Küsterlehrerwohnung und Klasse im anderen Flügel. Dies Bedürfnis eine Schule zu haben kann man sich daraus erklären, daß schon in der früheren Heimat der Kolonisten diese Schule das Zentrum der ganzen deutschen Kolonie war. Die Schule ist, wenn man so sagen kann, die wöchentliche Börse, hier sieht sich die ganze Gemeinde und bleibt in regem Konnex. Rund um das Schulhaus gruppierten sich im Umkreise von 2 bis 4 Werst, je nach Größe der Kolonie, die einzelnen Gehöfte. Auf seinem Gehöft ist der Bauer Selbstherrscher. Er ist sich seiner Macht vollkommen bewußt, und wortlos muß sich alles seinen Anordnungen fügen. Er greift aber überall selbst tatkräftig zu und nur auf größeren Höfen überläßt er die Arbeit immer mehr den Mägden und Knechten, um nur als Aufseher über allem zu walten. Knechte und Mägde sind fast nur Deutsche, denn einen Russen nimmt der Bauer sehr ungern auf sein Land. Die heranwachsenden Söhne müssen scharf zugreifen, um den Vater zufrieden zu stellen, ebenso müssen die Töchter den Müttern helfen. Heiratet ein Sohn, so nimmt er seine junge Frau auf den Hof, natürlich nur, wenn das Land alle ernähren kann. Ist der Vater reich, so kommt es auch vor, daß der Sohn seine eigene Wirtschaft erhält. Geistige Interessen gehen den Kolonisten fast ganz ab und nur in letzter Zeit, dank den Bemühungen der Pastoren, welche die einzigen sind, die sich um s Wohl der Bauern kümmern, kann man in manchem Hause volkstümliche Blätter und ein paar Broschüren finden. Den Bauern könnte man leichter vom Nutzen der Bücher und des Schulbesuchs überzeugen, wenn er nicht so halsstarrig wäre und so fest auf seinem Beutel sitzen würde. Den hält er aber fest, mit beiden Händen fest. Doch es gibt auch rühmliche Ausnahmen. Da gibts Männer mit aufgeweckten Köpfen, die klar erkennen, wovon das Wohl und Weh des Bauern abhängt, und man ist erstaunt, mit welch klarem Blicke sie die Sachlage erkennen und beurteilen. Doch was können ein paar gegen Tausende, und so geht denn das Streben dieser Wenigen mehr auf Besserung der eigenen Verhältnisse aus, als auf die Hebung des Gemeinwohls. Für ihre landwirtschaftliche Ausbildung machen die Bauern ja auch nichts. Der Sohn lernts vom Vater, und so stehn sie noch vielfach auf derselben Stufe, wie vor ein paar Jahrzehnten. Aber Arbeiter sind sie. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 113
114 Gegenwärtig gibt es in Wolhynien gegen deutsche Kolonisten, ein größerer Prozentsatz Deutscher als in den Ostprovinzen. Neuerdings aber macht sich eine A u s w a n d e r u n g s b e- w e g u n g unter den Deutschen in Wolhynien geltend. Die Veranlassung bildet die Agrarpolitik der Regierung. Die Baueragrarbanken schließen bei ihren Landoperationen das deutsche Element prinzipiell aus. Da aber zahlreiche Apanagen und Privatgüter, auf denen sich deutsche Pachtansiedlungen befinden, von der Agrarbank behufs Parzellierung aufgekauft werden, müssen sich diese Ansiedlungen auflösen. Gelingt es den Deutschen das Land, das sie urbar gemacht haben, zu hohen Preisen zu erwerben, so sind sie gerettet. Doch bieten die Banken Preise, die für einen Bauern unerschwinglich sind und so zieht der Deutsche fast regelmäßig den Kürzeren. Meist eben müssen sie unter großem Verlust das Land verlassen, ohne zu wissen, wo sie ihr neues Heim gründen werden. Jetzt, wo der Deutsche seine Arbeit getan, d. h. das Land kultiviert und wirtschaftlich gehoben hat, - denn Wolhynien ist ein blühender Garten geworden - hat man ihn nicht mehr nötig. Er kann gehen und sehn, wo er neuen Boden für sich findet. So ist denn die Zukunft der Deutschen in Wolhynien eine sehr ungewisse. Wie lange sie noch den Boden, den ihre Väter dem Lande abgerungen, bearbeiten werden, wer kann s wissen? Harte Zeiten machten sie durch und harte Zeiten stehen ihnen bevor. Für den russischen Bauer, den der Kolonist mit dem Worte der Graue bezeichnet (der grauen Kleidung wegen, die er im Sommer trägt), arbeiten viele Köpfe. Für ihn wird neuerdings viel getan. Aber um den Deutschen kümmert sich keiner. Er muß selbst für sich sorgen; selbst zu Hebung der eigenen Bildung beitragen; selbst Schulen bauen und Lehrer ausbilden. Hart war s und hart wird s sein, doch darum nicht den Mut verloren, denn deutsche Energie und deutscher Mut haben schon viel Schweres überwunden. Rigasche Zeitung 17. Oktober 1914 Allerhöchstes Reskript auf den Namen des ehemaligen Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien, des Reichsratsmitglieds Senators Generaladjutanten Generals der Kavallerie T r e p t o w: Fedor Fedorowitsch! Im Jahr 1865 erachtete es Mein in Gott ruhender Großvater in Seiner Fürsorge für das alte russische Südwestgebiet für wohl, zur Vereinheitlichung der Verwaltung der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien ein besonderes Generalguberniat zu schaffen. Seit der Zeit haben die beständigen Bemühungen der das Monarchische Vertrauen genießenden Chefs dieses Gebietes zu einer dauernden Annäherung des Gebietes an die urrussischen Gegenden des Reiches beigetragen, und jetzt sind die Aufgaben, um derentwillen die besondere Verwaltung des Südwestgouvernements eingeführt wurde, als gelöst zu betrachten. Infolgedessen habe Ich am 30. September a.c. befohlen, das genannte Generalguberniat aufzuheben, Indem Ich Ihre eifrige sechsjährige Tätigkeit in der Verwaltung des Südwestgebiets nach Gebühr schätze, spreche Ich Ihnen zum Beweise Meines Wohlwollens Meine aufrichtige Anerkennung für Ihre fruchtbare Arbeit aus. Ich verbleibe Ihnen unverändert wohlgeneigt Das Original ist von Seiner Kaiserlichen Majestät höchsteigenhändig unterzeichnet: Rigasche Zeitung 15. August 1915 u n d d a n k b a r. N i k o l a i. Zu Zarskoje Sselo am 15. Oktober Shitomir. Die Gouvernementsbehörde für Bauernangelegenheiten beschloß a l l e D ö r f e r m i t d e u t s c h e n N a m e n u m z u b e n e n n e n. (pta.) Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 114
115 Libausche Zeitung 7. Oktober 1915 Kriegsnachrichten. Das Chaos in Wolhynien. Ein dänischer Kaufmann, der viele Jahre in Odessa ansässig war, hat kürzlich eine Reise durch Wolhynien gemacht und ist jetzt aus Kiew in seine Heimat zurückgekehrt. Er stellt den Kieler Neuesten Nachrichten nachstehende Schilderung seiner Reiseeindrücke zur Verfügung. Was ich in Wolhynien gesehen habe, ü b e r s t e i g t a l l e m e n s c h l i c h e V o r s t e l- l u n g e n. Von Rowno bis Kiew eine einzige Wüstenei, nichts als S c h u t t und T r ü m m e r. Fast kein einziger Landstrich, kein einziges Dorf ist unversehrt geblieben, die russischen K o s a k e n h o r d e n haben erst alles geplündert und dann in Rauch und Flammen aufgehen lassen. Zum Teil stand das Getreide noch in Mandeln auf den Feldern, es wurde von den räuberischen Horden geschichtet, mit Petroleum oder Benzin begossen und angezündet. Ganze Wälder sind vernichtet worden, weite Waldgebiete ganz heruntergebrannt. Die Bäume zu beiden Seiten der Landstraßen sind heruntergeschlagen und die Straßen sind meilenweit mit den Stämmen verbarrikadiert. Alles, was irgendwie für die Kriegsführung wertvoll sein könnte, wurde i n s I n- n e r e R u ß l a n d s f o r t g e s c h a f f t. Die Einwohner haben meist nur das nackte Leben retten können, die Bestialität der Zerstörer ließ ihnen keine Zeit, ihre Habseligkeiten mitzunehmen. Namentlich die jüdische Bevölkerung hatte außerordentlich zu leiden. Oftmals wurden die jüdischen Flüchtlingsfamilien unterwegs von den Kosaken angehalten, was sie mit sich führten, wurde ihnen abgenommen und sinnlos vernichtet. Die Straßen sind streckenweise wie besät mit verendeten Tieren. Das Vieh, das nicht in den Ställen verbrannt wurde, wurde ins Freie getrieben, wo es, ohne Nahrung zu finden herumirrt, bis es elend zu Grunde geht. Wochenlang vorher waren schon keine Zeitungen zu haben gewesen. Die Blätter in den kleinen Städten hatten ihr Erscheinen schon längst eingestellt, und die großen Tageszeitungen durften auf Anordnung der Behörden nicht verbreitet werden. Hierdurch wurde die a l l g e m e i n e U n r u h e nur noch vergrößert, denn keiner bekam Nachrichten und niemand wußte, was sich ereignete. Es wurden die tollsten Gerüchte kolportiert. In Kiew erwartete die Flüchtlinge eine neue Enttäuschung. Sie glaubten dort Ruhe und Unterkommen zu finden, statt dessen wurden sie am Weichbild der Stadt und den Bahnhöfen von der Polizei in Empfang genommen, sie durften die Stadt nicht einmal betreten, sondern wurden gleich weitergeschickt, niemand konnte den armen, abgehetzten, totmüden Menschen sagen wohin. K i e w i s t ü b e r f ü l l t, die Stadt zählt mindestens dreimal so viele Menschen wie in normalen Zeiten. In allen Schulen und Kirchen die nicht als Lazarette eingerichtet sind, ja sogar i n d e n W a r t e s ä l e n d e r B a h n h ö f e h a u s e n d i e F l ü c h t l i n g e. Der Handel und Verkehr liegt vollständig still, die Preise der Nahrungsmittel sind nur noch für wenige Menschen erschwinglich. Die wenigen Läden, die offen sind, sind es auch nur drei bis vier Stunden am Tage. Der Betrieb der elekrischen Straßenbahn ist vollständig eingestellt, die elektrische Beleuchtung funktioniert nur ganz sporadisch, der Mangel an Brennmaterial macht sich immer mehr bemerkbar. Die Bevölkerung ist gänzlich m u t l o s. Kein Mensch glaubt noch den Beschwichtigungserklärungen der Regierung. Die Behörden räumen auch schon die Stadt. Alle möglichen Archive werden nach Poltawa und Kasan transportiert. Die Heiligtümer und Reliquien der Kirchen kommen in den Kreml nach Moskau. Ueberall machen sich Z e i c h e n d e r Z e r s e t- z u n g bemerkbar. Ich glaube, der Augenblick ist nicht mehr fern, wo die innere Organisation Rußlands zusammenbricht und das empörte und wütende Volk die jetzigen Machthaber vernichten wird. Das Gespenst der Revolution steht drohend im Hintergrunde. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 115
116 Libausche Zeitung 15.September 1916 Der Wolhynische Wald. Von Walter Georgi ( ) Als eine langgestreckte, stahlblaue Mauer umschließt der Wald weit hinten am Horizont die mit Wiesen und Moor wechselnden Felder der welligen fruchtbaren wolhynischen Ebene. Als der Krieg hier durch das Land zog, nahm er ihm die fetten Herden, zerstampfte die reifende Saat auf den Feldern und legte vernichtendes Feuer unter manches Dach. Doch an den Wäldern hat er sich ohne sie zu schänden, heimlich vorbeigeschlichen. Der Feind hält verschanzt hinter den Sümpfen im Osten. Die Geschütze zanken sich mit grollenden Stimmen, tagaus, tagein. Die Rauchpinien brennender Dörfer hängen des Tags am Himmel, in den der Brand des Nachts blutrotes Leuchten zeichnet. An den dichten Wänden der weiten Wälder aber bricht sich der Schall der Geschütze. Und abseits von der Straße der Kolonnen im Walde erscheint der mörderische Kampf der Völker bis weit hinten nach Asien zurückgedrängt, und nur die mit Scheu gepaarte Hingabe an das Leben und Wirken des Unberührten spinnt ihre Fäden zwischen Mensch und Wald. Die Hufe der Pferde versinken fast lautlos im weichen Grasboden der selten befahrenen Wege, und die üppigen weit in die Bahn greifenden Zweige streifen den Wagen. Nur ein weitmaschiges Gewebe aus schmalen Streifen heißen Sonnenlichts glänzt selbst am hohen Mittag über den Kräutern und Farnen des Waldbodens, da das Geäst der hochstämmigen Eichen und Buchen, Birken und Eschen, Fichten und Kiefern eng ineinandergreift wie Bogen und Gurten eines ins Gigantische gesteigerten Gewölbes. Unter diesem Gewölbe lebt, kämpft und stirbt der Wald, auf seine eigene Kraft gestellt, ohne die sorgende Hand des Menschen. Das Stärkere verdrängt das Schwächliche, erdrückt das Alte, dem die Kraft in diesem stillen unerbittlichen Ringen verloren ging. Aus den modernden Leibern der gestürzten Stämme, die keiner als Nutzlast von dannen fährt, schießen die Gräser empor und schmücken vereint mit den wuchernden Schlinggewächsen die langgestreckten Grabhügel der Riesen des Waldes, bis sie die Zeit dem Boden gleich macht. In Sterne und Trauben gefaßt, drängt sich die Farbe der Waldblumen zwischen das satte Grün. Blaue Glockenkelche ruhen schwebend über ihm zwischen den Stämmen. Und das tiefe Rot reifer Walderdbeeren leuchtet wie Blutstropfen, die ein waidwundes Wild auf der frischen Spur verloren hat. Es regt sich kein Lüftchen, kein Laut. Nur die Mücken summen über den Sonnenflecken am Boden. Tief im Walde im unzugänglichen Sumpf und im undurchdringlichen Gestrüpp halten sich tagsüber die wilden Schweine und das Rotwild versteckt. An den Stämmen, die sich nach wenigen Schritten durch die Wirrnis der Zweige und Büsche in der Einheit des Waldes verlieren, lehnt das Schweigen und lauscht in den Wald hinein, bis von irgendeinem Ast ein kleiner Vogel lockt und in seinem Singen den Herzschlag des Waldes fängt. Plötzlich wird der Wald lichter und die Schatten weichen der Sonne. Die Spitzen der Binsen mischen sich unter hohes herbes Riedgras. Die Räder des Wagens sinken noch tiefer in den Boden und die Pferde ziehen schwer an ihrer Last. Ein Sumpfstreifen legt sich quer zum Weg. Wildenten flattern durch die ungewohnte Störung aufgeschreckt auf. Jetzt füllt sich der Weg mit dickem braunen Moorwasser, das den Pferden bis knapp unter den Bauch reicht. Aber die zähen, ausdauernden kleinrassigen Russenpferde patschen und stapfen munter durch die hochaufspritzende Flut des zum Bach verwandelten Weges und schleppen den Wagen allmählich wieder aufs Trockene hinauf in den dichten stillen Wald hinein Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 116
117 Da klingen helle Stimmen unter dem Gebüsch. Es sind Kinder mit Tonkrügen, in die sie Beeren sammeln. Der Wald bricht jäh ab und gibt ein geräumiges Wiesenland frei, das einen kleinen blauen See umschließt. Einige strohbedeckte Blockhütten wachen am Ufer über ein paar bestellte Feldstreifen. Der polnische Bauer in dieser Einsamkeit kommt dem Fremdling freundlich entgegen. Wer mit einer Bitte an seine Tür pocht, soll mit ihm teilen dürfen, was die ärmliche Wirtschaft an geringem Ueberfluß aufzuweisen hat. In einer kleinen Bucht des Sees ruhen die Boote, Einbäume, aus ausgehölten Eichenstämmen zurechtgeschnitten. Auf ihnen fahren die Männer und Knaben an windstillen Tagen zum Fischfang aus, während die Frauen und Mädchen daheim die Wirtschaft besorgen oder an den Webstühlen aus selbstgesponnenem und selbsteingefärbtem Garn grobe Stoffe in bunten Streifenmustern weben. Weiter hinten im Walde an einem anderen kleinen See hat sich eine blitzsaubere Ansiedlung hingelagert. Weiße Gardinen leuchten hinter den blanken Fenstern hervor, auf deren Gesims sorgsam gepflegte Blumen in Töpfen blühen. Die Stuben der einstöckigen Hütten glänzen in erfrischender Reinlichkeit und peinlicher Ordnung. Deutsche und holländische Kolonisten haben sich vor fast hundert Jahren hier angesiedelt, indem sie die Heimat mit der Fremde vertauschen. Schwerfällige Fischergestalten von den Küsten Frieslands, blondhaarig und blauäugig, treu in Wesen und Art der alten Heimat, rufen die Empfindung wach, daß man durch ein Fischerdorf an der Waterkant wandert. Und man glaubt fast, hinter den leichtgewellten Hügeln am Dorfende müßten die weißen Dünen schützend ihre Leiber gegen das brandende Meer stemmen, dessen Brausen bis in die Stille des Dorfes dringt. Aber es ist nur der Wind, der in den Wipfeln des wolhynischen Waldes rauscht Die Nacht bricht hier schnell herein. Die Schatten des Waldes haben sich bereits mit dem weichen nächtlichen Dunkel vereint, wenn auch der bleiche Schein der Dämmerung noch am westlichen Himmel steht. Die Unken in den Sümpfen werden lebendig, wilde Tauben gurren im Geäst und ein ferner Kuckuck ruft noch eine Weile. Dann wird es ganz still. Nur der Abendwind springt von Gipfel zu Gipfel und wiegt sich leise auf den müden Zweigen. An einer Waldblöße tritt ein Reh aus den dichten Büschen heraus, nach der Hitze des Tages die Wasserstelle suchend. Es äugt aufmerksam nach den Seiten. Dann setzt es in schnellen Sprüngen über die Wiese und verschwindet im Abend. Libausche Zeitung 15. September 1917 Wolhynien. (von Walter Wolff, im Felde) Schwermut, grenzenlose, allumfassende Schwermut lastet auf Wolhynien und den Ländern am Bug. Unendlich ist ihre Weite. Sie bedrückt den, der hier lebt, läßt keine Luft, keine Freude, keine Hoffnung aufkommen. Hoffnungslos! Das ist das Wort. Hoffnungslos ist die grenzenlose Weite, mag sie auch überquellen vom hellen Grün der Wiesen und dem dunkelen der nassen Niederungen, vom stumpfen Gelb des Korns und dem leuchtenden Gold der Lupinen. Grellfarbene Vierecke liegen dazwischen, denn hier, wo alles ins Ungewisse geht, wachsen auch die Blumen nicht vereinzelt, sondern stehen zusammen. Da brennt der Mohn, da flimmert die Kornblume, da leuchtet s weiß auf weiten, weiten, weiten Strecken. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 117
118 Hoffnungslos ist auch dann die grenzenlose Oede, wenn der Blick, durch nichts behindert, über Stoppelfelder geht, die kreuz und quer durchzogen sind von tief einschneidenden Wagenspuren; über braune Sümpfe, in denen Baumstümpfe stehen zwischen Wasserfäden und Tümpeln - - und wenn über alles das der Herbstwind pfeift und der Winter dann Feld und Weg und Gräben und Wasserlachen mit einem klingenden, schimmernden Netz aus Frost und Reif und Schnee und Eis überspannt, in das der Pferde Hufe klirrende, splitternde Löcher reißen. Dann ducken sich die wenigen Häuser an den Erdboden, schmiegen sich in Geländefalten, kriechen in sich zusammen, als wollten und müßten sie sich verstecken vor der grauen, schweren, drückenden Unendlichkeit Ob s Sommer ist, ob Winter, immer geht der Blick in hoffnungslos ausgedehnte, unbeschränkte Weiten. Nur hier und da stehen Bäume und Büsche, einzeln und in kleinen Hainen, Gehöfte, Mühlen, deren lange Arme sich trübselig drehen in nicht enden könnendem, langsamen Spiel oder ausgestreckt stillstehen, als wollten sie Hilfe vom Himmel herabholen. Selten einmal ein Dorf, dann aber zieht es sich oft stundenlang an der Landstraße hin, als wagten die weit auseinandergezogenen Häuserreihen nicht, ganz aufzuhören, aus Furcht, die Einsamkeit könne wieder beginnen. Und irgendwo in der Ferne steht ein Wald, den man nie erreicht, dräut bald in schwärzlichem Grün, lockt bald in zittrig verschwommenenem Blau und leuchtet dann wieder in hunderttausend Farben, die vom hellstem Gelb über brennendes Rot zum sattesten Braun gehen Schwermut, grenzenlose, allumfassende Schwermut lastet auf Wolhynien und den Ländern am Bug ( D e r T ü r m e r ) Rigasche Zeitung 11. März 1918 Gewaltige Getreide- und Lebensmittelschätze. Berlin, 8. März. Ueber den l e t z t e n d e u t s c h e n V o r m a r s c h erfahren wir noch folgendes: Je weiter die deutschen Truppen vordringen, desto reicher erschließen sich ihnen g e w a l t i g e G e t r e i d e- u n d L e b e n s m i t t e l s c h ä t z e. Die Ernährungsverhältnsse unmittelbar hinter der russischen Front, wo die Massen der demobilisierten Armeen bei ungenügender Zufuhr eine gewisse Knappheit bewirkten, gaben keine richtige Vorstellung von den Landesvorräten an Lebensmitteln. Schon in L u z k und R o w n o ist zu allerdings sehr hohen Preisen alles zu haben. Je weiter man jedoch nach Osten kommt, desto günstiger wird die Ernährungsfrage. So werden in N o w o g r a d - W o l y n s k auf dem Markte das Pfund zu 3 Mark Fleisch und Speck in großen Mengen angeboten. Eier gab es zu 15 Pfennig das Stück. In den großen Hotels in Shitomir ist man glänzend verpflegt. Es mangelt an nichts, auch Kaffee, Tee, Zucker usw. gibt es. Dabei leiden die Städte heute unter ungenügender Zufuhr. Bei der bisherigen Unsicherheit halten die Bauern ihre Vorräte zurück. Ein weiterer Grund für das geringe Angebot liegt darin, daß heute jeder Bauer seinen eigenen Kornschnaps brennt, Sind hier erst einmal geordnete Verhältnisse geschaffen, so werden allein aus den Dörfern des bisher besetzten Gebietes g r o ß e M e n g e n K ö r n e r f r ü c h t e für die Ausfuhr verfügbar. Rigasche Zeitung 18. März 1918 Zusammenschluß der Deutschen Rußlands. (Auszug) Frankfurt. 14. März. Wie die Frkf. Ztg. aus Stockholm meldet, bildete sich in Petersburg ein Hauptausschuß der Deutschen Rußlands. Dieser umfaßt die Vertretung der Sonderausschüsse Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 118
119 Wolhynien, Chersson, Bessarabien, des Wolga- und Dongebiets, Taurien, des Kaukasus und Sibiriens und bezweckt die Selbstverwaltung, die Erhaltung der Kirchen und Schulen und des Privateigentums, sowie die Entschädigung der unter dem alten Regime vertriebenen Deutschen. Libausche Zeitung 1. April 1921 Die Zuckerfabriken in Wolhynien. Auf der Zusammenkunft des Komitees des Zuckerrübenanbaues im Gouvernement Wolhynien wurde festgestellt, daß die Zuckerindustrie im Süden sich in einer traurigen Lage befände und daß, wenn nicht sofort außergewöhliche Rettungsmittel angewandt werden, die Zuckererzeugung im laufenden Jahre vollständig unterbrochen werden wird. Rigasche Rundschau 21. August 1922 Hinübergreifen der Cholera nach Polen. Nach Warschauer Blättermeldungen zählte man bis zum 10. August in Polen 41 amtlich gemeldete Cholerafälle, davon 38 in Rowno und von dieser letzteren Zahl wiederum 32 Fälle unter Rückwanderern. 23 Erkrankte sind gestorben, was hauptsächlich auf die Leiden zurückzuführen ist, denen die Rußlandflüchtlinge ausgesetzt waren. Die Sanitätsämter an der polnisch-russischen Grenze sind bemüht, ein Umsichgreifen der Epidemie zu verhindern. In den Grenzgebieten soll die Bevölkerung zwangsweise geimpft werden. Rigasche Rundschau 12. September 1922 Sowjetrussische Cholerastatistik. Die Cholera ist in Rußland weiter im Abflauen begriffen: wie das Gesundheitskommissariat dudrch die "Istwestija" meldet, wurden in der letzten Augustwoche im ganzen Reiche nur 40 Erkrankungsfälle (hauptsächlich in Rostow am Don und Taschkent) amtlich verzeichnet. ( ) Die Auslandsmeldungen von einem Zunehmen der Epidemie tragen mithin rein tendenziösen Charakater und es ist für die Nachbarstaaten Rußlands von Wert festzustellen, daß die Cholera entgegen allen Befürchtungen in diesem Sommer sie verschont hat, mit Ausnahme der 50 Fälle, die in der polnisch-wolhynischen Grenzstadt Rowno registriert wurden. Der kalten Witterung im Juni und Juli ist, wie seinerzeit hier ausgeführt, dieses Ergebnis wohl in der Hauptsache zuzuschreiben. Libausche Zeitung 5. November 1924 Bandenunwesen in Wolhynien. Warschau, 1. November. "J. S." Der "Kurjer Poranny" meldet, daß sich in Wolhynien eine Bande gebildet hat, die Ueberfälle auf Güter ausführt und andere Grausamkeiten verübt. In der letzten Zeit wurden die Güter Moschtscheniza und Turkowa zerstört. In beiden Fällen haben die Banditen die Wohnhäuser eingekreist, und in Brand gesetzt, nachdem zuvor Fenster und Türen vernagelt worden waren. Die Gutsbesitzer, ihre Familien und Bedienten kamen in den Flammen um. Sämtliche Pferde, alles Vieh und das Geflügel wurden geschlachtet und sämtliche Gebäude abgebrannt. Die Räuber hatten militärische Bewaffnung. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 119
120 Rigasche Rundschau 23. Juli 1926 In W o l h y n i e n sind in unerhörter Menge K ä f e r erschienen, die die großen Hopfenplantagen vernichten. Spezialisten sind dorthin ausgesandt. Libausche Zeitung 16. September 1927 Erdstöße in Rowno. Berlin, 16. September. (Spezialbericht) Der "Lokalanzeiger" meldet aus Rowno, daß dort gestern morgen mehrere Erdstöße verspürt wurden. Die Erdsstöße waren so stark, daß in den Mauern zahlreicher Gebäude Rissen entstanden. Rigasche Rundschau 2. November 1927 Polnischer Grenzort überfallen. Aus der ostpolnischen Stadt Luzk wird gemeldet, daß das Dorf Miliatyn von Räubern überfallen wurde, die über die russische Grenze gekommen sind. Ein Bauer wurde getötet, 12 weitere wurden verletzt. Die Räuber trieben die Viehherde fort und verschwanden damit wieder über die Grenze auf sowjetrussisches Gebiet. Rigasche Rundschau 9. Dezember 1932 Wölfe in Wolhynien. Warschau. Ein Bauer wurde bei Kowel in Wolhynien von einem Rudel Wölfe überfallen und zerrissen. 2 in der Nähe weidende Pferde wurden ebenfalls von den Wölfen angegriffen. Die Bevölkerung, die vor der überhandnehmenden Wolfsplage in ständiger Furcht lebt, bereitet umfassende Maßnahmen vor. Rigasche Rundschau 19. Juli 1933 Unheimliches Abenteuer eines Zahnarztes. In Kremenez, einer kleinen Stadt in Polen, hatte sich ein junger Zahnarzt niedergelassen und übte seit einigen Monaten die Praxis aus, die es ihm jedoch nicht erlaubte, eine Hilfskraft zu bezahlen, so daß er alle notwendigen Arbeiten selbst erledigen mußte. Eines Nachmittags erschien ein älterer Mann bei ihm, nahm auf dem Sessel Platz, lehnte den Kopf in die Stütze und verlangte mit lauter Stimme eine genaue Untersuchung seines Gebisses, da der zweite Zahn von rückwärts unten sowie der rechte Augenzahn schmerzten. Der Arzt schlüpfte in seinen weißen Mantel, neigte sich über den Patienten, der bereitwillig den Mund öffnete und zu des Doktors maßloser Ueberraschung vollkommen zahnlose Kiefern zeigte. Nicht ein einziger Zahn schmückte des Mannes Mund. Der junge Arzt glaubte sich verhöhnt und wollte bereits grob werden, als der Alte einen Revolver aus der Tasche zog und drohend verlangte, seine Zähne plombiert zu erhalten, da er den Arzt sonst erbarmungslos über den Haufen schießen werde. Der Doktor sah ein, daß er es mit einem gemeingefährlichen Irren zu tun hatte, nahm in sein Schicksal ergeben, den Bohrer zur Hand und tat so, als bohrte er in einen kranken Zahn. Der Patient reagierte mit schmerzhaftem Zischen, ohne daß die Nadel des Bohrers irgendeine Stelle seines Kiefers berührt hätte. Der Arzt seinerseits ging auf das Spiel ein und tat, als stille er durch eine Injektion den Schmerz, doch ließ es der Patient nicht zu, daß sich der Doktor tatsächlich zum Wandschrank entferne. In der Angst vor der Unberechenbarkeit des Irren und in humorvoller Auffassung der Situation, begann der Arzt sogar genau zu beschreiben, was er augenblicklich an dem erkrankten Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 120
121 Zahn mache und was er noch damit zu tun haben werde. Dann fiel es ihm ein, das herrliche Gebiß des Patienten zu bewundern, was dem Wahnsinnigen große Freude bereitete. Diese Tragikomödie dauerte mehrere Stunden, bis die im Wartezimmer inzwischen versammelten Patienten ungeduldig zu werden begannen. Als einer in das Operationszimmer eindrang, beeilte sich der Arzt, ihn einzuladen, sich das prächtige Gebiß des Irrsinnigen anzusehen. Der Mann staunte beim Anblick der zahnlosen Kiefer, stimmte jedoch mit ängstlichen Blicken auf den Doktor dessen Begeisterung zu und entfernte sich, um kurz darauf mit Wärtern der Irrenanstalt wiederzukommen. So wurde der junge Arzt endlich aus seiner unangenehmen Situation befreit. Rigasche Post 16. Dezember 1934 W a r s c h a u. Die polnischen Behörden genehmigten die Satzungen des neugeschaffenen Vereins deutscher Lehrer in Wolhynien. Ueber 40 bereits seminaristisch ausgebildete Lehrer haben sich auf diese Weise zu einer berufsständischen und völkischen Organisation zusammengeschlosssen. In Wolhynien leben Deutsche. In der Gemeinde Markowitz konnte kürzlich eine n e u e d e u t s c h e V o l k s s c h u l e e r ö f f n e t werden. 2. Aus dem religiösen Leben in Wolhynien Estländische Gouvernementszeitung 16. März 1861 Wenn der Herr Militär-Gouverneur der Stadt Schitomir und Wolhynische Civil-Gouverneur den Ehstländischen Herrn Civil-Gouverneur ersucht hat, zur Wiederherstellung der Trümmer der im X. Jahrhundert von dem heil. Apostelgleichen Großfürsten Wladimir, zum Andenken an Wassily den Großen, in der Stadt Owrutsch erbauten Kirche, in Gemäßheit eines Allerhöchsten Befehls, eine freiwillige Collecte im Ehstländischen Gouvernement veranstalten zu lassen, so wird solches hierdurch zur allgemeinen Kenntnis gebracht, mit dem Hinzufügen, daß in der Kanzellei des Civilgouverneurs von Ehstland Beiträge zu obigem Zwecke entgegengenommen werden. Rigasche Zeitung 30. November 1861 Unterstützungskasse für evangelisch-lutherische Gemeinden in Rußland. Von C. K. Dem größten Divisionssprengel im Europäischen Rußland, Nowgorod, kann füglich S c h i t o m i r, eine der umfangreichsten Gouvernementspfarren, zur Seite gestellt werden. Sie umfaßt zwar nur das Gouvernement Schitomir und die Kreisstadt Berditschew im Kiewschen, hat aber Gemeindeglieder in 46 verschiedenen Städten, Flecken und Colonien, und bietet daher dem Pfarrer einen übermäßig großen Wirkungskreis. Wie neulich, so muß ich auch heute meine Leser bitten, um der dürren Form willen die ernsten Thatsachen, die ich aufzuzählen habe, nicht zu gering anzuschlagen. Mit dem Kirchengesetz von 1832 war eine neue Grundlage gegeben, auf der die Verwaltung unserer Kirche kräftiger und einheitlicher, als bis dahin, sich entfalten konnte. Die größere Concentration der Geschäfte allein konnte schon viele unbeachtete Uebelstände aufdecken und deren Abstellung veranlassen. Es waren aber außerdem im Gesetz Maßregeln angeordnet, welche den Fortschritt des kirchlichen Lebens entschieden fördern mußten, ich meine die Synodalberathungen und die Kirchenvisitationen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 121
122 Diese letzten von großem Belange für die entfernten und vereinzelte Gemeinden, welche in ihren Zusammenhang mit der ganzen Kirche nur selten erinnert wurden und wohl kaum jemals höhere Würdenträger der Kirche in ihrer Mitte gesehen und deren Urtheil über ihre Zustände vernommen hatten dienten wesentlich dazu, in die Verhältnisse der entfernten Glaubensgenossen einen Einblick zu gewinnen, wie die vorschriftsmäßigen Berichte allein ihn niemals gewähren können. So führte gleich eine der ersten Kirchenvisitationen im Süden des Petersburger Consistorialbezirks, wohl dem Jahre 1839 (ihre Resultate sind im 2. Bande der Mittheilungen, Jahrgang 1840, veröffentlicht) zu sehr wichtigen Aufschlüssen über Schitomir. Von dieser Pfarre heißt es: Die Stadtgemeinde zählt ungefähr vierzig Personen und hat keine Kirche, wünscht sich aber eine solche und dürfte sich bei tüchtiger Bedienung bedeutend vermehren. Der gegenwärtige Pastor, ein achtzigjähriger Greis, kann sein Amt unmöglich noch ferner in Segen verwalten. Zur Schitomirschen Gemeinde gehören noch: Berditschew mit 70 Personen, zwei Colonien bei Nowgorod-Wolynski mit 200, Polonna mit 8, Alt-Konstantinow mit 6, Zarlow mit 2, Ostrog mit 60, Wolotihisk mit 12, Luzk mit 4, unweit Kowel zwei Kolonien mit 80, Roschitsche mit 160, einige Werst weiter zwei Colonien mit 120, zwischen Lutzk und Olika 80, Rowno mit 30, 40 Werst von Rowno eine Colonie von 90, bei Stepan eine Colonie mit 120, bei Wisezki eine Colonie mit 40 Personen. - Von Schulwesen und Religionsunterricht der Jugend ist bisher keine Rede gewesen in dieser zerstreuten Gemeinde. Der General-Superintendent fand das ganze kirchliche Wesen im traurigen Verfall. Daher veranlaßte er sogleich die Wahl eines Kirchenraths, der bisher nur in einer und zwar ganz unkirchlichen Person bestanden hatte. Um die hier genannten Orte mit ihren circa 1200 Eingepfarrten auf e i n e r Rundreise zu besuchen, muß nach der Postkarte eine Wegstrecke von 840 Werst zurückgelegt werden; einige Colonien liegen aber seitwärts und veranlassen große Umwege. Eine beschwerliche Aufgabe für einen 80jährigen Greis! Die kirchliche Obrigkeit begnügte sich nicht damit, die Thatsache zu constatiren, sondern sie nahm von diesem Falle Veranlassung, die Frage aufzuwerfen, wie zu emiritirende Prediger versorgt werden könnten, eine Frage, welche mit anderen zur Sprache kommenden Zuständen wesentlich zur Gründung der Unterstützungskasse beitrug (siehe: Zur Vorgeschichte der Unterstützungskasse in dem St. Petersburger Sonntagsblatte von 1860, Nr. 17). Ich bin in den Stand gesetzt, der Kirchenvisitation von 1839 die Ergebnisse der Visitation von 1860 an die Seite zu setzen. Sie enthalten viel mehr Einzelangaben und gewähren dadurch einen vollständigeren Ueberblick, wenn sie gleich manche Fragen, die sich aufdrängen, unbeantwortet lassen. Aus dem Vergleich geht zunächst hervor, daß die lutherische Bevölkerung Schitomir s in den letzten 30 Jahren auf 4724 Seelen gestiegen ist. Viele von ihnen mögen schon damals das Land bewohnt haben, ohne in den Verzeichnissen mitgezählt worden zu sein. Der ältere Bericht erwähnt 23 Gemeindeorte, von denen 10 nicht benannt sind; der Verschlag von 1860 führt die Namen von 46 Gemeindeorten auf. Er bemerkt ausdrücklich, daß viele neu entstanden sind, folglich ist die lutherische Bevölkerung meist durch Einwanderung gestiegen. In den Jahren sind 19 Gemeindeorte mit 1630 Seelen entstanden, größtentheils in den Kreisen Schitomir und Nowgorod- Wolhynski, während die Deutschen Niederlassungen in den westlichen Kreisen älteren Datums sind. Vom Flecken Tutschin (Kreis Rowno) ist bemerkt: Hat ein gemiethetes Schulhaus erst seit 1856, ob zwar seit 1848 angesiedelt, wann weder Schulhaus noch Schullehrer war, weil viele wegzogen. Zogen die Tuchmacher, die hier beschäftigt werden, weiter, weil von der Gutsverwaltung für die Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 122
123 Schule nicht gesorgt wurde? Oder lag diese Sorge den Ansiedlern ob und unterblieb, so lange ihrer zu wenige waren? Der Vergleich der Bevölkerung von ehemals und jetzt weist aber auch viele Auswanderungen nach, obschon im Gouvernement die Landwirthschaft vorwiegt und man mithin eine größere Beständigkeit der Population erwarten dürfte, denn von den gegenwärtigen lutherischen Gemeindeorten beschäftigen sich die Einwohner von 34 mit Ackerbau, 5 Flecken dienen Tuchmachern zum Aufenthalt; in 7 Städten bestehen die kleinen Gemeinden aus Beamteten und Handwerkern. Fünf ältere Gemeindeorte sind ganz eingegangen; von den später entstandenen hat sich die Colonie Wulka 1858 wieder aufgelöst, die Colonie Maczelinhof schon 1857, Tschernolose bestand einige Jahre, aber die Lutheraner haben sich wieder zerstreut. Die drei Colonien: Faustindorf, Stara- Buda und Rebajufka, bewohnt von 180 Tuchmachern, sehen der Auflösung oder Uebersiedlung entgegen. Die Stadt Ostrog zählte damals 60 Lutheraner, jetzt wird sie nur mit 10 angeführt und mit dem Bemerken: Vor zehn Jahren ließen sich 4 Tuchmacherfamilien hier nieder, hatten weder Schule noch Lehrer und zogen bald weiter. (Also fiele die Entvölkerung dieser Gemeinde in das Decennium ) Rowno hatte ehemals 30 Lutheraner, jetzt nur 7; Berditschew ehemals 70, jetzt 24, und von der Kreisstadt Wladimir-Wolhynski heißt es: Vor mehreren Jahren waren daselbst 2 männliche und 1 weibliche Person, die aber weggezogen sind. Diese Veränderlichkeit in der Bevölkerung mag allerdings häufig aus Unruhe des Charakters, Unverträglichkeit oder übermäßiges Verlangen nach Gewinn und Genuß hervorgehen; aber man thäte Unrecht, wenn man übersehen wollte, daß nicht selten reelle Gründe zur Auswanderung treiben. So heißt es z.b. bei Rebajufka: wollen wegen Pachterhöhung wegziehen ; und bei Bresalup: der Contract ist abgelaufen. Alle Colonien dieser Gegend befinden sich auf Privatgütern und beruhen auf Privatabmachungen, die zwar manche Vortheile bieten mögen, aber zugleich durch die kurze Dauer des Contractverhältnisses eine Rechtsunsicherheit erzeugen, die dem kirchlichen Gemeinwesen jedenfalls Nachtheil bringt. Auf Jahre baut man keine Kirche; und wenn der Contract erneuert wird, so verpflichtet man sich um so weniger zum Kirchenbau, als der abgelaufene Termin ja den Beweis geliefert habe, daß man sich auch ohne Kirche behelfen könne. Auch zu Schul-Einrichtungen wird die Gutsverwaltung sich nur ungern herbeilassen und ihre Betheiligung gewiss nur auf sehr Geringes beschränken, da die Zahl der Schulkinder im Durchschnitt mäßig (meist 30 40), zuweilen nur klein (4, 5, 10, 12) ist. - Wollen wir hoffen, daß unsere Zeit diese traurige Rechtsunsicherheit mindern wird und daß die neuen Bauernverordnungen auch unserer Kirche neue Wege des Fortschritts öffnen werde. Wenn die Sitte, auch den Bauern Grundstücke zu verkaufen, Wurzel gefaßt und den bisherigen Usus, bei größeren Gütercomplexen jede Parcellirung zu vermeiden, entkräftet haben wird, dann werden auch die Deutschen Colonisten auf Privatgütern allmälig zum Grundbesitz gelangen und durch die Erblichkeit und Uebereinstimmung ihrer Interessen auch den kirchlichen Bedürfnissen einen Rückhalt gewähren, an dem es jetzt noch durchaus fehlt. Anfänge solcher Niederlassungen auf eigenem Grunde scheinen um Schitomir schon gemacht zu sein. Die meisten Landwirthe sind als Zinsbauern angegeben; aber in 6 Colonien werden sie Landeigenthümer, leider ohne erläuternden Zusatz, genannt. Diese Colonien sind: Anette, seit 1813; Josephine, seit 1819, und Janufka, seit 1858, alle drei im Kreise Nowgorod-Wolhynski; Josephin, seit 1835 im Lutzkschen Kreise; Rohrbach, seit 1857 (nicht zu verwechseln mit dem Kirchspiele Rohrbach im Chersonschen Gouvernement), im Kreise Schitomir und Blumenthal, gleichfalls seit 1857, im Kreise Saßlaw. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 123
124 Die drei älteren haben zusammen 470 Einwohner, darunter 74 Schulkinder; jede Colonie hat ihr eigenes Schulhaus und ihren Lehrer. Die drei jüngsten (mit 230 Eingepfarrten), obschon erst kürzlich angelegt, haben doch eine jede ihren Lehrer, wenn auch noch kein Schulhaus. Nach dem Verschlage von 1860 beträgt die lutherische Bevölkerung 2424 männliche, 2300 weibliche, im Ganzen 4724 Seelen, die beiden polnischen Colonien Sapuscha und Swirscha nicht mitgerechnet, die, hart an der Grenze des Grodnoschen Gouvernements gelegen, von jeher durch den Pastor zu Neudorf bei Brest-Litowski besorgt werden. Diese lutherische Einwohnerschaft ist in den Kreisen des Gouvernements ungleich vertheilt. Die Stadt Schitomir und die in ihrem Kreise gelegenen Colonien (mit einer durchschnittlichen Entfernung von 50, aber auch von 75 Werst) zählen 767 Seelen; der Kreis Nowgorod-Wohynski hat in 9 Colonien (bei gleicher mittlerer Entfernung, die jedoch bis 80 und 90 Werst steigt) 869 Seelen; der Kreis Saßlaw in 3 Colonien (mit Werst Abstand von Schitomir) 323; Ostrog hat nur in der Kreisstadt 10 Lutheraner, Berditschew, im Kiewschen, 24. In der westlichen Hälfte des Gouvernements ist der Kreis Lutzk am stärksten von Lutheranern bevölkert. In seinen 13 Colonien, die durchschnittlich Werst von Schitomir entfernt liegen und unter denen Roschitsche mit 450 Seelen die größte ist, hat 1782, Rowno in 5 Colonien (bei Werst Abstand) 766, Wladimir-Wolhynski in 2 Colonien (bei Werst Entfernung) nur 127; endlich 56 Lutheraner in den Städten Dubno und Radziwilow. Von den 46 Ortschaften des Kirchspiels haben nur 4 eigene Bethäuser: Schitomir, Slawuta, Roschitsche und Oleschkowitsch; von den anderen ist nicht angegeben, in welchen Localen sie ihren Gottesdienst halten. Dieser wird an den meisten Orten vom Schullehrer abgehalten, während der Pastor gewöhnlich nur einmal im Jahre alle Gemeindeorte besuchen kann. Die Colonien wechseln gewöhnlich alle Jahre das Predigtbuch, indem sie sich ein neues anschaffen oder bei der benachbarten Colonie eintauschen. Die meisten Colonien sind zu arm, um sich die neuen St. Petersburger Gesangbücher kommen zu lassen und müssen sich einstweilen mit den vorhandenen alten begnügen. Daher findet man hier das Elbinger, Berliner, Stettiner, Rogallsche, Züllichauer und andere Gesangbücher neben einander im Gebrauch, eine Mannichfaltigkeit, die vielleicht nur in so fern interessant ist, als sie die ursprüngliche Heimath der Ansiedler nachweisen mag. Keine einzige Colonie besitzt ein namhaftes Kirchencapital. Die Bedürfnisse der Gemeinden werden von den Kirchenvorstehern durch Collecten und Klingelbeutel mit genauer Noth bestritten; über den Ertrag, die Ausgaben und den Rest, wenn einer bleibt (was selten geschieht), wird am Schlusse des Jahres der Gemeinde Rechenschaft abgelegt. Die Zahl der Schulkinder beträgt in allen Gemeindeorten zusammen 774; die größte Zahl an einem Ort ist 60, wir sahen aber schon oben, daß sie meist gering ist. Auf den ersten Blick sollte man meinen, daß für die Schuljugend viel geschähe, da die meisten Colonien ihre eigenen Lehrer haben. Betrachtet man aber näher, was über diese angegeben ist, so wird man auf die Vermuthung geführt, der Unterricht, wo er überhaupt ertheilt wird, beschränke sich auf das Nothdürftigste. Die Lehrer sind an mehreren Orten interimistisch angestellte Landwirthe; ihr Unterhalt besteht großentheils in Accidentien. Diese werde nicht näher angegeben: hier und da wird Quartier erwähnt und zweimal eine Natural-Lieferung von 6 Tschetwert Korn. Sollten die Accidentien zumeist in Schulgeld bestehen? Dieses kann aber bei der geringen Schülerzahl nicht viel austragen. Die Geldgehalte, die nicht überall vorkommen, betragen oft nur 5 15 Rbl., an einem Orte sogar nur 3 Rbl., durchschnittlich 30 Rbl. Schitomir zahlt seinem Lehrer 70 Rbl., nur Roschitsche und Slawuta je 100 Rbl. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß die Lehrer den Erwachsenen nicht weniger nöthig sind als den Kindern, da sie in Abwesenheit des Pastors die Predigt vorlesen. Daher haben die Colonien, in denen keine Schule gehalten wird, wenigstens einen Andachthalter. Wie nun die Person des Lehrers den Mittelpunkt für die Gemeindeversammlung abgiebt und eine Lehrervacanz (deren im Verschlage einige angegeben sind) auch die Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 124
125 gemeinschaftliche Andacht aufhebt, so mag wohl das Schulhaus der gewöhnliche Versammlungsort der Gemeinde sein. Nun haben aber nur 18 Gemeinden beständige, zum Theil gemiethete Schulhäuser. Wo mögen die übrigen ihre Kinder unterrichten und ihre sonntäglichen Versammlungen halten? Auch vermißt man eine Erläuterung darüber, ob die Schullocale (die man füglich Gemeindelocale nennen dürfte) nicht in den Zinscontracten mit ausbedungen zu werden pflegen. Die große Zahl der Eingepfarrten, ihre Vertheilung in 46 Gemeindeorte, von denen 11 unter 50 Seelen zählen und 10 von 50 bis 100, der bedeutende Abstand vieler vom Pastorate in Schitomir, dessen Lage am östlichen Rande des Kirchspiels den gleichmäßigen Besuch aller Gemeinden unmöglich macht alle diese Umstände lassen die Theilung des Kirchspiels wünschenswerth erscheinen. Um aber eine Theilung, resp. Neugründung zu ermöglichen, bedarf es nicht nur der Zustimmung der Gemeinde, sondern auch ihrer Opfer und zugleich einer Garantie, daß die Einrichtung auch Bestand haben könne. Das General-Consistorium empfahl dem Herrn General- Superintendenten, bei seiner Visitationsreise diese Angelegenheit in s Auge zu fassen. Nach seinem Berichte brachte er es in Roschitsche, unter Anschluss von 11 anderen Colonien, überhaupt 1779 Seelen, dahin, daß sie eine Vocation unterzeichneten, die dem Pastor zusichert: 343 Rbl. Gehalt, eine in drei Jahren zu erbauende Wohnung mit Nebengebäuden und Garten, für Amtsfahrten 2 Pferde Vorspann, Accidentien für einzelne Amtshandlungen von 5 Kop. bis zu 1 Rbl., zur Reise und Einrichtung 300 Rbl. Das Alles erschien erwünscht und genügend; aber alle Verhältnisse der Colonisten beruhen auf Contracten, die namentlich in Roschitsche selbst eben jetzt erneuert werden sollen und auf den Gütern der minderjährigen Erben des Fürsten Bagration-Imeretinski nicht zu Stande kommen, da einer der Vormünder und Verwalter behauptet, daß in früheren Contracten den Fabrikanten versprochenes Land zu Kirche und Pastorat nicht definitiv, sondern nur zur Nutznießung abgetreten wird und daß die Contracte nur auf 10 Jahre erneuert werden können. So stellen sich der Theilung wichtige Hindernisse in den Weg. Es ist nun wohl zu hoffen, daß der richtig verstandene Vortheil großer Grundbesitzer sie dazu bewegen wird, den kirchlichen Ansprüchen ihrer Zinsbauern und Fabrikarbeiter mehr als bisher Rechnung zu tragen. Der Umstand, daß seit 1852 hier 1630 Seelen sich angesiedelt haben, zeigt ja deutlich, daß das Bedürfnis nach Deutschen Arbeitern im Steigen begriffen und die Strömung der Population seiner Befriedigung günstig ist. Sollten die Gutsbesitzer das unbenutzt lassen wollen? Oder die einwandernden Lutheraner für ihre kirchlichen Bedürfnisse gar keine Sorge tragen? Die zur Gründung einer neuen Pfarre willigen Colonien scheinen dem Lutzkischen Kreise zu entsprechen. Nun sahen wir oben, daß die Kreise Rowno und Wladimir-Wolhynski, die von Schitomir noch weiter abstehen als Lutzk, gleichfalls von Lutheranern bewohnt sind. Würden diese sich der neuen Pfarre anschließen, so würden sie ihr 950 Eingepfarrte zubringen und vielleicht auch einen Pfarr-Mittelpunkt bieten können. So hat im Rownoschen Kreise der Flecken Tutschin (auf den Gütern des Herrn Walewski) 35 Tuchmacherfamilien mit 180 Seelen, die Colonie Friedrichsdorf (auf den Gütern des Herrn von Solomka) sogar 58 Bauernfamilien mit 305 Seelen. Vielleicht würde auch der Besitzer eines der kleineren Flecken diesen durch Gründung einer Kirche für die Dauer zu heben gewillt sein. Pernausches Wochenblatt 8. Juni 1863 Der katholische Bischof von Shitomir zeigte eines schönen Sonntags nach der Mittags-Messe in der Kirche allen daselbst versammelten Polen mit lauter Stimme an, er werde unter Absingung von National-Hymnen eine feierlichen Umgang rings um die Stadt veranstalten; die Polizei schritt jedoch Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 125
126 sofort gegen diese Procession ein, befahl Allen nach Hause zu gehen, und brachte den Bischof noch selbigen Tages zur Haft. Volksblatt für Stadt und Land der Baltischen Provinzen, 15. Mai 1864 Aus Wolhinien. Wann wird einmal der falschen Beschuldigung, "daß die Israeliten Christenblut zu ihren Osterkuchen brauchen, zu ende sein. Wann wird dieser Wahn, dieser Aberglauben, diese Erdichtung, welche ein Schandfleck der Geschichte des Mittelalters ist, - wann wird diese Geißel, welche über den Köpfen der Juden so lange geschwenkt worden ist, ganz beseitigt werden? Soll den auch das gegenwärtige Jahrzehnt des 19. feinsinnigen, duldsamen und humanen Jahrhunderts mit solchen scheußlichen Dingen zu thun haben? Der Herr Professort Chwolsohn hat in seinem Buche "Ueber die mittelalterlichen Vorurtheile gegen die Juden" die Grundlosigkeit der obigen Beschuldigungen allzutreffend dargelegt, so daß ich es für überflüssig erachte, diese abscheuliche, blutdürstende Anschuldigungen abermals zu widerlegen. Dennoch kann ich nicht umhin mein Bedauern über meine Glaubensgenossen zu äußern, daß gerade Ostern, dieser theure Festtag, der Bginn des Lebens als selbstständiges (?) religiöses Volk in allen Zonen ihres Exils, Haß und Verfolgung nach sich zieht. Dieser Fall ist Gottlob in unserem löblichen russischen Lande höchst selten. Die gebildete Klasse der Christen ist von der Unschuld der Juden überzeugt und weiß, wie fade und albern der Wahn ist, daß die letzteren Christenblut zu ihren religiösen Gebräuchen benutzen. Allein der Pöbel ist noch nicht überall von diesem Aberglauben ganz abzubringen. Den 13. April d. J. wurden in Koretz die Juden zur größten Ueberraschung und zum Erstaunen Aller, in ihrer mit Mühe und Schweiß errungenen Ruhe des Passahfestes plötzlich von einer Rotte racheschnaufender Bauern in Begleitung von mehreren Kosaken überrumpelt. Sie durchsuchte und durchwühlte jedes Winkelchen in den Häusern der Juden, selbst bei den Kaufleuten 1. Gilde rissen sie die Fußböden auf, um 2 Bauern, - welche in einem nahe bei Koretz, im Gouvernement Wholinien liegenden Dorfe Morolawka verloren gingen, - hier ausfindig zu machen, weil letzere zu Koretz vor dem Osterfest Lehm und Kalk verkauften. Die Bauern, als sie das 3tägige Ausbleiben dieser 2 Lehmführer nicht begreifen konnten, geriethen auf den thörichten Einfall, daß sie von den Juden zu Koretz zum Passahfest geschlachtet worden seien, machten sich hurtig zum Friedensrichter (Mirowoiposrednik) auf und forderten Hülfe gegen die Juden. Dieser schickte sie zum Pristaw. Ungeachtet seiner Einwendungen dagegen und des Vorschlages, vorher erst die Lehmgrube zu untersuchen, drangen die bethörten Leute doch darauf, zu erlauben, den Juden das Garaus zu machen. So gestattete er ihnen denn endlich nach vergeblichem Widerstreben, bei den Juden Untersuchungen anzustellen. Fall sie iregend eine Spur von ihrem Verdachte entdecken würden, solle dann mit den Juden nach aller Strenge des Gesetzes verfahren werden. Um aber jeder Gewaltthätigkeit der erboßten Bauern, welch mit ihren Spaten versehen waren, vorzubeugen, kommandirte der Herr Obrist 15 Kosaken ihnen zu, welche die Bauern von jeder Gewaltthat fern hielten und verhinderten, daß die erbitterten Bauern nicht Hand an die Jueden legten. Es wäre wünschenswerth, daß die geehrten Geistlichen die Bauern von solchen vorurtheilen gegen die Juden befreien möchten. Bitte, geehrter herr Pastor! diesen Vorfall in Ihrem geschätzten Blatte aufnehmen zu wollen. Es zeichnet sich mit gebührender Hochachtung - J. W e i s s, Lehrer zu Koretz in Wholinien. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 126
127 Rigasche Zeitung 26. Mai 1865 Kiew. Der Kiewlänin veröffentlicht folgende Circular-Vorschrift des Gouverneurs von Wolhynien an die Gouvernements- und Kreisbehörden: Als ich die Behörden des mir anvertrauten Gouvernements besichtigte, nahm ich wahr, daß sich nicht in allen Zimmern dieselben Heiligenbilder befanden. Ich sehe keinen Grund dafür, weshalb dieser Gebrauch der griechisch-russischen Kirche, der von einem jeden Russen in seinem Hause auf das Gewissenhafteste befolgt wird, in den Behörden nicht zur Ausführung gebracht werden sollte. Wenn die Vernachlässigung desselben dadurch entsteht, daß die Mehrzahl des Beamten-Personals einer anderen Confession angehört, so finde ich gerade in einer solchen Eigenthümlichkeit der Wolhynischen Behörden eine Veranlassung geboten, in diesem seit den ältesten Zeiten rechtgläubigen Lande auch an den äußeren Kennzeichen der herrschenden Kirche um so strenger festzuhalten. Römisch-katholische Heiligenbilder und Kreuze können dagegen in Russischen Behörden nicht geduldet werden. Indem ich diesem Umstande meine Aufmerksamkeit zuwende, wünsche ich, daß unverzüglich Schritte gethan werden, um passende Heiligenbilder, wie die rechtgläubige Kirche sie verehrt, zu beschaffen, sie in jedem Behördenzimmer anzubringen, und durch dieselben die katholischen Bilder zu ersetzen. Zugleich kündige ich an, daß eine nicht buchstäbliche Erfüllung dieser Anordnung mir als Beweis dafür dienen wird, wie die an der Spitze der Behörden stehenden Personen nicht zur Genüge von den Ueberzeugungen durchdrungen sind, welche ich von den Beamten des mir anvertrauten Gouvernements zu fordern verpflichtet bin. Bei dieser Gelegenheit erachte ich es nicht für überflüssig, eines Gebrauches zu erwähnen, den ich in vielen Behörden der großrussischen Gouvernements kennen gelernt habe. Außer den in jedem Zimmer befindlichen Heiligenbildern ist nämlich bei ihnen, und zwar gewöhnlich im Sessionszimmer, auch noch ein mit besonderer Pracht ausgestattetes Heiligenbild angebracht, das zum größeren Theile durch Opferspenden der Beamten angeschafft worden ist und unterhalten wird und mit einer Lampte, sowie dem Bilde desjenigen Heiligen versehen ist, dessen Gedächtnistag als der Festtag der Behörde gilt. Das Feiern solcher Festtage und das Abhalten von Gottesdiensten an denselben verleiht der Behörde einen entschieden Russischen und orthodoxen Charakter, dessen die Behörden des Wolhynischen Gouvernements nicht entrathen sollten. Es wäre mir sehr angenehm, wenn dieser Gebrauch, der in jeder Hinsicht die wärmste Anerkennung verdient, auch hier Aufnahme fände. Ich wünsche daher, daß ein Interesse dafür in den Gliedern der Behörden und den Subalternbeamten erweckt werden möge. Wird dieser Gebrauch von ihnen adoptiert wass indessen nicht anders geschehen darf, als zufolge ihrer ganz freiwilligen Entschließung so möge man mir mittheilen, wo solches geschehen, und welcher Tag in diesem Falle als der Festtag der Behörde bestimmt worden ist. Wenn die Beschaffung von Heiligenbildern Schwierigkeiten machen sollte, so bitte ich, daß man sich an meine Kanzlei wenden möge, die bereit ist, diesen Forderungen zu genügen und so viel Heiligenbilder zu beschaffen, als gewünscht werden und für den Betrag der eingesandten Summen erworben werden können. In dem Buchladen, welcher im Hause des Archiereis von Shitomir angelegt ist, sind auch sehr passende Heiligenbilder käuflich zu erstehen. Libausche Zeitung 10. Juni 1867 Shitomir. Der Kiewn. Telegr. veröffentlicht ein an Stadt- und Kreis-Polizeibehörden erlassenes Circular des Gouverneurs von Wolhynien, durch welches die strengste Aufrechterhaltung des Verbots der jüdischen Kleidertracht unter Straf-Androhung eingeschärft wird. Die Polizeibehörden sollen darauf achten, daß die Hebräer keine andere als die landesübliche Tracht und die Weiber namentlich unter keinerlei Vorwand Perücken tragen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 127
128 Rigasche Zeitung 30. Juni 1873 Wolhynien. Nach dem Kiewl. theilt die deutsche Pet. Ztg. folgendes mit: Die Israeliten in Wolhynien halten an zwei alten Gebräuchen ihres Volkes fest. Der erste besteht darin, die Brautpaare zur Synagoge und von da nach Haus mit Musik und Fackeln zu begleiten. Der zweite altjüdische Gebrauch ist jenes Verbinden der Häuser eines Ortes mittelst Drahtfäden während des Sabbaths, so daß sie als ein geschlossenes Ganzes angesehen werden können und das Tragen von Speisen und Geräthen über die Straße ohne Verletzung des Wortlautes des Talmudischen Gebotes geschehen kann. Nun hat in Erwägung, daß beide Gebräuche gegen allgemeine Ordnung und Herkommen verstoßen, daß das Fackeltragen im Sommer feuergefährlich ist, daß der zweite Gebrauch nach einem Gutachten jüdischer Sachverständiger auf keinem fundamentalen Glaubenssatz beruht, der Gouverneur der Provinz den Behörden und Rabbinern befohlen, künftig die Einhaltung beider Gebräuche nicht mehr zu gestatten. Libausche Zeitung 21. April 1879 Riga, 19. April. Ueber die neuen gesetzlichen Bestimmungen in Bezug auf die Baptisten äußert sich der Westmol Jewropy wie folgt: Die Baptisten, welche in einer Anzahl von ungefähr 3000 Seelen hauptsächlich im Gouvernement Wolhynien angesiedelt sind, bilden eine protestantische Secte, welche keine Geistlichkeit und keine Sakramente anerkennt und die christliche Taufe nur bei Erwachsenen vollzieht. Bis jetzt nahm die Secte der protestantischen Baptisten eine vollkommen rechtlose Stellung ein, da Geburts- und Sterbefälle, sowie Eheschließungen in keinerlei Wese dokumentiert erschienen, weil es der evangelischen Geistlichkeit, welche damit betraut war, diese Register zu führen, unmöglich war, diesem Befehle nachzukommen. Sie soll daher bei der Regierung befürwortet haben, daß die Baptisten als eine besondere Secte rechtlich anerkannt werden. Diese Befürwortung ist nicht erfolglos geblieben, und in den höchsten Regierungsinstitutionen ist das Projekt des neuen Gesetzes bereits begutachtet worden; die wesentlichsten Züge desselben sind: den Baptisten wird ungehindertes Bekenntnis ihrer Lehre und die Ausübung ihres Ritus in den mit Erlaubnis des Gouverneurs zu diesem Zweck bestimmten Häusern gestattet; die Aeltesten der Baptisten können nach Bestätigung des Gouverneurs die ihnen von der Gemeinde anvertrauten Aemter verwalten; wenn sie Ausländer sind, so müssen sie zuerst für die Zeit ihrer Anwesenheit in Rußland den üblichen Diensteid der Treue leisten; die Register der Eheschließungen, Geburten und Todesfälle werden von den lokalen Civilbehörden geführt. Später denkt man ein allgemeines Gesetz für alle protestantischen Sectirer auszuarbeiten und die Führung der Civilstandsregister nach einer für alle Sectirer giltigen Form zu regeln. Der Westnik begrüßt diesen Act religiöser Toleranz mit freudigem Beifall und weist darauf hin, wie die Regierung hinsichtlich aller Bekenntnisse und Glaubenssatzungen größerer Genossenschaften stets allen klerikalen Zielen abhold gewesen ist und immer dem Princip der Gleichberechtigung gefolgt ist. Nur allein in Bezug auf das griechisch-rechtgläubige Bekenntnis bleibt sie klerikal, d.h. Integrität der herrschenden Kirche zu schützen bestrebt. Livländische Gouvernementszeitung 28. März 1883 Ukas Eines Dirigirenden Senats, desmittelst das folgende, am 19. Januar 1883 A l l e r h ö c h s t bestätigte Gutachten des Reichsraths publicirt wird: Der Reichsrath hat im Departement der Gesetze und in der allgemeinen Versammlung, nach Beprüfung der Vorstellung des Ministers der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 128
129 Reichsdomänen betreffend die Ableistung des obligatorischen Dienstes Seitens der Menoniten, f ü r g u t e r a c h t e t: die Wirksamkeit der durch das am 25. Mai 1882 A l l e r h ö c h s t bestätigte Gutachten des Reichsraths festgesetzten Bestimmungen über den obligatorischen Dienst der in den Gouvernements Wolhynien, Jekaterinoslaw, Samara, Taurin und Cherson wohnenden Menoniten auch auf diejenigen Menoniten auszudehnen, welche sich vor dem 1. Januar 1874 in allen übrigen Gouvernements und Provinzen des Kaiserreichs niedergelassen haben. Rigasche Zeitung 8. März 1886 Aus Luzk (Gouv. Wolhynien) wird uns geschrieben: In der letzten Sitzung der Stadtverordneten trug das Stadthaupt Folgendes vor: Bekanntlich existiert ein altes Gesetz aus den fünfziger Jahren, nach welchem es den Juden verboten ist, in dem Rayon, der innerhalb der Entfernung von 50 Werst von den Grenzen des Reiches liegt, sich niederzulassen. Da nun auch unsere Stadt, als eine innerhalb dieses Rayons liegende von der localen Administration betrachtet und demgemäß die Ausweisung der hier domicilirenden Juden angeordnet wird, so hat sich das Stadtamt an den Minister des Innern mit der Bitte gewandt, die Anordnung zu treffen, daß seitens der Obrigkeit eine Messung veranstaltet werden, - um sich zu überzeugen, daß unsere Stadt m e h r als 50 Werst von der österreichischen Grenze entfernt ist, und daß einstweilen die Ausweisung der Juden sistirt werde. Dieses Gesuch wurde nun vom Herrn Minister abschlägig beschieden und erachtete das Stadthaupt es als seine Pflicht, die Herren Stadtverordneten von dieser Entscheidung in Kenntnis zu setzen. Nachdem die Stadtverordnetenversammlung diese Mittheilung des Stadthauptes vernommen, faßte sie folgenden Beschluß: Da die betr. ministerielle Entscheidung die Ausweisung der Juden aus Luzk involviert; da ferner der Wolhynische Cameralhof in Folge dessen sogar die Ausweisung der gesetzlich zur hiesigen Gemeinde angeschriebenen Juden verfügt; da schließlich diese Ausweisung unbedingt den Verfall der hiesigen Geschäfte und eine bedeuten-de Reducierung der Stadteinnahmen nach sich ziehen wird, so beschließt die Duma, über diese ministerielle Entscheidung beim Dirigirenden Senat Beschwerde zu führen. Das Stadtamt hat nun den Stadtverordneten M. Men (örtlichen Rabbiner) bevollmächtigt, diese Beschwerde beim Dirigirenden Senat im Namen der Stadt einzureichen. Rigasche Zeitung 15. Oktober 1886 Erstes Flugblatt der Unterstützungskasse für die evangelisch-lutherischen Gemeinden Rußlands (Auszug) L u t h e r i s c h e K i r c h s p i e l e i n R u ß l a n d gab es nach der Zählung mit 468 Pastoren; dazu kommen noch, ohne Polen und Finnland, 7 unabhängige Grusinische Gemeinden. Von diesen 457 Kirchspielen sind 56 in den 25 Jahren, da die Unterstützungskasse unter uns arbeitet, neu entstanden, und zwar 12 in den baltischen Provinzen, und 44 innerhalb des übrigen russischen Reichs. Unter diesen 457 Kirchspielen hat fast die Hälfte derselben, 214 Kirchspiele, Unterstützungen aus unserer Kasse erhalten, und zwar genauder 429 Gemeinden in 214 Kirchspielen, gewiß ein Zeichen, daß unser Werk gleich einem Baum schon tief Wurzeln geschlagen hat in unserer Kirche und unter seinen Zweigen die Vögel des Himmels Schatten finden. Aber an vielen Orten reichen dazu die Zweige noch nicht hin. Das St. Petersburger Evang. luth. Sonntagsblatt theilt mit: das Kirchspiel Roshischtsche im nördlichen Theil des Gouvernements Wolhynien, welches von einem einzigen Pastor bedient wird, besteht aus mehr denn 300 Ansiedelungen, welche in 108 Schulgemeinden, und diese wieder in 10 Schullehrer-Conferenz- Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 129
130 Bezirke getheilt sind. Daselbst wurden im Jahre Kinder geboren, confirmirt 878 Kinder, Communicanten gab es ! Die Seelenzahl dieses Kirchspiels muß sich nach den angeführten Zahlen auf belaufen! Ebenso groß, wenn nicht größer, dürfte Shitomir sein mit Seelen. ( ) Rigasche Zeitung 21. März Beilage Zweites Flugblatt der Unterstützungskasse für die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Rußland. (Auszug) Wolhynien braucht einen vierten und fünften Pastor und ein Küsterseminar. Es ist ein reich gesegnetes Stück Land, das sich dort im Südwesten Rußlands befindet. Zwar kommt man von Norden herein, so wills Einem zuerst nicht so scheinen: weite Kieferwälder, tiefer Sand, ausgedehnte Sümpfe erinnern an die berüchtigten Pinskischen Sumpfwälder, die auch gar nicht weit davon entfernt sind, kommt man aber mehr südlich, so fährt man durch fruchtbare Felder, schöne Wiesen, große Laubwälder, kommt an Obstgärten, Flüssen vorbei, einsame Theersiedereien und Kohlenmeiler wechseln mit Edelhöfen, Kolonien, Flecken und Städten. Bis zum Jahre 1830 lebten daselbst wenig deutsche Kolonisten, etwa 1200; der einzige Pastor in S h i t o m i r konnte sie ausreichend bedienen. Die beiden polnischen Revolutionen 1831 und 63 haben das nun anders werden lassen. Seit der Zeit wandern deutsche Familien hauptsächlich Polens unaufhörlich nach Wolhynien ein. Im Jahre 1859 finden wir dort schon 5000 Eingepfarrte, jetzt sind es ihrer , wenn nicht mehr. Sie wohnen in größeren und kleineren Ortschaften über das ganze Land verstreut. Die Unterstützungskasse hat nun zuerst so geholfen, daß sie dem Pastor von Shitomir zwei Vikarprediger zur Seite stellte. Daraus entstanden 1863 und 68 z w e i n e u e K i r c h s p i e l e R o s h i s c h t s c h e u n d H e i m t h a l. Das hat der Kasse im Lauf der Jahre Rbl. gekostet. Seht, wie nothwendig unsere Unterstützungskasse für die evang. Kirche Rußlands ist! Aber genügen diese drei Pastoren? Das eine Kirchspiel hat 106 einzelne Dörfer, das zweite 250 Ortschaften! Alle drei zusammen haben 243 Schulorte! Der Pastor von Shitomir hat Konfirmanden, Kommunikanten! Der Pastor von Roshischtsche 703 Konfirmanden, Kommunikanten! Wohl ist ein Wanderlehrer angestellt, aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Was müssen wir hier thun? Da im Jahr 1882 allein 12 neue Gemeinden angesiedelt sind, so müssen wir vor allem eine K i r c h s p i e l t h e i l u n g herbeiführen, und z w e i bis v i e r n e u e P f a r r e n g r ü n d e n, 2) bedarf Wolhynien eines Küsterseminars, denn wo sollen die vielen Lehrer ausgebildet werden, die es nöthig hat. Wo findet sich der Mann, der wie der selige Werner für Bessarabien in Sarrata ein Lehrerseminar gestiftet hat, solches für Wolhynien thut? ( ) Libausche Zeitung 20. Oktober 1888 [Auszug aus dem Bericht über die Tätigkeit der Unterstützungskasse der evangelisch-lutherischen Gemeinden in Rußland für das Jahr 1887] Die größten Aufgaben sind die Gemeinden Nowgorod und besonders Pleskau mit drei Nationalitäten; die Riesengemeinden Shitomir, Rozyszcze und Heimthal mit ca Gemeindegliedern, die von nur 3 Pastoren bedient werden; Cis- und Transkaukasien und das asiatische Rußland. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 130
131 Düna-Zeitung 11. April 1889 [aus der Bekanntmachung der Verleihung von Orden und Auszeichnungen, u.a.] - den S t. A n n e n - O r d e n 3. Klasse - ( ) dem Pastor Heinrich Wasem, evang.- lutherischer Gouv.-Prediger von Wolhynien; - den S t a n i s l a u s - O r d e n 3. Kl. ( ) dem Pastor der evangelisch-lutherischen Gemeinde Roshischtsche im Gouv. Wolhynien Georg Kerm ( ) Libausche Zeitung 4. Oktober 1889 Reval. Wir freuen uns, so schreibt der Rev. Beob., daürber berichten zu können, daß unser Mitbürger, der Maler S p r e n g e l, dessen neulich von uns besprochenes Altarbild für die Odenpähsche Kirche eben in Vollendung begriffen ist, wieder mit einer neuen Arbeit auf demselben Gebiet betraut wird, indem eine lutherische Gemeinde in Wolhynien mit ihm wegen der Herstellung eines Altarbildes in Verhandlung getreten ist. Wie man sieht, erfreuen sich die Sprengelschen Altarbilder weit über die Umgegend des Entstehungsortes hinaus eines guten Rufes. Libausche Zeitung 8. Juni 1891 Die evangelisch-lutherischen Kirchenbücher sollen, wie wir bereits meldeten, vom 1. Januar 1892 ab in russischer Sprache geführt werden müssen. Die D. Petersb. Ztg., welche diese Nachricht aus sicherer Quelle gebracht hat, knüpfte, wie kurz erwähnt, daran die folgende Bemerkung: Da die Kirchenbücher bei uns in Rußland eine amtliche Bedeutung und staatliche Geltung haben und oft in Familien- und Erbschaftsstreitigkeiten u.s.w. eine entscheidende Rolle spielen, darf wohl gehofft werden, daß die betreffenden Namen, außer mit russischen Buchstaben, nebenbei auch mit lateinischen geschrieben werden dürfen, weil viele deutsche, estnische, lettische und finnische Namen mit russischen Buchstaben nicht genau wiedergegeben und voneinander unterschieden werden können. ( ) Düna-Zeitung 9. April 1892 Wolhynien. Ein slawisch-religiöses Fest, schreibt die St. Pet. Ztg. wird im Mai in Wolhynien gefeiert werden der 900jährige Gedenktag der Einführung der Orthodoxie in diesem Lande. Der Wolhynische Correspondent der Now. Wr. weist darauf hin, daß die so wie so schon zunehmende orthodoxe Bewegung unter den einwandernden Czechen dann einen besonders starken Ausdruck finden werde, indem viele von ihnen eben zu der Zeit zur Orthodoxie überzutreten gedenken. Die Now. Wr. knüpft hieran an leitender Stelle einige Bemerkungen. So sehr man auch mit dieser Bewegung vom kirchlichen Standpunkte aus sympathisiren könne, so ließe sich doch nicht übersehen, daß kirchliche und Stammesinteressen nicht immer identisch sind. Das beweise ja auch das jüngst besprchene Gesetz über die Colonisation in Wolhynien. Und eben im Hinblick auf dieses müsse man dessen eingedenk sein, daß am Ende nicht, wie die Now. Wr. wörtlich schreibt, unter dem Deckmantel religiösen Eifers politische Bestrebungen und Rücksichten, die für das Südwestgebiet durchaus nicht wünschenswert seien, Fremdlinge nach Rußland brächten. Die Sympathie der slawischen Stämme ist für uns gewiß sehr erfreulich, aber bezüglich gerade Wolhyniens hat das positive Gesetz schon solche Hinweise gemacht, die keinen Zweifel aufkommen lassen betreffs des Unterschieds, der in Zukunft zwischen indigenen Russen und Fremden gemacht werden wird, selbst wenn diese russische Unterthanenschaft angenommen haben. Das Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 131
132 bevorstehende Fest muß insbesondere gerade auf die angestammte örtliche südrussische Bevölkerung Bezug haben, die, ungeachtet aller historischen Unbill, es verstanden hat, ihre russische Nationalität und ihren alten Glauben sich zu bewahren. Diesen Begriff ohne Grund zu erweitern, wäre in diesem Falle garnicht angezeigt. Libausche Zeitung 14. Oktober 1893 Shitomir. Um den B a u d e r e v a n g e l i s c h e n K i r c h e in Shitomir hatte die dortige Gemeinde seit Jahren petitioniert, doch war ihr das Gesuch abgeschlagen worden; gegenwärtig ist es aber, wie die St. Peterb. Ztg. erfahren hat, dahin gehenden Bemühungen gelungen, die G e- n e h m i g u n g der hohen Obrigkeit z u m B a u zu erlangen. Libausche Zeitung 21. Oktober 1893 Novograd-Wolynsk. Gouv. Wolhynien. K o n v e r t i r u n g. Im Flecken Romanow des Kreises Nowograd Wolynsk wurden, wie der Wolyn berichtet, durch den Geistlichen Manuil Remetschek 21 Deutsche der Kolonie Julianowka in den Schooß der orthodoxen Kirche aufgenommen. Düna-Zeitung 19. September 1900 Shitomir, 18. September. In Wladimir-Wolynsk wurde die restaurierte Uspenski-Kirche eingeweiht, die im Jahre 1160 von Mstisslaw Isjasslawowitsch erbaut wurde und das interessanteste und älteste Denkmal kirchlicher Baukunst des russischen Alterthums in Wolhynien ist. Rigasche Rundschau 26. April 1903 Shitomir. Wie die Wolhyn mittheilt, sind auf den Straßenecken Shitomirs von der Zensur genehmigte B e k a n n t m a c h u n g e n d e s K r o n s - R a b b i n e r s in hebräischer Sprache angeschlagen, in denen die Juden aufgefordert werden, den Sabbath möglichst still zu verbringen, nicht auf den Boulevards spazieren zu gehen und Anhäufungen in öffentlichen Localen zu vermeiden. Düna-Zeitung 30. März 1904 An Auszeichnungen und Ernennungen sind zum Osterfeste u.a. nachstehende erfolgt: Verliehen wurden ( ) das Brustkreuz: ( ) den Pastor-Adjunkten zu Shitomir, Joh. B a r t h und Ernst A l t h a u s e n, ( ) Rigasche Rundschau 20. April 1905 Für A u s z e i c h n u n g in den Kämpfen mit den Japanern sind folgende Ordensverleihungen Allerhöchst bestätigt worden: ( ) der S t. A n n e n - O r d e n 3. K l. ( ) den Predigern der evang.-luth. Gemeinden: zu Kiew Pastor Friedrich W a s e m; ( ) Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 132
133 ( ) der St. S t a n i s l a u s - Orden 3. Kl. den Predigern der ev. luth. Gemeinden: Heimthal, Gouv. Wolhynien Pastor Julius J o h a n n s o n, ( ) ( ) das g o l d e n e B r u s t k r e u z dem Pastor-Adjunkten der evang.-luth. Gemeinde Roshischtsche, Gouv. Wolhynien, Hermann H a e n s c h k e ( ) Düna-Zeitung 4. (17.) September 1907 Gouvernement Wolhynien. Neue Lutherische Kirchen. Zwei freudige Ereignisse für unsere ev.- luth. Kirche in Wolhynien stehen vor der Tür: es ist die Einweihung zweier schöner neuerbauter Kirchen. Am 4. September wird die Einweihung der neuerbauten ev.-luth. Kirche in der Kolonie F ü r s t e n d o r f stattfinden, am 6. September wird die neuerbaute ev.-luth. Kirche in der Kreisstadt L u z k eingeweiht. Sämtliche Pastoren Wolhyniens werden den Kircheneinweihungen beiwohnen. Der Generalsuperintendent des St. Petersburger Konsistorialbezirks Pingoud trifft gleichfalls ein. Rigasche Zeitung 10. September 1907 Wolhynien, Kreisstadt Luzk, 6. September. Kircheneinweihung. Am heutigen Tage beging die Ev. Lutherische deutsche Gemeinde des Luzker Kreises ein hohes und seltenes Fest. Es fand die Einweihung der neuerbauten großen Ev.- Lutherischen Kirche statt. Das neue Gotteshaus befindet sich auf einem freien Platz und macht daher, von allen Seiten betrachtet, einen günstigen Eindruck, ohne von nahe liegenden Gebäuden erdrückt zu werden. Bisher mußte sich die große Luzker Gemeinde mit dem bescheidenen Bethause begnügen, welches für die Gemeinde viel zu klein war. Das neue Gotteshaus faßt aber einige tausend Personen. Es ist ein stattlicher, moderner Bau, der in Anlehnung an den gothischen Stil erbaut ist. Das Innere der Kirche macht einen sympathischen Eindruck. Besonders stimmungsvoll wirken die Glasmalereien auf den Fenstern des Altarraumes. vollzogen wurde die Einweihung durch den Herrn Generalsuperintendenten des St. Petersburger Konsistorialbezirks P i n g o u d. Sämtliche Pastoren Wolhyniens machten die schöne Feier, zu der sich eine zahlreiche Menschenmenge versammelt hatte, mit. Verschönt wurde das Fest durch Posaunenchöre und gemischte Gesangchöre. Nach dem Fest wurden die Pastoren und die Honoratioren zu einem Festmahl in das Grand Hotel geladen, zu welchem 50 Gedecke aufgelegt waren. So hat jetzt dank der Bemühung der Deutschen Wolhynien ein schönes Evangelisch-Lutherisches Gotteshaus erhalten, dessen Turm weithin sichtbar die Häuser der Stadt überragt. Düna-Zeitung 18. Februar 1908 Wolhynien. Roshischtsche (Рожище). Predigerwahl. Am 8. November starb im Alter von 88 Jahren Pastor Arnold Hoffman, Prediger an der Kirche zu Roschischtsche. Nach Pastor Hoffmanns Tode vikarierten abwechselnd 11 ev.-luth. Prediger an unserer Kirche. Kürzlich fand die Wahl eines neuen Pastors statt und die Gemeinde wählte zu ihrem neuen Hirten Pastor R a d a s e w s k i, einen Livländer. Die Gemeinde Roschischtsche ist eine der größten und reichsten Gemeinden Wolhyniens. In unserem ganzen Konsistorialbezirk sind noch 14 vakante Gemeinden, welche ohne Prediger geblieben sind, ja auch hier kann man sagen, die Ernte ist groß, aber die Zahl der Knechte klein. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 133
134 Düna-Zeitung 29. Mai 1908 Wolhynien. An die Gemeinde Roshischtschi ist zum Prediger gewählt und soeben bestätigt worden der bisherige Pastor zu Ossowka im Gouvernement Plozk G u i d o R a d a s e w s k i (Dorp. Alb. academ. Nr ). Das Kirchspiel Roshischtschi, eines von den neuen großen Kirchspielen des Gouvernements, zählt etwa Gemeindeglieder, welche meist deutsche Kolonisten sind. Rigasche Zeitung 22. Februar 1911 Petersburg. Die evangelisch-lutherische Synode, die in der vorigen Woche getagt hat und sehr zahlreich von Predigern aus dem weiten Gebiet, das zum Petersburger Synodalbezirk gehört, besucht war, hat s e h r e r n s t e F r a g e n beraten. Allgemein war die Klage, daß das Leben der Kirche nicht mehr unter dem Zeichen des Wachstums stehe, vielmehr sich überall Abnahme der Kirchenbesucher und der Abendmahlsgäste fühlbar mache und weite Kreise religiösen, speziell kirchlichen Fragen völlig gleichgiltig gegenüberstehen. Auf weite Kreise der Kirche haben sich auch s c h w e r e p o l i t i s c h e S c h a t t e n gelegt, so vor allem über den vor kurzem noch so blühenden w o l h y n i s c h e n K i r c h s p i e l e n. Hier hat die allgemeine Besorgnis und Unsicherheit bereits zur Auflösung ganzer Dörfer geführt und viele zur Auswanderung oder Abwanderung in andre Landesteile bewogen. Auch über den großen Theologenmangel, der im Reich über 50 Kirchspiele verwaisen läßt, wurde berechtigte Klage geführt. Libausche Zeitung 26. April 1914 ( ) Im Kirchspiel Heimtal verfallen viele Bethäuser in den Pachtkolonien, weil sich diese Kolonien auflösen und nur ein geringer Rest von Evangelischen geblieben ist, der auch seines Bleibens nicht sicher ist. Im Ort Emiltschin bietet das lutherische Bethaus einen traurigen Anblick im Vergleich mit der in der Nähe stehenden im Ziegelrohbau schmuck aufgeführten katholischen Kirche. Es fehlen die Mittel! ( ) Rigasche Rundschau 25. Februar 1929 (Auszug) Was Leute aus der Ukraine erzählen. In diesen Tagen passierten Riga einige Auswanderer aus der Ukraine. Sie erzählten unserem Berichterstatter: ( ) Die U n t e r d r ü c k u n g d e r K i r c h e aller Konfessionen dauert an. In einer lutherischen Kirche in Wolhynien waren einmal im Herbst gegen 1000 Kirchgänger erschienen, doch verbot der Gemeindesowjet aus formellen Gründen die Abhaltung des Gottesdienstes. Rigasche Rundschau 16. März 1931 Das Evangelische Kirchenblatt für Polen bringt in Nr. 5, 1931, folgende Notiz: Die römisch-katholischen Soldaten der Garnison in Rowno, Wolhynien, haben beschlossen, aus eigenen Kräften eine Garnisonskirche zu erbauen, da es in dem meist orthodoxen Wolhynien wenig römisch-katholische Kirchen gibt." Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 134
135 Rigasche Post 27. Juni 1937 Die Krise der Protestantischen Kirche Polens (Warschauer Brief an die "Rigasche Post") Der Protestantismus in Polen durchlebt gegenwärtig eine schwere Krise, die zwar vor allem auf die bestehenden n a t i o n a l e n Gegensätze zwischen Polen und Deutschen zurückzuführen ist, deren tiefere Ursachen jedoch in den modernen Zeitströmungen zu suchen sind. Im November v. J. hat der polnische Ministerrat einen Gesetzentwurf über das Verhältnis des Staates zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche und über den inneren Aufbau dieser Kirche beschlossen, der dann durch eine Verordnung des Staatspräsidenten rechtskräftig geworden ist. Um es gleich vorwegzunehmen, dieses Gesetz bedeutet die v ö l l i g e U n t e r o r d n u n g d e r K i r c h e i m S t a a t, dem auf die organisatorische Entwicklung in der Kirche ein weitgehender Einfluß eingeräumt wird. Es heißt zwar im Art. 2 dieses Gesetzes, daß die Evangelisch- Augsburgische Kirche in der Republik Polen eine selbständige Kirche ist, aber die Bestimmungen über die Wahl des Bischofs, der Geistlichen und Mitglieder der kirchlichen Körperschaften b e- s c h r ä n k e n d i e f r e i e W i l l e n s b i l d u n g des Kirchenvolkes derart, daß von einer Selbständigkeit nicht mehr die Rede sein kann. So bestimmt z.b. das Gesetz, daß von der Wahl eines Pfarrers oder Hilfspredigers d e r z u s t ä n d i g e W o j e w o d e (die politische Aufsichtsbehörde) z u b e n a c h r i c h t i g e n ist, der festzustellen hat, ob gegen die Wahl p o l i t i s c h e Bedenken vorliegen. Ebenso kann der Wojewode, wenn nach seiner Ansicht ein Geistlicher, ein Synodale oder sonst ein Mitglied der kirchlichen Körperschaften sich in einer dem Staate schädlichen Weise betätigt, das Konsistorium auffordern, die betreffende Person i h r e r k i r c h l i c h e n F u n k t i o n e n zu e n t h e b e n. Diese Bestimmungen enthalten an sich nichts Neuees und nichts Außergewöhnliches, da sie sich mit den diesbezüglichen Bestimmungen des im Jahre 1925 mit der Katholischen Kirche abgeschlossenen Konkordats inhaltlich fast decken. Aber im Zusammenhang mit dem d e u t- s c h e n M i n d e r h e i t e n p r o b l e m i n P o l e n besteht die Gefahr, daß durch die entsprechende Anwendung der Bestimmungen innerhalb der Evangelisch-Augsburgischen Kirche das religiöse und kirchliche Leben stark in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Seit der Wiederbegründung des polnischen Staates führt die deutsche Minderheit einen u n - u n t e r b r o c h e n e n K a m p f u m i h r e L e b e n s r e c h t e. Die deutsche Minderheit in Polen beziffert ihren zahlenmäßigen Anteil an der Evangelischen Kirche des Augsburger Bekenntnisses in Polen auf 80 %, d.h. etwa Seelen. Nach polnischer Darstellung zählt das augsburgische Kirchenvolk insgesamt Seelen, wovon "fast" die Hälfte polnischer, die andere Hälfte deutscher Nationalität sein soll. Schon diese einander widersprechenden Zahlen beweisen, daß es auch n a t i o n a l e G e g e n s ä t z e sind, die im k i r c h l i c h e n R a u m a u s g e t r a g e n werden. Und weil auf beiden Seiten wesensgleiche Gegensätze die Kampfpositionen bezogen haben, ist leider anzunehmen, daß im Eifer des Kampfes die Kirche, die berufen ist, auf der Grundlage des christlichen Prinzips der Nächstenliebe die vorhandenen Gegensätze zu überwinden, im Bewußtsein der Kämpfer immer mehr in den Hintergrund gerät und an Kraft und Ansehen verliert. Als Rufer in der Wüste tritt auf er p o l n i s c h - evangelischen Seite der Vorsitzende des Konsistoriums der Evangelisch-Augsburgischen Kirche, der Warschauer Generalsuperintendent Dr. B u r s c h e auf, der sich fast ausschließlich auf das V e r t r a u e n d e s S t a a t e s stützt. Deutscher Abstammung, aber gleich vielen anderen Deutschen, deren Vorfahren im vorigen Jahrhundert überwiegend aus Deutschland nach Kongreßpolenb eingewandert und mit der Zeit i m P o l e n t u m a u f g e g a n g e n sind, entwickelt nun Dr. Bursche einen n a t i o n a l e n Missionseifer, der eben nur aus seiner deutschen Abstammung sich erklären läßt, die er dadurch Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 135
136 z u v e r l e u g n e n sucht. Superintendent Bursche begründet seine Einstellung mit der freundlichen haltung der Mehrheit gegenüber dem Nationalsozialismus unter den führenden Kreisen des deutschen Protestantismus in Polen, die den Interessen des polnischen Staates widersprechen. Ja, er scheut sich nicht, unter Hinweis auf die kirchlichen Verhältnisse im Deutschen Reich sich des Arguments zu bedienen, daß es in Polen "nicht so schlimm" sei; denn da sei noch kein Pastor verhaftet worden. Die Verlegenheit, die mit dieser Argumentierung dem hauptsächlichen Gegenspieler Dr. Bursches, der "Arbeitsgemeinschaft deutscher Pastoren in Mittelpolen" bereitet werden sollte, hat aber der Kampfstimmung auf dieser Seite keinen Abbruch getan. Im Gegenteil! Die Senioratsversammlung der Diözese Wolhynien, die Ende April d. J. einen Kandidaten für das Amt des Seniors vorzuschlagen hatte, benannte als einzigen Kandidaten den Pastor A l f r e d K l e i n d i e n s t aus Luck, der vor kurzem mit dem Ehrendoktorat der Breslauer Universität ausgezeichnet wurde. Dr. Bursche erklärte daraufhin, daß er als Präsident des Konsistoriums die Kandidatur des Pastors Kleindienst n i c h t z u l a s s e n könne, da sich der Kultusminister dagegen ausgesprochen habe. Er forderte deshalb die Senioratsversammlung auf, einen anderen Kandidaten zu benennen; und diejenigen, die keinen weiteren Kandidaten zulassen wollten, mögen den Saal verlassen. Dieser Aufforderung leisteten f a s t a l l e Anwesenden Folge, worauf die Versammlung für aufgelöst erklärt wurde. Einen ähnlichen Verlauf nahmen die Senioratsversammlungen auch in einzelnen anderen Diözesen. ( ) 3. Zuwanderung, Auswanderung, Vertreibung, Umsiedlung a. Russische Siedlungs- und Einwanderungspolitik Libausche Zeitung 12. Dezember 1874 Petersburg. Ueber unsere westlichen Gouvernements bringt die heutige russische St.P.Z. einen Leitartikel, in welchem sie eine Aufhebung der bisherigen Sonderstellung und Einführung der Justizreform und der Landschaftsinstitutionen lebhaft befürwortet. Die Ausnahmestellung in unserem südwestlichen Gebiet diene als größter Hemmschuh der ökonomischen Entwickelung, meint das Blatt, und bringe keineswegs die erwarteten Resultate hinsichtlich der Russificirung des Landes. Man ist der Meinung, daß sich die Russificirung durch den Uebergang einer möglichst großen Zahl von Gütern aus polnischen Händen in russische vollziehe. Je stärker das intelligente russische Element im Kreise ist, um so mehr gewinnen begreiflicherweise die Interessen der Russificirung. Wenn man aber um des angedeuteten Zweckes willen warten will, bis der größte Theil der Güter, etwa zwei Drittel des ganzen Landes, Russen gehört und bis zu dem Moment die Gleichstellung der westlichen mit den übrigen Gouvernements aufschiebt, so kann Kiew darauf noch 10 bis 20 Jahre, Podolien besonders aber Wolhynien, noch länger warten. Wenden wir uns zur Frage der Russificirung. Bekanntlich haben viele Personen Güter unter privilegirenden Bedingungen erhalten, ziemlich viele haben sich auch im Westen angekauft. Dadurch hat sich freilich die lokale russische Intelligenz ein wenig gestärkt. Die Mehrzahl der Erwerber lebt aber nicht auf den Gütern und führt die Wirtschaft nicht selbst; die Güter sind verpachtet. So sind die russischen Gutsbesitzer nur nominale Mitglieder der Landschaft. Auch muß bemerkt werden, daß die Ausländer, deren die Zuckerindustrie Viele ins Land gezogen, als Russen angesehen werden und Güter erwerben können. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 136
137 Unter dessen unterstützt die Ausnahmestellung des Gebiets den Zwiespalt zwischen dem russischen und polnischen Element im höchsten Maße. Die Polen haben, ohne an der landschaftlichen Thätigkeit Theil zu nehmen, ohne mit dem neuen Justizwesen bekannt zu sein, nicht den gehörigen Begriff von den Fortschritten, welche unsere Kultur gemacht hat. Mit einer ausschließlich bureaukratischen Verwaltung sind sie längst bekannt, damit können wir sie weder in Erstaunen setzen noch anziehen. Wir müßten gerade dort ganz auf der Stufe öffentlichen Entwickelung stehen, welche wir bereits erreicht haben. Die Landschaftsinstitutionen und das Gericht das sind unsere beiden civilisatorischen Kräfte und mit ihnen können wir jene Elemente besiegen, welche den Vorzug unserer Kultur nicht anerkennen. Der Staat, der die Leibeigenschaft vernichtet, den Bauern Land gegeben, die Landschaft und ein europäisches Gericht geschaffen, kann durch diese Institutionen die Intelligenz der Schljachta besiegen, welche aus der Leibeigenschaft aus ständischer, nationaler und religiöser Exklusivität hervorgewachsen ist. Uns Achtung zu schaffen, das ist das Programm, nach welchem wir uns dem Polenthum gegenüber im Süd-Westen zu richten haben. Der erste Schritt ist bereits gethan: der obligatorische Loskauf des Bauerlandes war die Maßregel einer weisen und gerechten Politik. Wir erkannten, daß es nöthig sei, zu allererst im Gebiet alle Abhängigkeit der russischen Bauern vom polnischen Element zu zerreißen und befestigen dadurch auf immer unsere Herrschaft im Lande und setzen den nationalen Phantasien der Schljachta auf immer ein Ziel. Jetzt ist die Einführung der Landschaftsinstitutionen und der vollständigen Justizreform an der Reihe. Nachdem wir das Dasein der Bauern verbessern, müssen wir die Landwirthschaft in Ordnung bringen. Wem ist es unbekannt, wie sehr die Vorspann- und Brückenbaupflichtigkeit, welche im Süd- Westen eine sehr wichtige Rolle spielen, auf der Bevölkerung lasten? Die sehr große Zahl kleiner, hauptsächlich von Hebräern bewohnten Städtchen, welche am Brücken- und Wegebau gar nicht, an dem Vorspanndienst fast gar nicht betheiligt sind, vermehrt die auf den Bauern ruhende Last. Nur die Landschaftsinstitution wäre im Stande, eine größere Gleichmäßigkeit in dieser Sache zu erzielen. Bekanntlich wüthet in den letzten Jahren im Süd-Westen fast fortwährend die Rinderpest. Dieses Unglück ruinirt das Volk durchaus. Dagegen müßten nothwendigerweise sich die Kräfte der Landschaft und der Administration vereinen. Was die Volksbildung anlangt, so existiren Dank der verstärkten Unterstützung der Regierung mehr als 300 Volksschulen. Was bedeutet aber diese Ziffer für ein Gebiet mit fast Einwohnern? Auch hierin könnten die Landschaftsinstitutionen gute Dienste leisten. Der Südwesten zeichnet sich im Vergleich zu Groß-Rußland durch einen niedrigen Stand der ökonomischen Entwickelung der Landbevölkerung aus. Die letztere steht in völliger ökonomischer Abhängigkeit von den Juden, welche das Kapital repräsentiren. Der Kredit kommt den Bauern fabelhaft hoch zu stehen. Noch sind die Hand- und Gewerbeindustrie im Zustande der Kindheit und daher ist die Einrichtung von Leihund Sparkassen ein wesentliches Bedürfnis. Doch ist vor Einführung der Landschaftsinstitutionen eine Verbreitung dieser nützlichen Anstalten schwer zu erwarten. Mit einem Wort: das Land hat nothwendig die schleunigste Einführung der Landschaftsinstitutionen sehr nöthig. Gleiches gilt auch von der Justizreform in ihrem ganzen Umfang. Ein gutes Gericht ist überall eine Nothwendigkeit. Justizreform und Landschaftsinstitutionen würden die Erwerbung von Gütern im Gebiet durch Russen befördern. Viele Russen schieben ihren Gutskauf nur darum auf, weil der Westen immer noch eine Sonderstellung hat. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 137
138 Nach Einführung besagter Reformen hätte die russische besitzliche Intelligenz die Möglichkeit, sich der landschaftlichen und friedensrichterlichen Thätigkeit auf Grundlage des Wahlprinzips hinzugeben und würde anfangen, wirklich auf den Gütern zu leben. Der Einfluß der Reformen auf das polnische Element wäre ebenfalls unausbleiblich. Das zurückgezogene verschlossene Leben desselben würde einer lebendigen Berührung mit den Russen Platz machen und das zwar in einer Sphäre der Thätigkeit, welche öffentlich ist, unter der Kontrole der Administration steht und der politischen Intrigue aus diesem Grunde keinen Raum giebt. Der Einfluß der landschaftlichen und Justizinstitute würde, von der russischen Regierung ausgearbeitet und eingeführt, als thatsächliches Zeugniß von unserer öffentlichen Entwickelung wohlthuend wirken. Die Befürchtungen, das polnische Element werde in der Landschaft, diesem alle Stände umfassenden Institut, die Ueberhand gewinnen, sind unbegründet. In der Gruppe der Großgrundbesitzer wäre das freilich der Fall, aber die Repräsentanten der zahlreichen industriellen Einrichtungen, der Kirche und der Dorfgemeinden würde das wieder ausgleichen. Die Theilnahme der Polen am Kriminalgericht in der Eigenschaft als Geschworene wäre ungefährlich, da die Kriminalprozesse des politischen Charakters entbehren, würde aber zugleich eine Annäherung mit den Russen und mit der russischen Kultur im Gefolge haben. Es scheint uns überhaupt, daß, je größer die Gemeinschaft und gegenseitige Bekanntschaft, besonders in der Sphäre öffentlicher Thätigkeit, würde, auch der nationale Antagonismus um so mehr schwinden und sich die polnische Exklusivität geben wird. Baltische Monatsschrift, 53. Jahrgang 1911, Seite 14 30; Russische Regierungspolitik inbezug auf die Einwanderung, besonders die deutsche von G. S. (Auszug aus der Inhaltsangabe einer mehrbändigen Publikation des Historikers Sergei Michailowitsch Seredonin [ ] Historische Übersicht über die Tätigkeit des Ministercomités von ) Unter der Regierungszeit des Kaisers A l e x a n d e r II. ( ), so bemerkt der Geschichtsschreiber (III. Bd. 1. Abt. S. 265) lasse sich kein strenges System beobachten, an das sich das Ministerkomité in dieser Frage [Anm: der ausländischen Kolonisation] gehalten hätte. Das Resultat davon sei ein so unerwünschtes Faktum gewesen, wie die Zunahme des deutschen Landbesitzes an der westlichen Grenze, in Wolhynien. Dieses Faktum wurde vom Komité bemerkt, aber eben aus diesem Anlaß sprach es, indem es die Beurteilung der Frage von sich abwies, als seine Meinung aus, gegen solche unerwünschte Erscheinungen müsse mit systematischen, mit der ganzen Gesetzgebung in Einklang gebrachten Maßregeln, nicht mit administrativen gekämpft werden. Als nach dem Ende des Krimkrieges die Krimschen Tataren anfingen nach der Türkei auszuwandern, war der erste Gedanke des Generalgouverneurs Grafen Stroganow, zum Ersatz dafür Kolonisten aus Deutschland kommen zu lassen; das Komité war nicht dagegen, es nahm nur einige Verbesserungen an seinen Vorschlägen vor. Aufgrund des Manifestes der Kaiserin Katharina II. von 1763 solle dies nicht geschehen, dies könne nur Leute ohne alle Geldmittel herbeiziehen, auch widerspreche die Ansiedelung einer ausländischen Gemeinschaft, die besondere Rechte und Privilegien genieße, inmitten der russischen Bevölkerung nicht den neuen Prinzipien der staatlichen Organisation; die Erfahrung belehrte das Komité, die Aufgabe bestehe darin, Leute herzuziehen, die an nützliche Tätigkeit gewöhnt und im Besitze eigener Mittel zur festen Niederlassung seien; um aber die Hauptsache, die Annäherung an die eingesessene Bevölkerung auf dem Boden der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 138
139 faktischen Interessen zu erreichen, müsse man als Regel annehmen, die neuen nicht in großen Bezirken, sondern in Dörfern neben den russischen anzusiedeln, oder in Farmen und Hoflagen, und sie in allen Beziehungen unter die lokale Verwaltung zu stellen. Unter solchen Bedingungen könne die Ansiedelung von Ausländern das Gebiet in einen blühenderen Stand bringen; bei der Übersiedelung von Kronsbauernschaften lasse sich die durch die Auswanderung der Tataren geschaffene Lücke nicht so schnell aus füllen ein Beschluß, den der Geschichtsschreiber unter Anführung einer Reihe von Tatsachen als bedauerlich bezeichnet. Das Komité beauftragte den Minister der Staatsdomänen mit der Ausarbeitung von erleichternden Bedingungen für die Niederlassung von Ausländern in Rußland. Dieser, Murawjew, reichte nun inbetreff des letzteren ein Projekt ein, in welchem das Komité nur die Änderung traf, daß die Ausländer nach Verlauf eines gewissen Termins russische Untertanen werden müßten. ( ) Eine gewisse Gefahr sah das Komité in der Ansiedelung von Auswanderern in Rußland erst in den siebziger Jahren. Bekanntlich gingen die Einwanderer aus Deutschland und Österreich, meistens Deutsche, in der Minderzahl Slaven (Tschechen), schon lange, seit den dreißiger Jahren nach Wolhynien; ihre Zahl wuchs dort unmerklich, aber reißend. Die lokale Administration regte, wie aus dem Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Fürsten Dondukow-Korssakow, zu ersehen ist, die Frage an, diese Einwanderer in Abgaben und Verpflichtungen mit der eingesessenen Bevölkerung gleichzustellen und sie, nach ihrem Wunsche, in den russischen Untertanenverband aufzunehmen. Zugleich schrieb er, um die in Wolhynien lebenden Tschechen gegen den Einfluß der römischkatholischen Geistlichen zu schützen, habe er zwei Geistliche aus Bulgarien kommen lassen und außerdem sei der Übertritt der Tschechen zur Orthodoxie nur eine Frage der Zeit; man müsse indessen darin äußerste Vorsicht beobachten (der Kaiser bemerkte dazu Ja ). Die Bemerkung, die beiden Geistlichen haben nach der Ankunft geheiratet, rief den Unwillen des Kaisers hervor: Wenn sie, schon als Geistliche, geheiratet haben, so ist dies ganz im Widerstreit mit unseren kanonischen Gesetzen. Bald darauf machte der Generalgouverneur darauf aufmerksam, daß die Einwanderer ihren Landbesitz merklich vergrößern: verglichen mit 1861 habe sich dieser 1874 um das Zehnfache vermehrt und betrage schon Dessjätinen; gleichzeitig haben sie Dess. in Pacht; fast alle werden nicht russische Untertanen, leben als Ausländer, in abgesonderten Dörfern und seien sogar in ein feindliches Verhältnis zur russischen Bevölkerung getreten. Die Ursache der Erscheinung liege in dem Mangel an Arbeitskräften; aber wenn diese Kolonisten auch in wirtschaftlicher Beziehung dem Gebiet nützlich seien, so rufen sie politische Befürchtungen hervor, ob nicht die immer mehr zunehmende Einwanderung der Deutschen eine Änderung des Charakters des Landbesitzes an der Grenze nach sich ziehen, ob nicht statt der Russifizierung des Gebietes eine Germanisierung sich ergebe. Der Generalgouverneur schlug eine Reihe administrativer Maßregeln vor, allein das Komité ersah aus den Erklärungen der Minister des Innern und des Auswärtigen, daß die Anwendung besonderer Maßregeln auf die Kolonisten in der Praxis schwierig wäre; so kam es diesmal zu der Überzeugung, daß die Maßregeln nicht den Charakter zeitweiliger administrativer Verordnungen haben dürfen, sondern sorgfältig und allseitig im Zusammenhang mit den übrigen Teilen unserer Gesetzgebung zu beraten seien und beschloß daher, um die Kaiserliche Genehmigung nachzusuchen, daß der Minister des Innern seine Erwägungen inbetreff der Kolonisation des westlichen Grenzgebietes betreffenden Ortes vorlegen solle. ( ) Der IV. Band umfaßt nun die Regierung Alexander III. ( ), ist aber nicht mehr von dem früher genannten Professor, sondern von einem Beamten, J. J. Tschorschewski verfaßt, und zwar, wie auf dem Titel vermerkt ist, unter oberster Redaktion des Staatssekretärs K u l o m s i n. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 139
140 ( ) Im Vorwort war gesagt, nach dem Ausspruch des Präsidenten des Ministerkomités N. Chr. Bunge sei der erste Grundsatz der Regierungspolitik des Kaisers Alexander III. der gewesen, dem russischen Nationalgefühl Genüge zu tun, nach dem Rußland den Russen gehören müsse. Die Entschlossenheit des Kaisers, heißt es nun, den weiteren Zustrom von Ausländern in unsere westlichen Grenzgebiete zu hemmen und das russische Element zu stärken, gab sich von 1881 an zu erkennen. Da waren nicht bloß politische Erwägungen, die dazu führten, sondern auch die Befürchtung, künstlich kleinen Landbesitz zu schaffen, wo er bisher nicht existiert hatte. Als unter dem Ministerium des Grafen N. P. Ignatjew der Versuch gemacht wurde, zur Teilnahme an der organisatorischen Tätigkeit Sachkundige heranzuziehen, verneinten diese irgend welchen Nutzen der ausländischen Kolonisation in Rußland überhaupt und erklärten, die Besiedlung der westlichen Gouvernements mit Deutschen sei nicht bloß als schädlich, sondern auch als im höchsten Grade gefährlich zu erachten. Sie sahen voraus, diese Besiedlung könne leicht eine Tendenz der eingeborenen Bevölkerung dieser Gouvernements zur Übersiedlung nach dem Osten herbeirufen und so ein künstliches Gegengewicht gegen die Maßregeln der Regierung schaffen, die darauf gerichtet seien, die westlichen Grenzgebiete fester an das Reich zu knüpfen. Daher hielten sie es für höchst notwendig, den weiteren Zustrom von Kolonisten aus dem Westen zu inhibiren und ausländischen Untertanen unbedingt zu verbieten, überhaupt in den Grenzen Rußlands Ländereien zu erwerben und sich kolonienweise, wenn auch nur als Pächter, anzusiedeln. Dieses Verbot sei auf das ganze Reich auszudehnen, sonst würde es als eine halbe Maßregel erscheinen, die man so leicht umgehen könne, auch sei es klar bewiesen, wie notwendig es bei der jetzigen ökonomischen Lage Rußlands sei, der Bevölkerung freien Übergang aus dicht bevölkerten Gegenden in noch nicht bevölkerte zu gestatten, und wie gering in Wirklichkeit der Vorrat an Land sei, auf den man zu diesem Zwecke rechnen könne. So war die Frage also auch in der öffentlichen Meinung reif geworden. Die ausländische Kolonisation hatte bekanntlich unter der Regierung Alexander II. gleich nach der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Abschaffung der früheren Beschränkungen der Einwanderung einen neuen Anstoß erhalten. Mit dem Eintritt des freien, nicht besiedelten, Gutsbesitzereigentums, schrieb Bunge, nahm der Ankauf von Ländereien durch die Kolonisten erheblich zu und begann einerseits eine wachsende Kolonisation des südlichen Steppengebietes, vornehmlich durch Deutsche, dann der Gouvernements des Zartums Polen und des Gouv. Wolhynien; in das letzere kamen viele Einwanderer, Deutsche aus Polen und Tschechen, denen auf den Kronländereien Plätze zur Ansiedlung angewiesen wurden. Diese neuen Kolonisten, die nicht einmal die russische Untertanschaft annahmen, bildeten ganze Niederlassungen auf russischem Boden und blieben Glieder des anderen Staates, der sie zur Ableistung der Militärpflicht berief. Weitergehende Privilegien inbetreff der Abgaben und Leistungen, der Selbstverwaltung, der Schule und Kirche usw., die allen Kolonisten allgemein zugestanden waren, wurden zuweilen durch den Schutz eines ausländischen Gesandten noch ergänzt. Die Kolonisten gediehen und wurden reich, hatten aber, da sie sich in völlliger Absonderung von der russischen Bevölkerung hielten, fast gar keinen Einfluß auf die Landwirtschaft der russischen Bauern. So war also das Verbot der Erwerbung unbeweglichen Eigentum und die Unterstellung der Kolonisten unter die allgemeine Verwaltung eine absolute Notwendigkeit. Die Aufmerksamkeit des Komitees war zum ersten Male auf die Frage gelenkt worden durch den Bericht des Generalgouverneurs, Fürsten Dondukow-Korssakow, von Eine eingehende Untersuchung der Frage in den Jahren 1881 und 1882 ergab, daß in dem folgenden Jahrzehnt die Kolonisation noch bedeutend zugenommen hatte und die wesentlichen Staatsinteressen zu schädigen drohte. Alle Absichten der Chefs der westlichen Gouvernements und des Ministeriums des Innern das Verbot für Ausländer, daselbst unbewegliches Eigentum zu erwerben Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 140
141 zerschlugen sich indessen immer wieder an dem auf die internationale Bedeutung der vorgeschlagenen Maßregeln gegründeten Einwand der Ministerien des Auswärtigen und der Finanzen. Endlich wurde 1885 nach einem neuen Memorandum des Warschauer Generalgouverneurs J.W. Gurko, auf das der Kaiser aufmerksam geworden war, eine Kommission von Vertretern der dabei interessierten Ressorts unter dem Vorsitz des Gehilfen des Ministers des Innern, des Senators W. R. Plehwe gebildet zur allseitigen Klarstellung der Angelegenheit. Gurko hatte geäußert, die Dimensionen und Verhältnisse der preußischen Kolonisaton im Zartum Polen können nicht anders als ernste Befürchtungen erwecken, wozu der Kaiser bemerkte: Ja und sogar sehr! Insgesamt schätzte man die ausländischen Einwanderer im Zartum auf , von denen die russische Untertanschaft angenommen haben; der Kaiser fragte: Leisten sie die militärische Dienstpflicht bei uns ab? In unserem Interesse sei es nicht gleichgültig, ob das ganze Grenzterritorium russischen Untertanen oder solchen ausländischer Mächte angehöre; der Kaiser: Natürlich. Es müsse als Bedingung für die Erwerbung von Land im Zartum der Eintritt in den russischen Untertanenverband aufgestellt werden; der Kaiser: dies ist notwendig. Was aber die Ausländer betrifft, die noch nicht eingetreten sind, so müssen sie verpflichtet werden, in einem gewissen Termin entweder überzutreten oder das Gebiet zu verlassen. Internationalen Schwierigkeiten dürfe man schwerlich in Fragen der staatlichen Sicherheit eine entscheidende Bedeutung beilegen; der Kaiser: Natürlich nicht. Der Kommission wurde Allerhöchst die Weisung gegeben: Es ist wünschenswert, die Sache möglichst schnell zu entscheiden. Sie blieb zunächst bei den von der örtlichen Polizei und dem Militärressort gesammelten, leider nicht vollständigen und nicht gleichzeitigen statistischen Daten stehen, aus denen sie die glaubwürdigsten aussondert. Danach fand sie: im Südwestgebiet hat sich im Laufe des Jahrzehnts die ausländische Bevölkerung verdoppelt und ist von Einwohnern (wovon 6000 in die russische Untertantschaft übergetreten) auf (1,46 % der Bevölkerung) gestiegen; das in den Besitz von Ausländern übergegangene Areal hat sich fast um das fünffache vergrößert, von Dessj. auf (3,67 % des gesamten Territoriums), davon sind Dessj. in der Hand von solchen, die die ausländische Unter- tanschaft beibehalten haben. In den Gouvernements des Zartums Polen ist die ausländische Bevölkerung in 8 Jahren um 71,5 % gestiegen, von Personen auf (5,73% der Gesamtbevölkerung), darunter ausländische Untertanen; das Areal ausländischen Landbesitzes im Zartum ist um 28,4 %, von Dessj. auf , gewachsen, was schon 9,64 % des Territoriums ausmacht. Der große Landbesitz besonders genommen, hat um 27,2%, der kleine nur um 11,5 % zugenommen. Dabei aber beobachtete man in beiden Gebieten eine stetige Ablösung der ausländischen landwirtschaftlichen Besiedlung, neue Einwanderer aus dem Ausland setzen sich im Zartum auf den Ländereien der früher gekommenen Ansiedler fest und diese wanderten, indem sie die besiedelten Stellen den neuen Ankömmlingen räumten, selbst weiter nach Wolhynien, wo sie schon 5,93 % des Territoriums inne hatten; der Zusammenhang zwischen beiden Kolonisationen ergab sich aus genaueren Daten mit solcher Evidenz, daß er unwillkürlich Beunruhigung hervorrief. Eine bedeutende Ansammlung von Ausländern ließ sich besonders in den Kreisen an der Grenze oder nahe der Grenze beobachten (in dem von Slupzy, Gouv. Kalisch, waren 45 % des Territoriums von Ausländern besetzt); eingenommen waren auch die Gegenden an Flußufern und längs der Straßen und Eisenbahnverbindungen. Das Kriegsministerium berichtete von der völligen Überfüllung der Rayons der wichtigsten westlichen Festungen mit Ausländern. Auf Grund dieser Daten kam das Komitee zu dem Schluß, von allen unseren Grenzgebieten sei in politischer Beziehung das schwächste das westliche; geographisch an das Territorium von Staaten ersten Ranges grenzend, sei es zu drei Vierteln von einer Bevölkerung besetzt, die den Staatsinteressen zum wenigsten gleichgiltig gegenüberstehe. Die Regierung sei schon von lange her bemüht gewesen, das westliche Grenzgebiet fester an den Staat zu binden und habe vor keinem Opfer Halt gemacht, um den Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 141
142 Wohlstand und die ökonomische Selbständigkeit der bäuerlichen Bevölkerung zu sichern und daselbst den großen russischen Landbesitz zu installieren. Das Vorhandensein eines bedeutenden ausländischen Elementes im Gebiet ginge den Zielen einer solchen Politik diametral entgegen. Die ausländischen Ansiedler, die den Interessen des Landes, das sie aufgenommen hat, fremd blieben, vermehrten nur die ohnehin zahlreichen, vom staatlichen Gesichtspunkt aus negativen Elemente und erwarben sich zugleich, während sie staatliches Territorium besaßen (1/10 des Zartums Polen) dank der ihnen eigenen Energie und ökonomischen Kraft, Einfluß auf die eingeborene Bevölkerung. Die ökonomische Abhängigkeit der örtlichen Bevölkerung von den Ausländern erschien der Kommission besonders gefährlich im Nord- und Süd-Westgebiet, ( ) wo die eingeborene, zu einem bedeutenden Teil russische Bevölkerung schon ohnehin durch den Einfluß ihr und dem Staate feindlicher Elemente und der schwer auf ihr lastenden Abhängigkeit von den Juden geschwächt war. Von diesem Gesichtspunkt aus flößten die großen ausländischen Landbesitzer der Kommission fast noch größere Besorgnisse ein, als die kleinen Eigentümer unter den Ansiedlern, da den ersteren die Erwerbung eines ökonomischen Einflusses bedeutend leichter fiel. Indessen übertraf der große ausländische Landbesitz im Zartum Polen den kleinen um das zweieinhalbfache, im Südwestgebiet um das anderthalbfache. Von den kleinen und großen Eigentümern und Pächtern äußerte die Kommission in gleicher Weise, sie nehmen im Gebiet die Stellung ein, die im allgemein staatlichen Interesse der eingeborenen ländlichen Bevölkerung und den russischen Landbesitzern zukommen müßte. Die überwiegende Mehrzahl der Ansiedler gehörte der germanischen Nationalität an (im Zartum Polen 82,57 % aus Deutschland, 15,38 %, aus Österreich-Ungarn, 2,05 % aus anderen Staaten). Dies nötigte die Kommission zu glauben, daß der als geschichtliche Aufgabe der germanischen Rasse betrachtete Drang nach Osten sich unseren westlichen Grenzgebieten zugewandt habe. Bei dieser Sachlage schien die Aufgabe der Regierung, den Zustrom von Ausländern in die westlichen Gouvernements aufzuhalten, völlig klargestellt; in Bezug auf die Mittel bot sich auch keine große Wahl: man mußte den Einwanderern den Weg zum Landbesitz versperren. Die Kommission hatte zu entscheiden: soll man ein direktes beschränkendes Gesetz erlassen oder den Zustrom bekämpfen vermittelst administrativer Verweigerung der zum Ankauf und zur Pacht von Land notwendigen Erlaubnisscheine? Der zweite indirekte Weg war zum Teil schon durch die Bestimmungen von 1884 versucht worden, aber der Versuch war mißglückt. Der Administration war es äußerst schwierig gewesen, dem bürgerlichen Umsatz des ganzen unbeweglichen Eigentums in den westlichen Gouvernements zu folgen; abschlägige Bescheide, die nicht auf ein Gesetz gegründet waren, hatten, abgesehen von den Klagen an den Senat, beständige Anlässe zu diplomatischer Intervention der ausländischen Regierungen, in Form von Verwendung für diese oder jene Personen, zur Folge gehabt. Die Öffentlichkeit zu vermeiden (ein Hauptmotiv für die indirekte Beschränkung) würde gleich schwierig sein und die Klagen wären noch mehr. Daher sprach sich die Kommission für direkte und allgemeine Entscheidung der Frage durch Erlass eines beschränkenden Gesetzes aus. ( ) Da Deutschland und Österreich an der Beibehaltung der bisherigen Ordnung in unseren Grenzgebieten allzu unmittelbar interessiert seien, so bleibe die Gefahr internationaler Verwicklungen doch. Allein die definitive Würdigung und Entscheidung dieser Schwierigkeiten käme nur der souveränen Gewalt zu: der Minister des Auswärtigen, R. N. Giers, habe sich in einem Memoire vom 6. Juni 1886 seinerseits für die dringende Notwendigkeit eines unaufschiebbaren Kampfes mit der Kolonisation ausgesprochen. Die Kommission beantwortete nun drei Fragen; die erste: In welchem Rayon sind die beschränkenden Maßregeln einzuführen? so: In 21 Gouvernements der westlichen Zone; die zweite: welches unbewegliche Eigentum speziell sollen die Maßregeln betreffen? Alles außerhalb der Städte und Häfen belegene; in Ortschaften befindliches Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 142
143 zu erwerben soll, um ein Umgehen des Gesetzes zu verhindern, verboten sein. Die dritte Frage war: Soll man den Ausländern, die unbewegliches Eigentum in den westlichen Gouvernements erwerben, den Übertritt in die russische Untertanschaft erleichtern? In dem ursprünglichen Entwurf des Ministeriums des Innern war beabsichtigt, Ausländern die Erwerbung von Landeigentum zu gestatten, wenn sie die russische Untertanschaft annehmen wollen, indem man für solche den Termin der Niederlassung auf ein oder zwei Jahre verkürzte. Allein, wenn die Kolonisten auch die russische Untertanschaft annahmen, zeigten sie doch sehr wenige Neigung, der eingeborenen Bevölkerung sich zu nähern; am wenigsten ließen sie sich nach Ansicht der Kommission dabei von dem Wunsche leiten, die Verbindung mit dem früheren Vaterland definitiv abzubrechen; deshalb fürchtete die Kommission durch die angegebenen Privilegien nur die Tendenz zu rein äußerlichem Übertritt zu fördern und sprach sich für bedingungslosen Ausschluß der Ausländer vom Landbesitz aus. Welche speziellen Beschränkungen festzusetzen seien, entschied die Kommission lauf Grund der Bestimmungen von 1865 und 1884 über die Beschränkung des Übergangs unbeweglichen Eigentums in die Hand von Personen polnischer Herkunft; allein diese waren hauptsächlich gegen den großen polnischen Grundbesitz gerichtet. Inbezug auf die Ausländer stellte sich die Aufgabe bedeutend umfassender: es war beschlossen auch den Zustrom ausländischer landwirtschaftlicher Kolonisation zum Stillstand zu bringen, indem man den Kolonisten die Erwerbung kleiner Landstücke zum Eigentum auf lange und sogar auf kurzterminierte Pacht verbot, da die kurzen Pachtkontrakte faktisch leicht auf lange Jahre erneuert werden konnten; auch war bekannt, daß die Verpachtung großer Güter in kleinen Parzellen an Ausländer eine der verbreitetsten und vorteilhaftesten Arten der Ausbeutung des Landes im Südwestgebiet war. Mit der Pacht und aus denselben Erwägungen dachte die Kommission den Ausländern auch jegliche zeitweilige Besitznahme oder Nutznießung auf Grund irgendwelcher rechtlicher Bestimmungen, sowohl der durch die allgemeinen im Reiche geltenden Zivilgesetze, als auch durch die besonderen im Zartum Polen, im baltischen Gebiet und im Gouvernement Bessarabien anerkannten zu verbieten. Auch die Annahme unbeweglichen Eigentums als Pfand sollte den Ausländern verboten werden; nur sollte die Beschränkung nicht ausgedehnt werden auf das im Wege gesetzlicher Erbschaft von ausländischen Untertanen wieder in die Hände solcher übergehende unbewegliche Eigentum, indem man befürchtete, durch schroffen Eingriff in das Gebiet der Familienverhältnisse heftige Klagen und eine ganze Reihe diplomatischer Schwierigkeiten hervorzurufen. In allen übrigen Fällen sollte das einem Ausländer zugefallene unbewegliche Besitztum im Laufe eines Jahres an jemand, der das Recht habe, solches zu besitzen, verkauft und bei Nichterfüllung dieses Punktes unter Kuratel gestellt und in öffentlicher Auktion verkauft werden. Der Generalgouverneur von Kiew, von Trenteln, beantragte, eine Ausnahme mit den Ausländern zu machen, die Fabriken und industrielle Betriebe einrichten; ihnen sollte die Erwerbung von Landeigentum bis zu 200 Dessj. mit Erlaubnis des Generalgouverneurs gestattet werden. Ein Hauptmotiv, den ausländischen Landbesitz zu erweitern, war unter Alexander II, wie aus den Notizen zum Ukas vom 7. Juni 1860 zu ersehen ist, ebenfalls das gewesen, ausländisches Kapital und ausländischen Unternehmensgeist nach Rußland zu ziehen. Mit demselben rechtfertigten sich auch die früheren Ausnahmen unter Nikolai I. Allein die Kommission von 1885 erachtete die Ausdehnung der ausländischen Industrie in unseren Grenzgebieten für eine unseren Staatsinteressen eher schädliche, als nützliche Erscheinung ; indem sie mit der einheimischen Industrie unter für letztere äußerst ungünstigen Bedingungen konkurriere, sei sie eines der mächtigsten Werkzeuge der friedlichen Eroberung der Grenzgebiete, der es wünschenswert sei ein Ende zu machen. Daher fand die Kommission keinen Grund, in den Entwurf über den ausländischen Landbesitz ein Privilegium aufzunehmen, das in seinen Motiven mit der grundsätzlichen Ansicht des Entwurfs von der Bedeutung dieser uns feindlichen Erscheinung schroff auseinander gehe. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 143
144 Die Beschränkungen wurden auch auf die juristischen Personen: Gesellschaften, Kompagnien usw. ausgedehnt. Schon 1 ½ Jahre vorher hatte das Ministerkomitee durch Allerhöchst bestätigten Beschluß vom 6. April 1884 den Ministern des Innern, der Finanzen und der Justiz aufgetragen, Maßregeln gegen die Mißbräuche bei der Ausführung von Landkreditoperation seitens der ausländischen Gesellschaften im Zartum Polen zu ergreifen; das Justizministerium hatte die daraus sich ergebenden Fragen dem Senate vorgelegt. So konnte man es als feststehend betrachten, daß ausländische Kompagnien, deren Statuten von der russischen Regierung nicht bestätigt waren, ihre Operationen in unserem Gebiet ausführten, indem sie den deutschen Landbesitz unterstützten. Andererseits konnte auch nach den früher bestätigten Statuten einiger Kompagnien ihnen das Recht zugesprochen sein, unbewegliches Eigentum im ganzen Gebiete des Reiches zu erwerben. so mußten also, um die sehr leichte Umgehung des Gesetzes zu verhüten, die Beschränkungen auch auf die juristischen Personen ausgedehnt werden. Ihnen eine Rückwirkung zu geben, wurde nicht beabsichtigt; die bis zum Erlaß der Bestimmungen erworbenen Rechte sollten unangetastet bleiben. Indessen wurde als entscheidend in diesem Falle gerade der Moment der faktischen Zuerkennung der Rechte angesehen; dem Vorkontrakt wurde die Geltung abgesprochen, eine Erneuerung oder Verlängerung des Kontraktes verboten. ( ) In drei Sitzungen, im Februar und März 1887, beriet nunmehr das Ministerkomitee in Gegenwart der Generalgouverneure von Warschau, Kiew, Wilna, Odessa und des Vorsitzenden der Kommission, W. R. Plehwe, den Entwurf im einzelnen; im Ganzen wurde er zweckentsprechend gefunden. Der umfangreiche Wirkungskreis (21 Gouvernements) rief keinen Einwand hervor; die Miteinbeziehung von zehn Gouvernements des Zartums Polen, dreier südwestlicher (Kiew, Podolien, Wolhynien), dreier nordwestlicher (Wilna, Kowno und Grodno), sowie Bessarabiens geschah auf dringende Verwendung der Generalgouverneure, weitere vier Gouvernements (Minsk, Witebsk, Kurland und Livland) wurden infolge von Erwägungen des Kriegsministers hinzugefügt. Die Strenge der Bestimmungen wurde vom Komitee verschärft: der Übergang durch Erbschaft wurde auf die engsten Verwandtschaftsgrade beschränkt, nur in direkt absteigender Linie vom Vater auf den Sohn, vom Großvater auf den Enkel konnte vererbt werden, sowie unter Gatten, aber nur wenn der Erbe vor dem Erlaß der Bestimmungen sich in Rußland angesiedelt hatte. Andrerseits wurde der Termin des obligatorischen Verkaufs auf 3 Jahre verlängert. Auf Antrag des Warschauer Generalgouverneurs Gurko wurden die Bestimmungen für die polnischen Gouvernements noch durch das Verbot für ausländische Untertanen ergänzt, als Verwalter zu administrieren (diese Administration unterschied sich, da der Verwalter eine unbeschränkte Vollmacht erhielt, wenig von der Pacht). Durch eine besondere Klausel nahm das Komitee das Mieten von Häusern oder Landhäusern zu zeitweiligem Aufenthalt aus. Das Verbot für Ausländer, im Westgebiet unbewegliches Eigentum als Pfand anzunehmen, fand das Komitee zu drückend für die Interessen der russischen Landwirte, denen die Beschaffung von Geld als Pfand erschwert würde. Daher beschloß das Komitee diese Maßregel unter der Bedingung, daß eine derartige Abmachung keinenfalls die Erwerbung solchen Besitztums durch Ausländer oder den Eintritt derselben in den wirklichen Besitz oder die Nutznießung zur Folge habe; auf diesem Wege dachte man die Möglichkeit oder wenigstens die Vorteilhaftigkeit der Umgehung des Gesetzes durch fiktive Abmachungen zu beseitigen. Den siebenten Artikel, von der Ungiltigkeit der Abmachungen zur Umgehung des Gesetzes, ergänzte das Komitee durch die Bestimmung, die Generalgouverneure und Gouverneure seien berechtigt, im Falle solche ungesetzliche Abmachungen zu Tage kommen, bei den Berichten ihre Vernichtung zu beantragen. ( ) Mit diesen Verbesserungen wurde der Entwurf des Ukases gutgeheißen und von Alexander III. am 14. März 1887 unterzeichnet. Die Bestimmungen hinderten die Übersiedlung von schon früher in den Weichselgouvernements ansässig gewordenen Kolonisten nach Wolhynien und teilweise in das Nordwestgebiet nicht. Eine Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 144
145 der Hauptursachen der starken Übersiedlung von Kolonisten war die verhältnismäßige Wohlfeilheit des Landes im Westgebiet. Mit dem Steigen der Preise im Zartum Polen nahm auch die Auswanderung der dort angesessenen Kolonisten in die benachbarten Gouvernements zu, zumal nach Wolhynien, wo Überfluß an billigem Lande zum Verkaufe oder zum Verpachten war. Das Gesetz vom 15. Juli 1888 ordnete die obligatorische Anschreibung der Kolonisten zu den Stadtoder Landgemeinden im Südwestgebiet an, indem es auch die Bildung von Kolonieen zu besonderen Landgemeinden genehmigte; damit war die privilegiert Lage der Ausländer beseitigt. Im Zartum Polen aber änderte sich die Lage der Kolonisten ebenfalls schroff und nicht vorteilhaft für sie; darum konnte das Gesetz von 1888 die Übersiedlung nach dem Süden nicht aufhalten zählte man in Gouv. Wolhynien ausländische Eingewanderte ( Höfe), nach der Zählung von 1890 waren es schon (außerhalb der Städte) und Höfe; die Einwandererzahl hatte also um 227 %, die der Höfe um 213 % zugenommen. Die Zahl der abgesonderten Ansiedlungen wuchs in vier Jahren von 926 auf Von den Einwanderern waren 78 % Deutsche, 11 % Tschechen und gegen 11 % Slaven aus Österreich und Preußen. So setzte sich also die Kolonisation der westlichen Zone fort. Ihre Bedeutung wurde nicht verringert durch die Steigerung der Prozentzahl derer, die russische Untertanen geworden waren. In Wolhynien hatten 1890 nur etwas über ein Zehntel der Kolonisten die frühere Untertanschaft beibehalten; russische Untertanen waren 85,9 %, allein die Kolonisten lebten wie früher für sich allein und hielten sich von der russischen Bevölkerung fern. Diese Data zeigten, daß die Annahme der russischen Untertanschaft einen leicht gangbaren Weg zur Umgehung der obengenannten Bestimmungen bildete; die anfangs in den Vordergrund gestellte Frage von der Untertantschaft erhielt so allmählich eine ganz andere Färbung; jetzt machte man nicht mehr Vorschläge, zur Naturalisation aufzumuntern, sondern sie zu erschweren und umgekehrt zum Austritt aus dem russischen Untertanenverband zu ermuntern. Zugleich wurden die Maßregeln des Kampfes mit der ausländischen Kolonisation im eigentlichen Sinne durch neue Beschränkungen der Einwanderung überhaupt von Leuten nichtrussischer Herkunft von Ausländern, seien sie auch russische Untertanen, in das Westgebiet ergänzt. In seinem Bericht von 1888 bestand der Gouverneur von Wolhynien auf einer Änderung der Lage der deutschen Kolonien; der Kaiser bemerkte dazu: Ja. Jener schlug vor, die Kolonisten in die inneren Gouvernements überzusiedeln und das Gesetz über die Annahme der Untertanschaft von seiten minderjähriger Kinder der Kolonisten abzuändern; der Kaiser: Man mache Vorschläge. Nach Einvernehmen mit dem Generalgouverneur von Kiew, Grafen Ignatjew, sprach sich der Minister des Innern dahin aus, die Versuche einer ausländischen Kolonisation sogar von der Grenze so entfernter Gouvernements, wie die an der Wolga gelegenen, Saratow und Samara, haben gezeigt, daß die Isolierung der Kolonisten sich keiner Gegenwirkung füge und die Maßregeln sich auf die vollständige Befreiung Rußlands von dem ausländischen Elemente richten müsse. Diese Stellung der Frage schlug auch der Kiewer Gouverneur vor: 1) die fernere Übersiedlung der Kolonisten aus dem Zartum Polen nach Wolhynien sei zu verbieten und 2) ihnen der Austritt aus der Untertanschaft und aus Rußland zu erleichtern. Inmitten der Kolonisten begann die Tendenz, nach Brasilien auszuwandern, zutage zu treten; allein die Versuche freiwilliger Übersiedlung wurden im Einklang mit dem Gesetz von den Lokalbehörden aufgehalten. Durch Allerhöchsten Befehl vom 28. März 1891 wurde der Generalgouverneur ermächtigt, unentgeltliche Erlaubnisscheine zur Abreise aus Rußland mit Aufgabe der Untertanschaft auszustellen. Welche rechtliche Folgen im Falle einer Rückkehr der von den anderen Mächten nicht in die Untertanschaft aufgenommenen Kolonisten entstanden wären, war streitig; jedenfalls aber wäre so der Zugang zum russischen Landbesitz, wenn auch nicht zur russischen Untertanschaft, diesen Kolonisten verschlossen gewesen. Der Minister des Innern, J. N. Durnowo, schlug vor, den Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 145
146 Generalgouverneur von Kiew mit derselben Vollmacht auszustatten. Den in Rußland befindlichen und in den russischen Untertanenverband eingetretenen Kolonisten schlug er vor, jegliche Erwerbung von Land außerhalb der Städte zu verbieten und die nach Publikation des Verbotes Zuwiderhandelnden auf administrativem Wege aus dem Gouv. Wolhynien auszuweisen. Diese Maßregel, die der Umgehung des Gesetzes entgegenwirken sollte, wich von der in den Bestimmungen von 1881 und 1887 über den polnischen und ausländischen Landbesitz ab: die gerichtliche Nichtigkeitserklärung ungesetzlicher Vereinbarungen war durch administrative Ausweisung der Personen selbst ersetzt, die sie getroffen hatten. Diese Abweichung wurde mit den Unbequemlichkeiten der Erhebung einer Klage gerechtfertigt, wenn es sich um wenig wertvollen Besitz handelte, oder die verbotenen Vereinbarungen mündlich getroffen waren, während die Maßregel gerade auf Kolonisten berechnet war, die kleine Anteile pachteten, in der Mehrzahl der Fälle auf Grund eines nichtformellen Kontraktes (in Wolhynien verhielt sich schon 1882 der kleine Landbesitz zum großen wie 1 : 0,8). Der Vorschlag, den Kolonisten den Zugang zum Landbesitz zu verschließen, wurde vom Kriegsminister Generaladjutanten Wannowski unterstützt und vom Komitee angenommen. Der Finanzminister Wyschnegradski war deshalb nicht gegen die Ausführung, wies aber auf einige Mißstände in finanzieller Hinsicht hin. Der Justizminister Manassein schlug vor, die Bestimmungen jetzt schon aus Vorsicht, auch auf die Gouv. Kiew und Podolien auszudehnen, obwohl im ersteren nur 4714 Ansiedler, im zweiten 1902 Familien vorhanden seien. Allein das Komitee trat der Meinung von J.N. Durnowo und A.A. Abasa bei, die vorgeschlagenen Maßregeln, die auch die Besitzrechte der russischen Untertanen schmälern, seien so scharf und exklusiv, daß man ihre Wirksamkeit auf das Gouv. Wolhynien beschränken müsse. Die generelle Entscheidung der Frage von den deutschen Kolonieen wurde bis zur bevorstehenden Revision der Gesetze über die Untertanschaft verschoben. Außerdem boten die Gouv. Kiew und Podolien nicht die günstigen Bedingungen für die Kolonisation, eine große Zahl kleiner freier Parzellen. In Bezug auf Wolhynien brachte das Komitee folgende Bestimmungen in den Entwurf: die Beschränkungen der Kolonisten in der Erwerbung der Rechte auf unbewegliches Eigentum finden keine Anwendung auf Fälle gesetzmäßiger Erbschaft; Rückwirkung haben sie nicht, aber es werden nicht ausgenommen die Kolonisten, die früher nach Wolhynien gekommen, sich noch kein Land durch Kauf oder Pacht erworben haben; sie erstrecken sich nicht auf die Einwanderer die den orthodoxen Glauben bekennen und russische Untertanen geworden sind. Die Mehrzahl solcher orthodoxen Einwanderer (21 579) waren nach der Mitteilung des Oberprokurators des h. Synod längst im Gouvernement angesiedelte Tschechen, die schon russischen Gemeinden angehörten und mit der eingeborenen russischen Bevölkerung orthodoxe Parochieen bildeten. Das Komitee beschloß: die orthodoxen slavischen Kolonisten seien mit der russischen Bevölkerung schon so verschmolzen, daß die Erweiterung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit keine Befürchtungen in politischer Beziehung hervorrufen könne. Außerdem sollte die Gouvernementsbehörde, falls ungesetzliche Vereinbarungen entdeckt würden, die gerichtliche Nichtigkeitserklärung derselben veranlassen. Der Entwurf eines Ukases betreffend die Niederlassung von Personen nichtrussischer Herkunft im Gouvernement Wolhynien wurde am 14. März 1892 vom Kaiser genehmigt. ( ) Von den unter der j e t z i g e n R e g i e r u n g getroffenen Maßregeln ( ) sollte eine wiederum der Stärkung des russischen Nationalitätsprinzips im Gouv. Wolhynien dienen. Das Ministerkomitee zog wohl in Erwägung, die in dieser Richtung schädlichen Einflüsse ließen sich durch ein radikales Mittel beseitigen, wenn man allen Nichtrussen verböte, sich im Gouvernement anzusiedeln und die schon ansässigen ausländischen Kolonisten daraus entfernte. Es beschloß aber nur (Gesetz von 1895) das Verbot, außerhalb der Städte und Ortschaften Eigentum zu Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 146
147 erwerben und Ländereien zu pachten, auf solche Kolonisten, die russische Untertanen sind, und auf solche, die aus dem Weichselgebiet übersiedeln, auszudehnen, jedoch ohne Rückwirkung. Rigasche Rundschau 23. Mai 1903 Bezüglich des jüdischen Ansiedlungsrayons werden in Nr. 113 des Reg. - Anz. zwei am 10. Mai 1903 Allerhöchst bestätigte Minstercomité-Beschlüsse publicirt, deren erster die Corroboration jeglichen Erwerbs unbeweglichen Eigenthums durch Juden a u ß e r h a l b des Ansiedlungsrayons untersagt, deren anderer i n n e r h a l b des Ansiedlungsrayons den Grundwerwerb in 101 namhaft gemachten Ortschaften den Juden gestattet. Es handelt sich dabei um die Gouvernements Bessarabien, Wilno. Witebsk, Wolhynien, Grodno. Kiew, Kowno, Mohilew, Podolien, Poltawa, Taurien, Chersson und Tschernigow. Nach einem in derselben Nummer des Reg. - Anz. wiedergegebenen kurzen Motivenbericht sind obige Maßregeln dadurch hervorgerufen, daß einerseits der jüdische Grundbesitz außerhalb des Ansiedlungsrayons in letzter Zeit stark zugenommen hat (so im Gouv. Nowgorod Dessjät.; Pskow 189, 782 Dess. und Smolensk gar 304,207 Dess.). und daß andererseits innerhalb des Ansiedlungsgebietes eine Menge Ortschaften städtischen Charakters entstanden sind, in denen somit den Juden Grunderwerb gestattet werden kann. Angesichts des Fortschreitens dieses Processes der Entstehung städtischer Ansiedlungen ist es dem Minister des Innern anheimgestellt, das publicirte Verzeichnis der Ortsschaften, in denen jüdischer Grunderwerb zulässig, nach Bedürfniß zu ergänzen. [hierzu im Vergleich: Rigasche Zeitung : Se. M. d e r K a i s e r haben am 3. Januar, auf Beschluss des Ministerkomté s, A l l e r h ö c h s t zu befehlen geruht: Juden, welche in den westlichen Gouvernements Witepsk, Mohilew, Minsk, Grodno, Kiew, Wilna, Podolien, Wolhynien, und in der Provinz Bialystok zum Ackerbau übergehen, als fest angesiedelt zu betrachten, wenn sie wenigstens fünf Dessätinen Landes auf jede männliche Person innehaben, sie mögen dieses Land von der Krone erhalten, oder durch Kauf oder Pacht unter gesetzlichen Bedingungen von Privatbesitzern erhalten haben. ] Libausche Zeitung 2. Oktober 1920 Von den russisch-polnischen Friedensverhandlungen in Riga. Die Bedingungen der Sowjetregierung. Das Sekretariat der russisch-ukrainischen und der polnischen Friedensdelegation veröffentlicht den Bericht der ersten Sitzung des Hauptausschusses, der von beiden Delegationen gebildet worden ist. Den Vorsitz führte Joffe, der im Namen der russisch-ukrainischen Delegation den Text des Präliminarfriedens - Projects vorlegte. Dieses Projekt besteht aus 17 Artikeln. A r t i k e l 1 lautet: Ausgehend vom Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker, anerkennen beide Vertragsmächte die Selbständigkeit und U n a b h ä n g i g k e i t d e r j e n i g e n V ö l - k e r, welche die z w i s c h e n i h n e n b e l e g e n e n R e p u b l i k e n gebildet haben und den Wunsch zu einer selbständigen staatlichen Existenz ausgedrückt haben; sie bestätigen also feierlich die Unabhängigkeit und Souveränität der Republiken W e i ß r u ß l a n d s, L i t a u e n s und der U k r a i n e. A r t i k e l 2: In Anbetracht dessen, daß die nationale Sebstverwaltung O s t g a l i z i e n s noch nicht eine endgiltige staatliche Form angenommen hat, erkennen beide Vertragsmächte im Prinzip die Unabhängigkeit Ostgaliziens an und erklären sich damit einverstanden, daß die endgiltige Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 147
148 Entscheidung seines Geschicks auf dem Wege einer A b s t i m m u n g der gesamten Bevölkerung auf Grund des allgemeinen, direkten, gleichen und geheime W a h l r e c h t s festgestellt werden wird. Im A r t i k e l 3 verpflichten sich beide Vertragsmächte, sich in die i n n e r e n A n g e l e - g e n h e i t e n der erwähnten Republiken nicht einzumischen. Im A r t i k e l 4 wird nochmals feierlich bestätigt, daß Rußland bedingungslos die S o u v e r ä- n i t ä t d e s p o l n i s c h e n S t a a t e s anerkennt. Im A r t i k e l 5 folgt die Festsetzung der s t a a t l i c h e n G r e n z e zwischen Weißrußland, der Ukraine und Polen, die folgendermaßen verlaufen soll: Von der Staatsgrenze Litauens und Weißrußlands bei der Mündung des Flusses Swiszlocz in den Njemen beginnend, verläuft sie durch folgend zur Ukraine oder Weißrußland fallenden Punkte: Swislocz, Rudnja, Bjelowesh, Kamenez- Litowsk, Brest-Litowsk, Pischtscha, Ljuboml, Wlandimir-Wolynsk, Grigoniza und weiter längs der ehemaligen russisch-österreichischen Grenze bis zum Dnestr an der Grenze Rumäniens. Nur in der Gegend von Brest-Litowsk soll die Eisenbahnlinie Bjelostok Brest-Litowsk - Cholm, vollständig zu Polen gehörend, die Grenzlinie bilden. Hierbei soll der Eisenbahn-Kotenpunkt von Brest-Litowsk zum Zwecke des Transitverkehrs der Ukraine zufallen. Eine genauere Festsetzung dieser Grenzen wird im endgiltigen Friedensvertrage erfolgen. Achtundvierzig Stunden nach Unterzeichnung dieses Vertrages müssen alle m i l i t ä r i s c h e n O p e r a t i o n e n e i g e s t e l l t werden. Die polnischen Truppen haben sich 25 Werst westlich der Linie zu konzentrieren, die als Staatsgrenze zwischen Weißrußland und der Ukraine einerseits und Polen andererseits festgesetzt worden ist. Die russischen Truppen haben sich ihrerseits 25 Werst von der Grenze zurückzuziehen. Der Rückmarsch der polnischen Truppen hat in der Weise zu erfolgen, daß nicht weniger als 20 Werst in 24 Stunden zurückgelegt werden. Bei Abmarsch der polnischen Truppen haben alle öffentlichen Gebäude, Eisenbahnen und dergl., die nicht Eigentum der polnischen Armee bilden, zurückzubleiben. Zu beiden Seiten der Grenzlinie wird sich die n e u t r a l e Z o n e befinden, in der weder militärische Besetzung noch militärische Handlungen vorgenommen werden können. Die Verwaltung dieser neutralen Zone liegt in den Händen der gemischten Kommission, in der Polen, Weißrussen und Ukrainer beteiligt sind. Im A r t i k e l 6 verpflichten sich beide Vertragsmächte, nicht zu dulden, daß auf ihrem Territorium irgend welche bewaffnete Organisationen feindselige Handlungen gegen den anderen Staat vornehmen, oder sich in den Besitz von Kriegsmaterial setzen. A r t i k e l 7 behandelt die Einzelheiten der projektierten Volksbestimmungen. A r t i k e l 8 den Schutz der Rechte der nationalen M i n o r i t ä t e n. A r t i k e l 9 den Verzicht auf Rückerstattung der Kriegsunkosten. Die A r t i k e l 10, 11 und 12 den Austausch der Kriegsgefangenen, Geiseln usw., und den Erlaß weitgehender Amnestien. Im A r t i k e l 13 wir darauf hingewiesen, daß sofort nach Abschluß des Präliminarfriedens die Verhandlungen über den d e f i n i t i v e n F r i e d e n s a b s c h lu ß beginnen müssen, denen die hier angeführten Vertragspunkte als Grundlage dienen sollen. A r t i k e l 14 betrifft die Frage über die A b r e c h n u n g beider Staaten nach Friedensabschluß mit Bezugnahme auf die frühere Zugehörigkeit Polens zu Rußland, aus welcher Polen keine Verbindlichkeiten erwachsen; A r t i k e l 15 bezieht sich auf die Konsulate, Handel, Transit usw. A r t i k e l 16 behandelt die Ausführung des Vertragsdokuments. A r t i k e l 17 Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 148
149 lautet: Dieser Vertrag tritt sofort nach seiner Ratifikation in Kraft. Alle Einzelpunkte desselben haben zur G r u n d l a g e d e s d e f i n i t i v e n F r i e- d e n s v e r t r a g e s zu dienen. Auf Antrag des Vorsitzenden der polnischen Delegation wurde hierauf die Sitzung geschlossen um der letzteren die Möglichkeit zu geben, über die Vorschläge der russischen Delegation zu beraten. Libausche Zeitung 15. Oktober 1920 Die Friedenskonferenz in Riga. Die neunte Plenarsitzung wird um 5 Uhr 55 Minuten nachmittags eröffnet. Der Saal ist von Publikum und Journalisten überfüllt. Den Vorsitz führt Joffe, der die Texte des Vorfriedensvertrages und der Waffenstillstandsbedingungen in russischer Sprache verliest. Der Vorfriedensvertrag enthält folgende Bestimmungen: 1 Beide vertragschließenden Parteien anerkennen die Selbständigkeit der Ukraine und Weißrußlands. Sie setzen die polnisch-weißrussisch-ukrainische Staatsgrenze fest. Jede vertragschließende Partei verzichtet auf die im Gebiete des anderen Staates liegenden Länder. Die Frage der Zugehörigkeit strittiger litauischer Gebiete wird als interne litauisch-polnische Angelegenheit bezeichnet und kann nur von diesen beiden Staaten entschieden werden. 2 Beide vertragschließenden Parteien verpflichten sich, jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates zu vermeiden und Truppen, die gegen den anderen Staat kämpfen, nicht zu unterstützen. 3 Die vertragschließenden Parteien verpflichten sich in den Friedensvertrag das Optionsrecht aufzunehmen. 4 Die vertragschließenden Parteien garantieren den Bürgern des anderen Staates das Recht der freien Ausübung ihrer religiösen und kulturellen Gebräuche. 5 Die vertragschließenden Parteien verzichten auf jegliche Entschädigung für bei der Kriegführung entstandene Schäden. 6 Die Parteien verpflichten sich den Gefangenenaustausch vorzunehmen. 7 Die Parteien verpflichten sich unverzüglich die Rücksendung der Geiseln, Flüchtlinge, Inhaftierten und Emigranten vorzunehmen. 8 Die Parteien verpflichten sich alle Gerichtsverfahren, Strafen und Verfolgungen gegen Bürger des anderen Staates sofort einzustellen. 9 Die Parteien verpflichten sich, im Friedensvertrage eine Erklärung, die völlige Amnestie den Bürgern des anderen Staates gewährt, aufzunehmen. 10 Die in den Friedensvertrag aufzunehmenden Bedingungen, betreffend die gegenseitigen Berechnungen, sollen auf folgenden Grundsätzen ruhen: für Polen erwächst keine Verpflichtung aus der früheren Zugehörigkeit zu Rußland. Polen hat das Recht, die seit der Teilung Polens nach Rußland ausgeführten Archive, Bibliotheken, Trophäen etc. zurückzuverlangen; Polen u. seine Bürger werden bei der Entschädigung für die während der letzten Jahre in Rußland erlittenen Schäden bevorzugt werden. 11, 12 Die Parteien verpflichten sich sofort nach Friedensschluß in Unterhandllungen zwecks Abschluß von Handelsverträgen, Transitverkehr usw. zu treten. 13 Die Parteien schließen gleichzeitig einen Waffenstillstand ab. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 149
150 14 Rußland und die Ukraine erklären, daß die in diesem Vertrage von ihnen akzeptierten Verpflichtungen für das ganze Territorium ihrer Staaten bindend sind. 15 Die Parteien verpflichten sich, unverzüglich zum Abschluß eines definitiven Friedens zu schreiten. 16 Der Vertrag ist in russischer, polnischer und ukrainischer Sprache abgefaßt. 17 Vorliegender Vertrag muß innerhalb 15 Tagen identifiziert werden. Innerhalb 21 Tagen muß der Austausch der Ratifikations-Urkunden in Libau erfolgen. Falls nach 21 Tagen der Austausch dieser Ratifikations-Urkunden nicht erfolgt sein sollte, können nach Verlauf von weiteren 48 Stunden die kriegerischen Handlungen wieder aufgenommen werden. umfaßt u.a. folgende Bestimmungen: Der Waffenstillstandsvertrag Riga, am 12. Oktober Nach Verlauf von 144 Stunden nach Abschluß des Präliminarfriedens, d.h. um 24 Uhr nach Mittel-Europäischer Zeit, am 18. Oktober 1920 verpflichten sich beide vertragschließenden Parteien die kriegerischen Handlungen einzustellen. 2 Die russisch-ukrainischen Heere dürfen am Tage der Einstellung der kriegerischen Handlungen nicht näher als 15 Kilometer von der polnischen Frontlinie entfernt sein. 3 Die hierdurch entstandene 15 Kilometer-Zone gilt als neutral 4 Im Rayon von Neswitsch bis zur Düna gruppieren sich die Polen längs der im 1 des Vorfriedensvertrages festgelegten Grenze. Die Russen 15 Kilometer östlicher. 5 Alle zur Erfüllung obiger Bedingungen notwendigen Umgruppierungen der Armeen müssen mit einer Geschwindigkeit von im Minimum 20 Kilometer in 24 Stunden erfolgen und nicht später als um 24 Uhr des 19. Oktober 1920 beginnen. 6 Nach Ratifikation des Vorfriedens werden die beiderseitigen Heere im Innern der vertragschließenden Länder, nicht näher als 15 Kilometer von der Staatsgrenze abgeführt. Die 30 Kilometer-Zone gilt als neutral. 7 In den neutralen Zonen dürfen keine bewaffneten Formationen unterhalten werden. 9* Beim Verlassen der im 4 und 6 angegebenen Gebiete, hinterlassen die Heere alles dem Staate, verschiedene Institutionen, Gesellschaften usw. gehörende Gut, wie rollendes Material, Getreide, Rohstoffe usw. unangetastet. Es ist verboten, Geiseln mitzunehmen oder die Bevölkerung zu evakuieren. 10 Während des Waffenstillstandes sind Bewegungen der Heere, ausgenommen die in 8 angegebenen, verboten. 11 Truppenteile und Personen, die diese Bestimmung nicht einhalten, gelten als Kriegsgefangene. 12 Falls nach 21 Tagen dieser Vertrag von keiner Seite gekündigt wirde, verlängert er sich automatisch und kann danach nur in 14 Tagen gekündigt werden. (* Anm.: ein 8 ist im Originaltext nicht aufgeführt) Die Grenzlinie, wie sie der Vorfriede festlegt, verläuft etwa folgendermaßen: beginnend beim lettländischrussischen Grenzstein an der Düna, folgt sie dem Zuge der Ostgrenze des ehem. Gouvernement Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 150
151 Wilna nach Süden, schneidet dann ca. 40 km westlich von Minsk und ca. 60 km. westlich von Sluzk das ehem. Gouvernement Minsk, folgt dem Laufe des Flusses Lan, berührt die Stwiga, läßt Rokitno östlich liegen und biegt ca. 50 km westlich von Nowograd-Wolynsk nach Südwesten, berührt Ostrog, das zu Polen fällt, und folgt schließlich dem Laufe des Sbrutsch bis zur rumänischen Grenze. * Wie das PPP mitteilt, beträgt das neuerworbene Territorium Polens, einschließlich des Wilnaer Gebietes, das voraussichtlich über kurz oder lang sich Polen anschließen würde, Quadr.- Kilometer mit etwa 4 Millionen Einwohnern. Nach den Nationalitäten verteilt bestehen diese [Setzfehler im Original] Ukrainern, Juden und Angehörige anderer Völkerschaften (Deutsche, Tschechen, Großrussen usw.) Bis zum Friedensschluß bestand das polnische Territorium aus Quadrat-Klm. mit 24 Millionen Einwohnern. Rigasche Rundschau 22. Dezember 1921 Eigentumsrechte der Ausländer in Rußland. Moskau, 15. Dezember. Es ist ein Erlaß über die Eigentumsrechte der Ausländer jener Staaten veröffentlicht worden, die einen Friedensvertrag mit Sowjetrußland abgeschlossen haben, wie z.b. Polen, Finnland, Lettland, Estland, Litauen etc. Dieser Erlaß behandelt vor allem das w ä h r e n d d e s K r i e g e s e v a k u i e r t e E i g e n t u m. Es wird vorgeschrieben, dergleichen Eigentum, Maschinen, Inventar etc. auf Verlangen ihrer Besitzer herauszugeben zum Zweck der Rückführung. Dem Besitzer steht außerdem das Recht zu, sein Eigentum in Pacht zu übernehmen und im Lande zu verbleiben. In diesem Falle verliert er jedoch das R e c h t a u f E v a k u a t i o n s f o r d e r u n g. Der Erlaß erstreckt sich nicht auf bewegliches und unbewegliches Eigentum, das zwar obenerwähnten Ausländern gehört, aber in Rußland erworben worden ist. b. Pressespiegel: Antideutsche Stimmen und Maßnahmen Libausche Zeitung 7. November 1881 (Auszug aus einer Reihe von Meldungen aus der Zeitschrift Russj ) ( ) An einer anderen Stelle ergeht sich das Blatt des Herrn Akssakow in Auslassungen, die der Curiosität halber erwähnt zu werden verdienen: Es heißt. u.a. wörtlich: Gegenwärtig beträgt die Zahl der Ausländer in Volhynien und Podolien mehr denn Seelen. Das Merkwürdigste dabei ist, daß diese Ausländer, wie wir erfahren, nicht russische Unterthanen sind, sondern sogar auch noch der preußischen Landwehr angehören. Es erhellt daraus, daß Deutschland im Fall eines Conflicts mit Rußland auf russischem Territorium eine Avantgarde besitzt. Wir selbst erleichtern den Deutschen die Mobilisierung ihrerseits und werden uns dann selbst über die Schnelligkeit wundern, mit der sie dieselbe vollziehen. Dank dieser Einwanderung richtiger deutscher Soldaten in unsere Grenzen ist die russische Urbevölkerung genöthigt, aus Mangel an Land auszuwandern, und wir suchen nach Mitteln, um dieser ökonomischen Krisis abzuhelfen. Wir vernehmen, daß dieser Drang nach Osten in hohem Grade von verschiedenen von unserem auswärtigen Amt abgeschlossenen Conventionen gefördert wird. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 151
152 Libausche Zeitung 24. Juni 1883 Die G e r m a n i s i r u n g d e r s ü d w e s t l i c h e n G o u v e r n e m e n t s R u ß- l a n d s oder die deutschen Colonisten lautet das Thema, welches sich der Correspondent der Russj aus Wolhynien erlaubt hat dieser zu schreiben. Man weiß nicht, ob man mehr über die grenzenlose Unwissenheit des Verfassers der erbaulichen Correspondenz oder über die Dreistigkeit seiner Behauptungen staunen soll. Man höre, was genannter Herr schreibt: 1) die Ansiedler daselbst sind größtentheils Preußen und gehören der lutherischen Confession an; 2) bereits die zweite Generation kommt ihrer Wehrpflicht in Preußen nach und kehrt sodann nach Rußland zurück. Während des deutsch-französischen Krieges waren in den Colonien nur Greise und Kinder zurückgeblieben. Alles, was Waffen tragen konnte, war auf dem Kriegsschauplatze versammelt; 3) alle Colonisten sind vorzüglich bewaffnet; 4) fast der ganze Nowograd-Wolhynische Kreis und der größte Theil des Shitomirschen ist mit Preußen besetzt; 5) obgleich die Colonisten russisches Brot essen und russisches Geld verdienen, so sympathisiren sie nicht im geringsten mit Rußland; sie nennen sich Unterthanen der großen Nation und kennen nur dieser gegenüber Pflichten als wahrhaft preußische Unterthanen; 6) die örtlichen Unterthanen, namenlich die Bauern leiden unter der Willkür und groben Behandlung dieser Vertreter der großen Nation, wie die große Anzahl der in diesen Gegenden schwebenden Criminal- und Civil-Processe beweist, unglaublich. Jeder Bauer wird die Versicherung geben, daß er zehn Juden einem Colonisten vorzieht. Wer auch nur oberflächlich mit den Verhältnissen in Wolhynien vertraut ist, wird zugeben, daß Preußen im Fall eines Krieges mit Wolhynien wenigstens eine Division, wenn nicht ein ganzes Corps zur Disposition steht. Aber noch nicht genug dieses gehässigen Blödsinnes. Die Redaktion der Russj sieht sich noch zu folgenden Bemerkungen in Bezug auf diese Correspondenz veranlaßt: Wie wir erfahren, wird dem Allerhöchsten Ermessen in nächster Zeit ein Gesetzesproject vorgelegt werden, demzufolge die preußischen Colonisten in den südwestlichen Gegenden Rußlands gezwungen werden sollen, entweder russische Unterthanen zu werden, oder innerhalb dreier Jahre auszuwandern. Ist dieser Termin nicht zu lang? In drei Jahren kann viel geschehen! Der St. Pet. Herold schreibt hierzu mit vollem Recht: Wir haben dieser Ausführung der Russj nichts mehr hinzuzufügen; es sei denn, daß die Hitze gegenwärtig 32 Reaumur übersteigt und daß auch in Moskau sich etliche Kaltwasserheilanstalten befinden. Libausche Zeitung 5. Juli 1883 Wir taten unlängst eines Artikels Erwähnung: Die Colonisten in den Gouvernements Warschau und Wolhynien, in welchem der Drang der Deutschen von Westen nach Osten einer äußerst abfälligen Kritik unterzogen wird. Die deutsche Colonisation in den südwestlichen Provinzen des russischen Reiches giebt der St. Pet. Wed. aufs Neue Veranlassungen zu Betrachtungen hierüber. Sie entnimmt neuerdings polnischen Quellen einige diesen Gegenstand betreffende Facta, welche wir ohne jeden Commentar abdrucken. Man ersieht daraus, daß die deutschen Colonisten im Gouvernement Warschau, an den Ufern der Weichsel und auf Kronsländereien des Fürstenthums Lowitsch angesiedelt sind; die Hauptmasse der Deutschen bewohnt hingegen diejenigen Landstriche, welche vor dem 19. Februar 1861 Privateigenthum des Großgrundbesitzes des Königreichs Polen gewesen sind. Dieses ist daher gekommen, daß die Verwaltung der Kronsländereien im Gouvernement Warschau vor 20 Jahren, als Graf Berg Statthalter war, eine große Menge Deutscher auf den von den Polen seit 1863 confiscirten Ländereien angesiedelt hat. Unwillkürlich liebt man seinesgleichen! Der Name und die Nationalität des obersten Chefs dieses Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 152
153 Gebiets hat die Deutschen an die Ufer der polnischen Weichsel gelockt. Im Warschauer Gouvernement allein stellt sich der Grundbesitz der Deutschen folgendermaßen: Es giebt 61 rein deutscher großer und kleiner Dörfer und die Zahl der Dörfer mit gemischter Bevölkerung, deutscher und polnischer, beträgt 586. Im Jahre 1881 allein sind 5576 deutsche Wirthe in ihren Besitz eingeführt worden. Wenn man nur die Daten dieses einen Jahres berücksichtigt, wird man sich leicht vorstellen können, wie groß der deutsche Grundbesitz im Königreich Polen ist und wie bedeutend diese leichte Eroberung slawischen Landes für das deutsche Vaterland ist. Diese Eroberung vollzieht sich ohne Kampf, ohne daß ein Schuß fällt, ohne Blutverlust und ohne Waffen - es ist ausschließlich eine Eroberung der Cultur, zu der die russischen Administratoren, zum Verderben Polens, die Hand bieten. Dafür können wir selbst ohne Zweifel einmal büßen, da der ungeheure deutsche Grundbesitz an den Grenzen Rußlands gewiss der deutschen Sache großen Nutzen bringen wird, aber natürlich ohne irgend welchen Nutzen für das Slaventhum! Das ist leicht gesagt Familien! Das sind mindesten weitere Menschen die bei uns festen Fuß gefaßt haben als Grundbesitzer. Weitere Deutsche sind dann diesen noch als Arbeiter und Handwerker gefolgt, die gleichfalls nach slavischem Boden dürsten. Und mit Ausnahme der Weiber und Kinder sind das lauter Militärs (die deutsche Landwehr), Verabschiedete, zeitweilig und auf unbestimmte Zeit Beurlaubte, die bereit sind, sofort eine Avantgarde der deutschen Armee zu bilden. Wie groß diese auf Rußlands Boden stehende Armee ist, das weiß nur Fürst Bismarck; uns ist s zur Zeit noch unbekannt. Trotzdem aber, daß es den Deutschen in den polnischen Gouvernements somit recht gut geht, drängten sie dennoch nach W o l h y n i e n vor, da sie ihr Land in Polen sehr hoch verkaufen und in Wolhynien welches sehr billig kaufen konnten. Besonders lieben die deutschen Kolonisten den Norden Wolhyniens, wohin sie zumeist aus den Kreisen Gostinin und Ssochatschew und aus dem Centrum der reichen Weichselkolonien wandern. Als Stimulus dient hierbei die phänomenale Billigkeit des Landes im Wolhynischen Waldgebiet ( Polessje ) und der Wunsch, soviel als möglich slavisches Land, d.h. urrussischen Grund und Boden in ihre Hände zu bekommen. Das ist schon kein Kampf ums Dasein mehr, das ist deutsche Politik auf slavischem Boden; eine Politik, welche die Grenzen Deutschlands nach der Düna und dem Dnjepr zu verlegen sucht. Und die Götter Wallhalls begünstigen offenbar die Sache der Germanisierung slavischer Länder. Die Kolonisten des Weichselgebietes können jede ihrer Dessjatinen in Polen, in Wolhynien gegen 240, mindestens aber 120 Dessjatinen Waldland vertauschen Unter solchen Verhältnissen ist der Drang nach Osten begreiflich und möglich! ruft das Blatt aus, nachdem es zur Bekräftigung seiner Behauptung eine Thatsache mitgetheilt hat, wo eine Frau Mogilnizki Morgen in Wolhynien für Rbl. dem Warschauer Affairisten F. S. verkauft habe, während in Polen oder Preußen dieses Grundstück den Wert von Millionen repräsentiere. Zum Schlusse des langen Artikels heißt es dann: Wenn Wolhynien Bodenkredit- und Hypothekeninstitute besäße und die Möglichkeit, das Bauerland zu verkaufen, so würden die Deutschen und Juden bald die Bauern vollständig verdrängen und die Wiege des Heiligen Wladimir - das alte russische Wolhynien - in eine rein deutsche Provinz Wolhynien-Land umwandeln. Libausche Zeitung 29. Juli 1883 Nachdem wir neulich, so schreibt die deutsche St. Pet. Ztg. vom Aksakow schen Blatt über die Gefahren unterrichtet worden sind, die dem russischen Vaterlande durch die K o l o n i s a t i o n i n W o l h y n i e n drohen sollen, ist es interessant, jetzt die Stimme eines lokalen Organes, das Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 153
154 die Dinge an sich ohne politische Voreingenommenheit zu schildern sucht, zu hören. Die Nedelja entnimmt dem Blatt Wolyn die nachstehende Schilderung: Die Kolonisation des südwestlichen Gebietes nimmt gegenwärtig einen sehr weiten Maßstab an; aus den polnischen Gouvernements, wo die deutschen Kolonisten einen beträchtlichen Grad ökonomischen Wohlstandes erreicht haben, haben sie sich jetzt nach Wolhynien aufgemacht und wählen hier wie absichtlich zu ihren Niederlassungen solche Gegenden, die bei den Eingeborenen als Unland gelten und daher wenig bewohnt sind. Die ganze Masse der deutschen Bevölkerung hat sich auf der niedrigen Zone der Kreise Shitomir, Nowograd-Wolynsk, Rowno, Luzk und Wladimir konzentrirt, wo die Erde mit Moor und Flugsand bedeckt ist und seitens der Ackerbauer ungewöhnliche Anstrengungen erfordert. Die Deutschen erstanden hier Land zu fabelhaft billigem Preise und in kaum zehn Jahren war die von ihnen bevölkerte Sumpfzone kaum wieder zu erkennen: an den Seiten der Wege ziehen sich in ununterbrochener Reihe hübsche Niederlassungen hin, nach allen Richtungen sind Gräben zur Trockenlegung des Bodens gezogen. Der Wald ist so rein gehalten, wie selten der Garten bei den ortsansässigen russischen Wirthen, überall sieht man üppige Kornfelder und reiche Heuschläge. Es ist begreiflich, daß nach Maßgabe der von den Deutschen im Kampfe mit der wilden Natur erreichten Erfolge auch die Ertragsfähigkeit und der Wert des Bodens steigen. Die Deutschen haben ihre eigenen guten Schreiner, Schmiede, Weber und andere Handwerker, hier und da ist auch Fabrikbetrieb eingerichtet. Für ihre Schulen, deren die Deutsche viele haben, sehr viel mehr als die Russen, berufen sie Lehrer aus Deutschland und Oesterreich Leider schließt die Schilderung, die dem deutschen Kulturelement in so schöner Gerechtigkeit alle Ehre widerfahren läßt, doch mit dem perfiden Hinweis auf die Gastfreundschaft und Unterstützung, welche die deutsche Armee in den wolhynischen deutschen Kolonien eventuell finden würde als ob heut zu Tage die Kriege nicht von Soldaten, sondern von Bauern geführt würden! Libausche Zeitung 12. August 1883 In Bezug auf die vielfach erörterte und besprochene Frage, betreffend die d e u t s c h e C o l o- n i s a t i o n in Südwestrußland hat der "Kijewljanin", wie er selbst sagt, eingehende Studien gemacht und ist zu folgenden Schlußfolgerungen gelangt: "1) Weder qualitativ noch quantitativ ist dieses Gebiet durch die deutsche Colonisation mit der Germanisirung bedroht; diese Gefahr droht weder dem Landbesitz noch der Bevölkerung, weil die deutsche Colonisation dazu zu schwach ist. 2) Der geographischen Lage nach droht Wolhynien auch im Fall eines Krieges durch die dekutsche Colonisation keine Gefahr, da Wolhynien zu weit entfernt von Deutschland ist. Nach Oesterreich hin gravitiren aber die Deutschen nicht und können auch nichtd gravitiren. 3) Die Colonisten bilden ein äußerst nützliches Element in diesem Gebiet, weil sie unbenutzt daliegenden wenig fruchtbaren Boden bearbeiten, rationelle Landwirtschaft einführen, Viehzucht treiben u.s.w." Hieraus folgt direct, daß ein Verbot, betreffend die Colonisation oder irgend welche in dieser Hilfe ergriffenen Maßregeln, überflüssig erscheinen. Allerdings erscheint eine Maßregel nothwendig; diese hat jedoch durchaus nicht den Charakter einer Repressiv-Maßregel und erscheint die Durchführung derselben unverzüglich geboten. Wir meinen die Bestimmung, welche den Colonisten vorschreibt, in den russischen Unterthanenverband zu treten. Dieses erscheint nicht nur im Interesse des Staates, sondern der eigenen Sicherheit geboten. Die Interessen und die Sicherheit des Staates erfordern es, daß im Fall ein Krieg ausbricht, die ansässigen Einwohner des Landes nicht in die Reihen der feindlichen Armee einberufen und auf diese Weise nicht gezwungen werden, mit dem Schwerte in der Hand gegen das Land vorzugehen, das ihnen die Mittel zum Leben gegeben hat. Daraufhin spricht sich der "Kiewljanin" folgendermaßen aus: "Das Wohl und die Sicherheit des Staates erheischen es, daß zu Kriegszeiten ansässige Einwohner des Landes, wie die Kolonisten es sind, Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 154
155 nicht in die Reihen der feindlichen Armee gestellt und nicht gezwungen würden, auf diese sich mit dem Schwerte in der Hand gegen den Staat zu wenden, wo sie und ihre Familien eine Heimstätte und den Lebensunterhalt gefunden haben." (Das Blatt übersieht hierbei aber die andere, für den Kolonisten vielleicht noch weit schmerzlichere Eventualität, im umgekehrten Falle gegen die eigenen Stammes- und Glaubens-, vielleicht gar leiblichen Bruder, die Angehörigen seines einstigen, wohl noch immer heißgeliebten Vaterlandes das Bajonnet fällen zu müssen.) Diese Frage heißt es weiterhin scheint uns so klar zu liegen, daß wir es für überflüssig halten, uns näher mit ihr zu befassen. Sie kann auch keinerlei diplomatische Bedenken aufkommen lassen, da ja Deutschland von von seinen Grundbesitzern die Naturalisirung verlangt; warum sollte also Rußland nicht für sich dasselbe Recht in Anspruch nehmen dürfen? Lassen sich doch auch alljährlich große Massen Deutscher in Amerika naturalisiren! Eine Meinungsverschiedenheit kann nur jüber den Modus der Verwirklichung einer solchen Maßregel herrschen. Soll man vom Kolonisten verlangen, daß er gleich nach der Erwerbung des Grundbesitzes, oder der Abschließung eines langbefristeten Pachtkontrakts (in dieser Beziehung darf kein Unterschied gemacht werden) dem russischen Unterthanenverband beitritt, oder erst nach Ablaufung eines gewissen, etwa zwei- oder dreijährigen Termins? Ein eben erst herübergekommener, obschon fest zum Bleiben eintschlossener Kolonist, kann noch nicht sicher sein, daß seine Pläne auch in Erfüllung gehen. Aber nach zwei bis drei Jahren steht die Sache wohl anders und er ist in der Lage, die Frage positiv zu entscheiden. Und er muß sie dann entscheiden. Wenn ein entsprechendes Gesetz gegeben werden sollte, so bedarf es bezüglich der Kolonisation keiner weiteren Maßregeln, als nur einer strengen Kontrolle über die Erfüllung des Gesetzes Damit beendigen wir unsere Bemerkungen. Als ein örtliches Organ, haben wir uns bemüht, so gut wir es eben vermochten, eine Frage zu beleuchten, die bereits eine recht verwickelte geworden ist; theils in Folge des Mangels genauer faktischer Kenntnisse, theils in Folge unrichtiger Auffassung der Sachlage, theils endlich iin Folge absichtlicher Entstellung. Wir würden selbstverständlich für Südwestrußland eine großrussische Kolonisation vorziehen, aber da eine solche nun einmal nicht vorhanden ist, so erscheint uns die deutsche und tschechische einerseits gefahrlos, andererseits nutzbringend, aber unter der Bedingung des Eintrittes in den russischen Unterthanenverband. Rußland wird in den deutschen und tschechischen Kolonisten vertrauenerweckende Bürger finden, als die Polen und die Juden es sind, und die indigene Bevölkerung ehrliche und arbeitsame Nachbarsleute." Libausche Zeitung 18. August 1883 Die deutsche Kolonisation im Südwesten Rußlands wurde vor kurzem in einem sonst gut unterrichteten Lokalblatt, dem Kiewljanin, als nützlich und vortheilhaft bezeichnet. Wir brachten den Artikel hierüber in Nr. 184 der Libauschen Zeitung zum Abdruck. Die Aeußerungen des Kiewljanin haben in hohem Grade das Missfallen der Now. Wr. hervorgerufen, die denn auch die Ausführung angreift. Zunächst fragt die Neue Zeit, ob der vom Kiewljanin geforderte Beitritt der Kolonisten zum russischen Unterthanenverbande genügende Garantie darbiete? Alles hängt von den Umständen ab antwortete das Blatt. Auch nachdem sie russische Unterthanen geworden, werden diese deutschen Herkömmlinge, im Falle eines bewaffneten Konflikts mit ihrem ehemaligen Vaterlande, kaum so rasch ihre Blutsverwandtschaft mit den Feinden vergessen können, wenigstens in der gegenwärtigen Generation noch nicht. Bei den Wolgakolonisten sind aber schon Generationen ins Grab gestiegen, seit der Zeit, wo sie ins Land kamen - aber trotzdem sind sie noch nicht von ihren Bürgerpflichten Rußland gegenüber durchdrungen, wie das auch vor einigen Jahren durch ihre so unglücklich verlaufene Emigration bewiesen wurde. Daß aber die deutschen Kolonisten im Südwesten nicht russenfreundlicher gesinnt seien, das sucht die Now. Wr. aus einem Artikel des Dziennik Posnanski nachzuweisen, der anläßlich der Nachricht, die russische Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 155
156 Regierung wolle eine Zählung der Kolonisten in Wolhynien und Podolien ausführen lassen, folgende zuverläßliche Mittheilungen über das Wachsen der deutschen Bevölkerung in Wolhynien macht: Vor zehn Jahren habe die Zahl der Deutschen in Wolhynien zehntausend betragen: ihre kleinen Kolonien befanden sich namentlich in der Umgegend von Shitomir, Ostrog und Owrutsch. Im Jahre 1881 gab es aber schon und jetzt sind s gar über hunderttausend und die Einwanderung nimmt über Polen, wo die Deutschen sich nur vorübergehend aufhalten, um dann ich dort vortheilhaft verkauftes Land gegen noch vorteilhafter in Wolhynien gekauftes zu vertauschen, ständig zu. Alle diese allerdings trefflich bewirthschafteten Kolonien sind aber rein deutsche Inseln, die immer wachsen und stellenweise schon sehr bedeutende Dimensionen angenommen haben. So giebt es bereits Gemeinden, wo die deutsche Bevölkerung die indigene um Tausend Seelen übertrifft und, wie der Dziennik berichtet, denken diese Deutschen nicht an eine Annäherung an die russische Bevölkerung. Abgesehen davon, daß sie deutsche oder österreichische Unterthanen sind, sind sie zudem noch sehr unangenehme, sich von Russen fern haltende und mit ihnen schlecht auskommende Nachbarn. Die Deutschen haben ihre eigene, der bäuerlichen ganz fremde Verwaltung; sie gründen Schulen, für die sie die Lehrer aus Deutschland und Oesterreich berufen und Niemand hindert sie daran! (so ruft der wahrlich nicht im Interesse Moskaus sprechende Dziennik aus). Im Flecken Dunajewzy im Kreise Uschiza, giebt es Tausende von Deutschen, die das ganze Fabrikwesen in den Händen haben, eine evangelische Kirche, eine evangelische Schule mit 200 Kindern, mehrere deutsche Bierhallen und Restaurationen besitzen. Kurz, es ist das reine: Vaterland! Die Politische Zeitung macht hierfür natürlich unsere Regierung verantwortlich, im Interesse der Polen und in der Befürchtung, dieselben könnten germanisirt werden. Nun, wie verträgt sie sich aber mit den russischen Interessen diese rein deutsche Erziehung der Kolonisten- Jugend? Und worin liegt der Nutzen, den Rußland aus den landwirthschaftlich gebildeten Einwanderern ziehen soll? Begreiflicher Weise verlangen wir keine Repressivmaß-regeln, keine obligatorische Emigration, u.s.w. Aber positive Maßregeln sind doch erforderlich und vor Allem solche gegen das fortgesetzte Einwandern von Deutschen und selbst von solchen auch, die bereits in Polen gelebt. Der Beitritt zum russischen Unterthanenverband ist natürlich nothwendig und muß obligatorisch gemacht werden, aber ist davon viel zu erhoffen, wenn er nur formell erfolgt? Warum werden zwischen den Deutschen nicht auch Russen angesiedelt? Wenn jene dort vortheilhaft Land kaufen, so kann doch wohl auch die Bauernbank dort solche Geschäfte machen. Und warum ist der Unterricht der russischen Sprache nicht obligatorisch, ganz abgesehen davon, daß die Lehrer gar aus Deutschland verschrieben werden? Noch wäre zu bemerken, daß selbst eine numerische Schwäche der Deutschen die Gefahr nicht verringert. Wir nehmen durchaus nicht an, daß die Kolonisten sofort Mann für Mann in die preußische Armee eintreten würden. Wichtiger ist der kulturelle Einfluß der Deutschen auf das Land und der wird nicht durch Ziffern bedingt. Die Erfolge der Stundisten im Süden, die Eventualität einer sittlichen Abschwächung des Russischen daselbst ist das nicht auch schon jetzt von großer Wichtigkeit? Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 156
157 Libausche Zeitung 20. August 1883 Libau. Die mehrfach von uns reproduzirten Erörterungen der russischen Presse über die Verhältnisse der deutschen Einwanderer in Polen, Wolhynien und dem übrigen Rußland geben der Nordd. Allg. Ztg. Veranlassung, die Sache einmal vom deutschen Standpunkte aus einer Betrachtung zu unterziehen. Von diesem Standpunkte aus, meint das Bismarck sche Blatt, wäre zu bemerken, daß Deutschland jede Maßregel, welche Deutsche von der Einwanderung abschreckt, nur mit Befriedigung sehen kann. Deutschland hat ja doch von dieser Auswanderung wie von jeder anderen nur den Verlust von Menschenkraft und Kapital, die es an fremde Gemeinwesen ohne Ersatz abgiebt. Den Vortheil von dieser Einwanderung hat Rußland und Rußland ganz allein. Denn es ist durchaus nicht der Fall, daß deutsche Einwanderer jemals als wohlhabende Leute aus Rußland nach der Heimath zurückkehren. Zurück kommen höchstens Diejenigen, denen es schlecht geht und zwar kehren sie zurück mit der erlittenen Einbuße an Kapital und Kraft. Die Einwanderer, denen es gelingt, in Rußland vorwärts zu kommen, bleiben auch dort und oft sind schon ihre Kinder, jedenfalls ihre Enkel, der deutschen Nationalität und Sprache verlustig. In den südwestlichen Gouvernements verlernen die deutschen Kinder alsbald ihre Sprache, nicht um russisch, sondern um Polnisch zu lernen, da sie der letzteren Sprache in ihrem geschäftlichen und nachbarlichen Verkehr nothwendig bedürfen. Man muß sagen, daß die Auswanderung nach Rußland für die Heimath noch weniger Vortheile bringt, als die nach Amerika. Denn dort wirken die Deutschen zur Verstärkung gegenseitiger Sympathien, wozu sie in Rußland keine Gelegenheit haben. Der Auswanderer bewahrt allerdings für seine Person wohl Anhänglichkeit an die Heimath und hält den deutschen Unterthanenverband fest zur Bewahrung des nützlichen diplomatischen und consularischen Schutzes. Die werthschaffende Kraft der Auswanderer geht aber schon in der ersten Generation dem deutschen Vaterlande verloren und schnell verlieren die Nachkommen den deutschen Unterthanenverband, die deutsche Sprache und bald jede Spur der einstigen Angehörigkeit. Libausche Zeitung 3. September 1883 Gegen die deutschen Colonisten, welche in immer größerer Anzahl Podolien, Wolhynien und die Ukraine bevölkern, sind nach der Pos. Ztg. von der russischen Regierung folgende Maßregeln in Aussicht genommen: 1) Die Ansiedelungen deutscher Colonisten in Podolien, Wolhynien und im Westen soll sowohl auf Kronsgütern, wie auf Privatländereien fernerhin nur mit Genehmigung der Regierung statthaft sein; 2) diejenigen Deutschen, welche schon eingewandert sind, müssen in früherer Art überall eine besondere Colonie unter Leitung der betreffenden russischen ländlichen Administrativbehörde bilden; 3) alle Kinder deutscher Kolonisten müssen, und zwar unter Verantwortlichkeit ihrer deutschen Eltern, nach den allgemeinen Vorschriften die ländliche Ortsschule besuchen; 4) die deutschen Colonisten sind verpflichtet, alle Lasten, sowohl Communal-, wie Staatslasten, gleich anderen russischen Unterthanen zu tragen; 5) die zeitweise Ansiedelung an den Grenzen des Reiches wird nicht gestattet. Diese neuen Maßregeln sollen zur Anwendung kommen, sobald die statistischen Daten über die deutschen Colonisten im Westen gesammelt sind. Die Gesamtzahl der Colonisten in Podolien, Wolhynien und anderen westlichen Gouvernements beträgt im Ganzen ca Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 157
158 Libausche Zeitung 18. Mai 1887 Das neue Gesetz über das Eigenthums- und Nutzungsrecht von Ausländern an Immobilien. Der Regierungs-Anzeiger (Nr. 100) veröffentlicht nachstehenden Allerhöchsten Namentlichen Ukas an den Dirigierenden Senat, der von der Rig. Z. in wortgetreuer Uebersetzung wiedergegeben wird: Seit dem Jahre 1864 ist eine Reihe von Gesetzesbestimmungen ergangen, welche die Festigung des russischen Grundbesitzees in dem westlichen Grenzgebiet und die nähere Verbindung desselben mit den nöthigen Theilen des Reiches bezweckten. Jetzt haben Wir es für wohl befunden, in Uebereinstimmung mit den genannten Gesetzesbestimmungen und zwecks ihrer weiteren Entwickelung temporär besondere Regeln festzustellen bezüglich der Ausländern zu gestattenden Erwerbung von Immobilien als Eigenthum oder in zeitweiligen Besitz oder Nutznießung in einigen Gouvernements des westlichen Grenzgebiets Rußlands. In Folge dessen und in Uebereinstimmung mit der Resolution des Minister-Komitees befehlen Wir: In den zehn Gouvernements des Zarthums Polen, in den Gouvernements: Bessarabien, Wilna, Witebsk, Wolhynien, Kiew, Rowno, Kurland, Livland, Minsk und Podolien können ausländische Unterhanen künftig auf keinerlei Art auf irgend welche, auf allgemeinen oder lokalen Gesetzesbestimmungen basirender Grundlage, außerhalb Hafenplätzen oder anderen städtischen Ansiedelungen (außer Art. 3 dieses Befehles vorgesehenen Fällen) Eigenthumsrecht erwerben auf Immobilien, ebenso wie Besitz- und Nutznießungsrecht auf unbewegliches Eigenthum, das getrennt vom Eigenthumsrecht im Allgemeinen, im Besonderen aus dem Mieths- oder Arrende-Vertrag hervorgeht. Anmerkung I. In den Gouvernements des Zarthums Polen ist es ausländischen Unterthanen ebenso verboten, unbewegliches Eigenthum, das außerhalb städtischer Ansiedlungen belegen, in der Eigenschaft von Bevollmächtigten oder Dirigenten zu verwalten. Anmerkung II. Die in Art. 1 verordnete Beschränkung der Rechte ausländischer Unterthanen bezüglich des Besitzes und der Nutznießung unbeweglichen Eigenthums, das außerhalb Hafenplätzen und anderen städtischen Ansiedelungen belegen, erstreckt sich nicht auf die Miethe von Wohnhäusern, Quartieren und Landhäusern zur zeitweiligen Benutzung und zu persönlichem Wohnen. 2 ) In den in Art. 1 des vorliegenden Befehls bezeichneten Oertlichkeiten können ausländische Unterthanen das Vorzugsrecht auf Befriedigung ihrer Schuldforderungen durch Inpfandnahme von Immobilienbesitz sicherstellen, aber derartige Sicherstellungen oder irgend welche Klagen wegen Schuldforderungen können für Ausländer nicht die Folge haben, daß sie ein solches Immobil als Eigenthum erwerben, oder den tatsächlichen Besitz desselben, oder auch nur das Nutzungsrecht auf dasselbe erlangen. (Gerichtsordnungen Kaiser Alexander s II, Civil-Gerichtsordnung Art. 1063, 1064, 1129, 1171, 1173, 1175 und 1209; Civilgesetz der Gouvernements des Zarthums Polen Art. 2071, 2072 und ; Provinzialrecht der Ostseegouvernements, Privatrecht Art. 1336, 1412 und 1457). 3 ) In Bezug auf die Rechte der Ausländer bei Erwerbung von Immobiliarbesitz außerhalb der Hafenplätze und anderer städtischer Ansiedelungen tritt in den in Art. 1 angeführten Oertlichkeiten folgende Organisation in Kraft: Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 158
159 a ) Die gesetzliche Erbfolge in direkter Deszendenz und zwischen Ehegatten in dem von einem Ausländer hinterlassenen Immobiliarbesitz ist in allgemeiner Grundlage zulässig, wenn der Erbe vor Erlaß dieses Gesetzes in Rußland angesessen war; b ) in allen übrigen Fällen gesetzlicher Erbfolge, sowie im Falle der Vererbung laut Testament ist der ausländische Unterthan verpflichtet, im Laufe von drei Jahren, vom Tage der Erwerbung des Besitzrechtes gerechnet, das Gut an einen russischen Unterthanen zu verkaufen; c ) bei Nichtbefolgung der in Punkt b ) normierten Vorschriften wird das Gut auf Verfügung der Gouvernements-Regierung unter Vormundschaft gestellt und im Wege öffentlichen Ausgebots in der zuständigen Gouvernements-Verwaltung verkauft und die aus dem Verkauf ausgelöste Summe nach Abzug der Unkosten für Vormundschaft und Verkauf dem Erben ausgehändigt. 4 ) Die Wirksamkeit der in den Punkten b und c des vorigen Artikels normirten Bestimmungen erstreckt sich auch auf Fälle der Erwerbung von Eigenthumsrecht auf Immobilien durch Ausländer auf Grund und Abschlüssen, die bis zur Publikation dieses Befehls vollzogen wurden, wenn die obenerwähnten Personen den wirklichen Besitz dieser Güter noch nicht angetreten hatten. 5 ) Die in gesetzmäßiger Weise auf bestimmte Fristen vollzogenen Kontrakte und Ab-machungen, auf Grund welcher ausländische Unterthanen in den in Art. 1 erwähnten Oertlichkeiten vor der Publikation dieses Befehls Besitz- oder Nutzungsrechte auf Immobilien außerhalb der Hafenplätze und anderer städtischer Ansiedelungen erworben haben, können nach Ablauf der in diesen Kontrakten und Abmachungen angegebenen Termine weder erneuert, noch prolongirt werden (mit Ausnahme jener Kontrakte, die in der Anmerkung II zu Art. 1 und in Art. 2 dieses Befehls bezeichnet sind.) Die Kraft und Wirksamkeit der Bestimmungen der vorstehenden Artikel erstreckt sich in derselben Weise auch auf Gesellschaften, Handels- und Industrie-Compagnien und Gesellschaften, die auf Grundlage ausländischer Gesetze gebildet sind, selbst dann, wenn sie die Genehmigung zu Operationen innerhalb der Grenzen Rußlands erhalten haben. 7 ) Abmachungen aller Art, die zur Verletzung oder Umgehung dieses Befehls vollzogen wurden, sind als nichtig zu betrachten. 8 ) Wenn eine Abmachung, wie sie in Art. 7 erwähnt ist, durch die örtliche Landes- oder Gouvernements-Behörde konstatirt ist, so wird nach Einverlangung der nöthigen Auskünfte, welche der erwähnten Oberbehörde unverzüglich sowohl seitens der Gerichts-, wie auch aller sonstigen Behörden und amtirenden Personen zu geben sind, der Generalgouverneur oder Gouverneur wohin gehörig (in den Gouvernements des Zarthums Polen durch die Prokuratur und in den Gouvernements Livland und Kurland durch die Gehilfen des Gouvernements-Prokureurs) bei dem zuständigen Gericht den Antrag stellen auf Annullierung des abgeschlossenen Geschäfts und des vollzogenen Dokuments. Diese Angelegenheiten werden der Ordnung gemäß geführt, wie sie für Angelegenheiten der Kronsverwaltung vorgeschrieben ist. Der Dirigirende Senat wird nicht unterlassen, das zur Ausführung dieser Verfügung Nöthige anzuordnen. Das Original ist von Seiner Kaiserlichen Majestät Höchsteigenhändig unterzeichnet: Gatschina, 14. März 1887 A l e x a n d e r. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 159
160 Libausche Zeitung 24. März 1889 Z u r A u s l ä n d e r f r a g e. In der Presse ist, wie wir der deut. St. Pet. Z. entnehmen, bekanntlich wiederholt Klage über die Ueberflutung speziell auch des Gouvernements Wolhynien mit deutschen Kolonisten die Rede gewesen und dieselbe als eine sowohl politisch, als nationalökonomisch gefährliche Erscheinung gekennzeichnet worden. Diese vielen Klagen haben nunmehr eine Erklärung hervorgerufen, die der Sekretär des örtlichen Gouvernements-Komitees für Statistik, Herr Matzkewitsch, abgefaßt hat und die der ehemalige Gouverneur von Wolhynien, Generalmajor v. Wahl, dem Warsch. Dnewnik behufs Veröffentlichung zugesandt hat. In dieser Erklärung wird nun an der Hand von offiziellen Daten, als welche doch wohl die Ziffern des Statistischen Komitees anzusehen sind, bewiesen, daß die Zunahme der Zahl ausländischer Ansiedler, welche nach der Promulgierung des Gesetzes vom 27. Dezember 1884 von auswärts in die Gouvernements gekommen sind, eine ganz unbedeutende ist. Sie beträgt 1947 Köpfe jährlich, was durchschnittlich 2 pct. ausmacht. Wie die Erklärung ferner hervorhebt, ist auch die Behauptung der Korrespondenten unrichtig, als betrüge die Gesammtzahl der ausländischen Ansiedler im Gouvernement Wolhynien Nach den Daten des Statistischen Komitees zählte Wolhynien im Jahre 1887 im Ganzen Einwohner, davon waren oder 4,3 pct ausländische Ansiedler beiderlei Geschlechts. Was die Quantität des im Besitz ausländischer Ansiedler befindlichen Areals betrifft, so ergiebt sich nach 1884 von Generalstabsoffizieren gesammelten Daten Folgendes: Die deutschen Kolonisten besaßen in dem erwähnten Jahre Dess., die Tschechen Dess., im Ganzen also Dess. Außerdem befanden sich im Pachtbesitz der Deutschen Dess., der Tschechen 1128 Dess., im Ganzen Dess. so daß die Deutschen in Summa über Dess. und die Tschechen über Dess. zusammen über Dess., d.h. gegen 4,6 pct. des Gesammtflächenraumes des Gouvernements verfügen. Das Gesetz vom 27. Dezember 1884 hat ferneren Ankäufen von Grundbesitz durch Ausländer, welche nur in vereinzelten Ausnahmefällen gestattet wurden, ein thatsächliches Hindernis in den Weg gelegt. [. Zeilenabschnitt unleserlich.] Germanisierung des Gouvernements Wolhynien kategorisch in Abrede und bezeichnet die alle in der Presse erschienenen diesbezüglichen Mittheilungen als äußerst übertrieben. Libausche Zeitung 14. April 1889 Ueber die deutschen Kolonisten lesen wir in der deutschen Odessaer Zeitung : Der Now. Tel. hat die Gewohnheit, öfters der Deutschen in seiner bekannten, wenig liebenswürdigen Weise zu gedenken. Er ist stets bereit, gehässige Korrespondenzen über dieselben in seinen Spalten aufzunehmen, während er sachliche Mittheilungen von solchen, die unparteiisch über die deutschen Kolonisten urtheilen, zurückweist. So ist auch in der Nr eine Korrespondenz erschienen, welche eine Menge von Verleumdungen nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch, indirekt wenigstens, gegen besondere Verordnungen der Regierung enthält. Wir wollen aus dem konfusen Artikel einige Punkte herausheben und ein wenig beleuchten, um zu zeigen, welchen Unsinn ein Theil der russischen Presse seinen Lesern aufbindet, nur um Haß gegen die Deutschen zu erregen.- Die erste Beschuldigung besteht darin, die Deutschen hätten sich nicht vereinzelt, wie in Amerika, sondern gruppenweise in Dörfern oder Nestern angesiedelt. Als ob dieses System der Ansiedelung von den Kolonisten ausgegangen wäre! Sie wurden ja angesiedelt; Ort, Plan, Quantität des Landes, alles wurde von der Regierung bestimmt. Und dieses System war nicht nur damals, als die Sicherheit des vereinzelt in der Steppe Wohnenden keineswegs groß war, nothwendig, sie ist auch noch bis auf den heutigen Tag die einzig zweckmäßige und wird bei allen Ansiedelungen in ganz Rußland, welcher Nationalität die Kolonisten auch angehören mögen, allein in Anwendung gebracht. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 160
161 Von Anfang an wurden die Rechtgläubigen, die Evangelischen und die Katholiken gesondert angesiedelt, und seit hundert Jahren wohnen sie friedlich neben einander, ohne den Gerichten durch Reibereien lästig zu werden. Eine Annäherung zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Zugewanderten hat schon früher begonnen: daß die Verschmelzung nur langsam vor sich gehe, ist natürlich, muß ja hier die kulturell tieferstehende die höherstehende Masse in sich aufnehmen. Dieser Prozeß schreitet nur langsam weiter, er entwickelt sich am natürlichsten, wenn kein Antagonismus zwischen beiden Theilen hervorgerufen wird. Am allermeisten hemmen gerade solche gehässigen Hetzartikel den Verschmelzungsprozeß und mischen ihm unsäglich viel Bitternis bei. Als zweite Beschuldigung wird dem Kolonisten vorgeworfen, daß er nur geneigt sei, sich im Süden anzusiedeln, nach Norden wolle er durchaus nicht ziehen (на сыверъ не 3аманишь). Als Ursache wird die Nähe der deutschen Grenze angegeben. Es ist die alte perfide Art und Weise, die Kolonisten bald ganz offen, bald mehr verblümt der Konspiration mit dem Auslande zu beschuldigen. Wenn man erwägt, daß deutschen Kolonien nicht nur im Süden und in Wolhynien, sondern auch in den Gouvernements Petersburg, Ssaratow und Ssamara, ja sogar diesseits und jenseits des Kaukasus recht zahlreich vorhanden sind, so ist jedem klar, daß die größere oder geringere Nähe der deutschen Grenze von gar keinem Einfluß auf die Anlage der deutschen Kolonien war. Und jedem war zu jeder Zeit, als die Masse der Kolonisten nach Rußland einwanderte, d.h. zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts, Deutschland nichts als ein geographischer Begriff, an welchem die Auswanderer gewiss nicht mit übermäßiger Liebe hingen. Heute sind die Kolonisten alle gute Bürger ihres neuen Vaterlandes und stehen der einheimischen Bevölkerung in Treue für Kaiser und Vaterland auch nicht um das Geringste nach; auf jeden russischen Staatsbürger deutscher Nationalität kann sich der Kaiser mit derselben Sicherheit verlassen wie auf jeden Nationalrussen. Es sind ja schon in der Zeit, während welcher deutsche Kolonisten in Rußland leben, verschiedene Kriege geführt worden: und es ist noch kein einziges Beispiel bekannt geworden, daß ein Deutscher seine Pflicht nicht gethan hätte, sei es als einfacher Staatsbürger, sei es als Soldat auf dem Schlachtfelde. Und wenn es je einen solchen geben sollte, so würden die deutschen Kolonisten die ersten sein, welche den Stab über ihn brechen würden. Es schmerzt deshalb so unendlich, wenn man immer diese offenen und versteckten Anspielungen auf die Unzuverlässigkeit von Deutschen hören muß. Nein, mit solchen Anschuldigungen fördert man den Verschmelzungsprozeß gewiß nicht! Als dritte Anschuldigung wird aufgeführt, daß der deutsche Kolonist viele Privilegien genossen habe; er bezahlte keine Steuern und stand außerhalb der allgemeinen Gerichtsbarkeit; er gab keine Fuhren zur Beförderung des Militärs und der durchreisenden Beamten; ferner wurde er nicht zur Anlage und Ausbesserung von Wegen und Brücken herangezogen; ja selbst zur Unterhaltung seiner Schulen hat er nichts beigetragen. Es ist wahr, daß die Kolonisten anfangs steuerfrei waren und daß sie lange ihre eigene Verwaltung hatten, aber diese Vorrechte sind aufgehoben. Steuerfreiheit genossen sie überhaupt nur 10 Jahre. Was aber die übrigen Punkte betrifft, so ist ese reines Geflunker des Korrespondenten. An Wege- und Brückenbauten haben sie sich von jeher betheiligt. Wir wollen den Herrn nur an den Damm über die Dnjestr-Plawnja bei Krukmas erinnern, ein Werk, das fast nur von Kolonisten ausgeführt worden ist. Ferner dürfte Jedermann außer dem Korrespondenten und dem Red. des Now. Tel. natürlich bekannt sein, was die Deutschen während des Krimkrieges und des letzten Türkenkrieges gerade mmit ihren Fuhren geleistet haben. Die Regierung und das Militär haben diese Leistungen voll anerkannt. Endlich ist noch von Niemand angezweifelt worden, daß die Kolonisten, auch die ärmsten, ihre Schulen nicht nur von jeher selbst unterhalten haben, sondern sie auch heute noch ganz allein unterhalten. Daß eine deutsche Kolonie Unterstützung für ihre Schule aus der Semstwo erhält, ist gewiß eine Seltenheit. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 161
162 Begründet ist der Vorwurf, daß der deutsche Kolonist die russische Sprache zu wenig verstehe. Das fühlen sie recht wohl und sind deshalb auch bestrebt, diesem Mangel abzuhelfen. Aber vollständig unbegründet ist der Vorwurf, daß sie die russische Sprache verachten. Der Kolonist hat sie nicht gelernt weil er auch ohne Kenntniß derselben ganz gut durchkommen konnte, so lange er eine Sonderstellung im Reiche einnahm. Seitdem aber diese Sonderstellung aufgehört hat, fühlt er auch das Bedürfniß, die russische Sprache gründlich zu lernen. Wenn dies nicht so rasch geht, so liegt das einfach an den technischen Schwierigkeiten, aber nicht an dem guten Willen des Kolonisten. Schließlich wird den Kolonisten zum Vorwurf gemacht, daß sie es ausgezeichnet verstehen, dem Boden durch Getreidebau und Schafzucht Geld zu entlocken und mit diesem Gelde neue Ländereien zu erwerben, daß sie aber nichts thun, um die in der Erde verborgenen Reichthümer zu heben. Das ist denn doch schon der höhere Blödsinn, einer Ackerbau treibenden Bevölkerung zum Vorwurf zu machen, daß sie sich nicht auch mit Bergbau beschäftige. Und was sollten sie denn mit dem Gelde anfangen, da sie dem Boden zu entlocken verstehen? Sollten sie es vielleicht lieber in Schnaps, statt in Ländereien stecken? Daß die deutschen Kolonisten den russischen Bauern als Muster in der Landwirtschaft dienen, ist außer allem Zweifel. Sie bearbeiten ihr Land besser, haben bessere Geräthe und Maschinen, haben besseres Zug- und Milchvieh und zeigen durch den Erfolg, daß ihre Wirthschaftsweise eine bessere ist. Wenn der Mushik sie nicht besser nachahmt, so geschieht es, weil ihm einige Eigenschaften abgehen, die der Deutsche hat. Dahin gehört vor Allem, daß der Deutsche fleißiger, sparsamer und nüchterner ist; dann aber auch, daß er eine, wenn auch nur geringe Elementarschulbildung genossen hat. Ihn aber wegen dieser Eigenschaften zu hassen und zu verfolgen, das ist doch in hohem Grade unrecht. Gehet lieber hin und schaffet, daß diese Eigenschaften auch unter den russischen Bauern mehr und mehr wachsen, das ist zwar nicht so leicht, wie Hetzartikel gegen die Deutschen zu schreiben, aber es ist edler und nützlicher, und hier können sich der Korrespondent und Redakteur des Now. Tel. den Dank aller Guten verdienen. Düna-Zeitung 3. April 1890 Wolhynien. der Wolhynische Adel thut nach der Нов. Вр. Schritte um Auswirkung des Verbots der Erwerbung von Ländereien im Gouvernement Wolhynien durch Deutsche. Düna-Zeitung 18. Januar 1891 Südrußland. Der Kiwljänin ertheilt dem Swjet eine Zurechtweisung wegen seines Lügen- Patriotismus bezüglich der von letzterem behaupteten Ueberfüllung des südlichen Rußlands mit deutschen Colonisten und führt weiter aus, wie unbegründet dieser Lärm sei, denn die deutschen Colonisten wandern im Gegentheil aus und zwar schon während der Dauer zweier Jahre. Unlängst war vom Kiwljänin - wie das Blatt selbst weiter mittheilt - die Nachricht gebracht, mehrere deutsche Familien von der Wolga seien auf dem Wege nach Amerika durch Warschau gekommen, jetzt ist das Blatt in der Lage noch hinzuzufügen, daß gegen Frühjahr die deutsche Emigration aus dem Gouvernement Wolhynien viel größere Dimensionen annehmen werde. Ebensolche Nachrichten kommen aber auch aus dem Chersonschen Gouvernement und sogar von der Wolga, wo die Deutschen doch schon seit langer Zeit sitzen und feste Wurzel gefaßt haben. Auch hier lassen ganze Colonien ihren Grundbesitz im Stich und ziehen über den Ocean. Man kann auch gar nicht mehr daran zweifeln - schließt der Kiwljanin - daß, wenn verschiedene projectirte Maßnahmen sich bewahrheiten sollten, die Auswanderung der Deutschen unbedingt noch viel größere Dimensionen annehmen werde. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 162
163 Dazu bemerken die Mosk. Wed. : das wäre natürlich sehr angenehm, wenn das Alles wahr wäre - nämlich das, was der Kiwljänin über die deutsche Auswanderung mittheilt. Aber auch in solch einem Falle - meinen die Mosk. Wed. weiter - verdiene der Swjet Anerkennung dafür, daß er für die russischen Interessen eingetreten, keineswegs aber könne das Blatt für die Vertheidigung einer ehrlichen Sache gescholten werden. Düna-Zeitung 7. Juni 1891 (Auszug) Russische Presse. ( ) Die enfants terribles des Gouvernements Wolhynien, die dort angesiedelten, meist aus Landwirthen und Technikern bestehenden D e u t s c h e n, sehr betriebsame und wohlhabende Leute, drängen den W o l y n j zu einem Nothschrei. Sie beabsichtigen nämlich, eine r u s s i s c h - d e u t s c h e C o m p a g n i e zur Exploitirung der natürlichen Reichthümer des Gouvernements, eine Muster-Meierei und dergleichen zu gründen, und diese offenbar die Entwickelung des localen Wohlstandes aufhaltenden Pläne müssen das citirte Blatt selbstverständlich in Harnisch bringen. Jene Reichthümer, meint es, würden sicherlich, wenn sie von der Compagnie gehoben werden, in die Taschen der aus dem Vaterlande stammenden und uns feindlichen Zuzügler fließen unbd eine neue friedliche Eroberung der hochverehrten Culturträger von den Ufern der Oder und der Spree würde das eingeborene Element verdrängen. Es sei um so gefährlicher, als die ansässige Bevölkerung schon mehr als einmal unter den wirthschaftlichen Erfolgen der deutschen Invasionen zu leiden gehabt habe. Schuld daran seien aber auch die betreffenden localen Autoritäten, welche das Volk durch diese fremden Kartoffelritter zu Landwirthen erziehen wolle. Das Blatt kommt, wie man sieht, damit zu dem alten Schluß des reactionairen Radicalismus, stets die Autoritäten für schuldig und verantwortlich zu erklären, wenn s irgendwo hapert. Libausche Zeitung 22. Juni 1891 B e h u f s E i n s c h r ä n k u n g d e r a u s l ä n d i s c h e n K o l o n i s a t i o n i n W o l- h y n i e n beabsichtigt das Ministerium des Innern, wie russische Blätter berichten, nachstehende temporäre Regeln in Kraft zu setzen: 1) Es ist in Zukunft sowohl den im russischen Unterthanenverbande stehenden ausländischen Ansiedlern, wie auch den Bewohnern der Weichsel- Gouvernements verboten, außerhalb städtischer Ansiedlungen im Gourvernement Wolhynien sich niederzulassen, gleichwie auch unbewegliches Eigenthum, welche Rechtstitel dasselbe auch haben möge, daselbst zu besitzen. Diejenigen, welche sich trotz dessen und nach dem Erscheinen dieser Verordnung außerhalb der Städte niederlassen, werden auf administrativem Wege an den Ort ihrer Hingehörigkeit befördert werden. 2) Dem General-Gouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien wird anheimgestellt, die Entlassung der im Punkt 1 genannten Personen aus dem russischen Unterthanen-Verbande anzuordnen, falls sie darum nachsuchen sollten. Libausche Zeitung 20. August 1891 St. Petersburg. ( ) Das Ministerium des Innern beschloß endgiltig eine neue Landgemeinde- Ordnung in den Gouvernements Wolhynien, Bessarabien, Taurien und anderen einzuführen, da die ausländischen Kolonisten dortselbst bei der gegenwärtigen Ordnung das russische Element gänzlich verdrängen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 163
164 Düna-Zeitung 12. Dezember 1891 Das Verbot ausländischer Colonisation, diese, wie der Grafhd. schreibt, bereits lange ausgereifte Frage sei der Entscheidung nahe. Die Vorlage sei im Ministerium des Innern ausgearbeitet und im Begriff, im Reichsrath eingereicht zu werden. Das Project selbst sei sehr kurz, aber von einer umfassenden Erläuterung begleitet. Von der Erwägung ausgehend, daß sich im Reich bereits ein Mangel an freiem Lande fühlbar mache, welches zur Ansiedelung der gedrängt lebenden Stamm-Bevölkerung nöthig sei, verbietet das Projekt kategorisch für die Zukunft jede ausländische Colonisation, mit der Einschränkung jedoch, daß es dem Minister des Innern überlassen bleibt, in Ausnahmefällen die Erwerbung russischer Ländereien Ausländern zu gestatten, jedoch unter bestimmten Bedingungen, deren Feststellung dem Dafürhalten der höchsten Regierungsgewalt vorbehalten bleibt, und unter der unerläßlichen Voraussetzung, daß die betreffenden Ausländer in die russische Unterthanenschaft treten. Ferner wird das Gesetz vom 14. März 1887, betreffend die Colonisten, welche bereits unbewegliches Eigenthum im Reiche erworben haben, weiter entwickelt. Die Behörden des Reichs sollen in letzter Zeit eine große Menge von Gesuchen ausländischer Colonisten in Wolhynien und anderen Gouvernements wegen Incorporirung derselben für ewige Zeiten erhalten haben. Durch die Masse dieser Gesuche sei die Aufmerksamkeit der Regierung auf die betreffenden Verhältnisse gelenkt worden und eine besondere Commission zur Untersuchung der auswärtigen Colonisation in Wolhynien entsandt worden. Diese Untersuchung habe ergeben, daß die Colonisten vorherrschend in den Kreisen an der Grenze und die Mehrzahl derselben in so abgelegenen Waldgebieten angesiedelt seien, daß ihr Verkehr mit der Außenwelt und besonders mit den Behörden wesentlich erschwert werde. In Wolhynien allein zähle man 900 Colonien, wobei einige derselben gewaltige Landflächen, eine Menge industrieller Anlagen, Eisenbahnen, vortreffliche Chausseen etc. besäßen. Interessant sei es, daß die Colonisten in den verschiedenen Kreisen sehr verschieden behandelt würden. In einigen kümmere man sich gar nicht um sie, in anderen fände eine sehr genaue Controlle statt. Alle diese Colonisten sollen nun die russische Unterthanenschaft annehmen oder Rußland verlassen. Eine weitere Colonisation soll, wie bereits erwähnt, mit einigen Ausnahmefällen nicht mehr gestattet werden. Düna-Zeitung 14. März 1892 Shitomir. Folgendes Telegramm bringen die Mosk. Wed. : Der Gouverneur von Wolhynien hat, nachdem er in Erfahrung gebracht, daß in einigen Kreisen an den Wegweisern Aufschriften in deutscher Sprache angebracht sind, energisch befohlen, sofort diese Unschicklichkeit (безобразіе) zu beseitigen. Düna-Zeitung 4. April 1892 Inland. Das neue Niederlassungsgesetz für Ausländer in Wolhynien, oder, wie einige Blätter es einfach nennen, das neue Ausländergesetz für die Grenzgebiete, dessen wesentlichsten Inhalt wir bereits ganz kurz telegraphisch meldeten, wird im Reg. - Anz. in Form eines A l l e r h ö c h- s t e n N a m e n t l i c h e n Ukases an den Dirigirenden Senat publiciert und hat folgenden Wortlaut: Im Jahre 1884 und 1887 wurden besondere Gesetzesbestimmungen zur Stärkung der russischen Landwirthschaft in den westlichsten Gouvernements Rußlands erlassen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 164
165 Gegenwärtig haben Wir, in Anbetracht der besonderen Verhältnisse im Gouvernement Wolhynien, es für gut befunden, in Erweiterung und Ergänzung jener Gesetzesbestimmungen vorläufig, bis zum Erlaß eines neuen Gesetzes über die russische Unterthanenschaft, zeitweilige Regeln für die Niederlassung von Personen nicht-russischer Herkunft im Gouvernement Wolhynien festzusetzen. In Uebereinstimmung mit dem Beschluß des Ministercomités befehlen Wir daher: 1. Allen ausländischen Einwanderern, auch denjenigen, welche die russische Unterthanenschaft angenommen haben, zu verbieten: a) künftighin sich innerhalb der Grenzen des Gouvernements Wolhynien außerhalb der städtischen Ansiedelungen anzusiedeln und b) in Zukunft im genannten Gouvernement, auf welche Art es auch sei, ausgenommen durch gesetzliche Erbnachfolge, Immobilien, welche außerhalb der städtischen Ansiedelungen belegen sind, das Eigenthumsrecht, sowie das Recht des Besitzes oder der Nutzung derselben zu erwerben. 2. Denjenigen der genannten Personen, welche bis zum Tage der Publication dieses Ukases sich bereits im mehrerwähnten Gouvernement außerhalb der städtischen Ansiedelungen niedergelassen haben, das Recht des Besitzes und der Nutzung der von ihnen in gesetzlicher Grundlage zu Eigenthum erworbenen oder arrendirten Landstücke zu belassen; denjenigen aber, die griechisch-orthodoxen Bekanntnisses sind, auch das Recht einzuräumen, Immobilien auch außerhalb der städtischen Ansiedelungen zu Eigenthum und zu Nutzung zu erwerben. 3. Alle Verträge, welche mit Verletzung oder Umgehung des im Punkt 1 dieses Ukases enthaltenen Verbots abgeschlossen werden, als nichtig anzuerkennen. 4. Falls ein im vorhergehenden Punkt 3 dieses Ukases vorgesehener Vertrag von der örtlichen Gouvernementsobrigkeit entdeckt wird, so bevollmächtigt der Gouverneur nach Einziehung der erforderlichen Auskünfte, welche sowohl die Gerichts- als auch alle übrigen administrativen Institutionen und Personen ihm unverzüglich zu übermitteln haben, einen ihm untergeordneten Beamten zur Einreichung einer Klage beim örtlichen Bezirksgericht behufs Richtigerklärung des stattgehabten Vertrages oder des vollzogenen Actes. Klagen diese Art werden in der für Sachen der Kronsverwaltungen festgesetzten Ordnung verhandelt. 5. Dem Gouverneur von Wolhynien anheimzustellen, Personen, welche sich nach Publication dieses Ucases, den im Punkt 1 enthaltenen Verboten zuwider, im Gouvernement Wolhynien, außerhalb der städtischen Ansiedelungen, niedergelassen haben, auf administrativem Wege, an ihren ständigen Aufenthaltsort zu verweisen. Der dirigirende Senat wird nicht ermangeln, die erforderlichen Maßnahmen zur Erfüllung des Vorstehenden zu ergreifen. Das Original ist von S e i n e r K a i s e r l i c h e n M a j e s t ä t A l e x a n d e r Eigenhändig unterzeichnet: Düna-Zeitung 4. April 1892 Russische Presse. Das neue Gesetz über die Ausländer in den Grenzgebieten, wie einige Blätter das nach dem Reg.-Anz. oben reproduzierte Gesetz, betr. Ansiedelung von Ausländern im Gouvernement Wolhynien einfach bezeichnen, wird von der Presse einstimmig mit großer Sympathie begrüßt, obwohl (wie oben unter Inland dargelegt) einige Bestimmungen, die sich im Project zum Gesetze befunden haben sollen und auf welche, bei Besprechung derselben, besonderes Gewicht gelegt wurde, im endgiltig formulierten Gesetze keine Aufnahme gefunden haben. Auch so finden die Zeitungen übrigens Gelegenheit, sich über die Schwächung ausländischer Elemente in Rußland auszusprechen und darzulegen, daß, obgleich das neue Gesetz Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 165
166 sich dem Buchstaben nach nur auf Wolhynien bezieht, mit Berücksichtigigung dessen, daß es als Erweiterung und Ergänzung der bezüglichen Bestimmungen vom Jahre 1884 und 1887 anzusehen sei, durch dasselbe ein undurchbrechbares System zur Stärkung des russischen Elements in den Grenzgebieten geschaffen sei. Die Now. Wr. sieht in der Bevorzugung der Orthodoxen ein Mittel zur Heranziehung der in Wolhynien zahlreich angesiedelten österreichischen Czechen zum Uebertritt zur Orthodoxie, welches dieselben wohl gern ergreifen würden, so daß man wohl erwarten könnte, daß sich daselbst eine ausgedehnte czechisch-orthodoxe Colonisation ausbilden werde. Während nun die Now. Wr. dem neuen Gesetze eine große Bedeutung vom nationalpolitischen Standpunkte aus beilegt, stellt sich die Russk. Shisnj. auf einen ganz entgegengesetzten Standpunkt. In dem Umstande, daß das neue Gesetz sich ausdrücklich auf Personen ausländischer Herkunft (иностраннаго происхожденія) bezieht, sieht sie eine Abweichung von früheren ähnlichen Gesetzen, welche im Auge gehabt hätten, den Erwerb russischen Landbesitzes durch Personen, die zwar zum russischen Unterthanenverbande gehörten, aber fremdländischer Nationalität und Confession seien, zu beschränken. Im Gegensatz hierzu mache das neue Gesetz keinen Unterschied zwischen Nationalitäten und auch kaum zwischen Confessionen, da die Vortheile, die den Orthodoxen zugesprochen würden, nur sehr geringe seien und verbiete nur den Landwerwerb durch ausländische Einwanderer, d.h. durch Personen, welche nicht von Geburt russische Unterthanen seien. Schon allein der Umstand, daß in Wolhynien bisher hauptsächlich galizische und czechische, wie überhaupt slawische Auswanderer sich niedergelassen hätten und diese, die doch Blutsverwandte der Russen seien und häufig auch der orthodoxen Confession angehörten, in Nichts bevorzugt würden, beweise, daß die Regierung dem Auslande keinerlei Verdacht irgend welcher politischer Motive für das neue Gesetz gegeben habe, beweise, daß die Motive ganz und gar aus dem Gebiet der inneren Politik stammten. Im Gegensatz zur Now. Wr., welche in dem neuen Gesetz ein Mittel zur Heranziehung der Czechen zum Uebertritt zur Orthodoxie sehen will, betont ferner die Russk. Shisnj., sich an den Wortlaut des Gesetzes haltend, daß die Vorzüge, die den Orthodoxen eingeräumt werden, sich nur auf solche Personen bezögen, die im Moment der Publication des neuen Gesetzes bereits zum orthodoxen Bekenntnis gehörten. Im Uebrigen untersucht die Russk. Shisnj. den Nutzen, den das neue Gesetz für die Landwirthschaft in Wolhynien haben könne und kommt zu dem Resultate, daß, während von mehreren Publicisten bereits seit einiger Zeit in verschleierten Ausdrücken von der Notwendigkeit einer Hebung des russischen Bürgergeistes (гражданственность) geredet werde, es in Wolhynien an der Zeit wäre, den Kleingrundbesitz zu heben, um die vielen freien und freiwerdenden Ländereien in die Hände desselben übergehen zu lassen. Zu diesem Zwecke sei zunächst eine Organisation der dortigen Abtheilung der Baueragrarbank dringendes Bedürfnis. Libausche Zeitung 25. August 1892 Zur wirthschaftlichen Lage der Kolonisten. Der Now. Wremja beschäftigt sich wieder einmal mit den d e u t s c h e n K o l o n i s t e n in W o l h y n i e n und sagt u.a. Folgendes: Ohne die Thatsache einer verhältnismäßigen Höhe der deutschen Kultur zu bestreiten (wenngleich in dieser Beziehung längst Stimmen des Zweifels vernehmbar) halten wir es nicht für überflüssig, die Aufmerksamkeit auf ihre Ursachen zu lenken. Erinnern wir uns, wie die deutschen Kolonien unter Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 166
167 Katharina II. errichtet wurden: an ihren Bestimmungsort wurden die Kolonisten auf Staatskosten gebracht und die russischen Bauern mußten ihnen Fuhren stellen; sie mußten den Deutschen auch alle nöthigen Gebäude aufführen; von der in damaliger Zeit furchtbar schweren Militärpflicht waren die Deutschen befreit, die Leibeigenschaft drang nicht in ihre Mitte; in die deutsche Gemeinde war intelligenten Leuten der Zutritt offen, während unsere russische Gemeinde bis hierzu eine vollständig geschlossene Institution ist, in welche ein intelligenter Mensch nicht eindringen kann. Schließlich gab man den Deutschen zu 60 Dessätinen jungfräulicher Schwarzerde auf einen Hof, während unsere Bauern damals 3 10 Mal weniger hatten und noch jetzt zuweilen haben. Was ist daran Wunderbares, wenn die Deutschen behäbig und gut leben! Sollte man nicht meinen, daß wenn man soviel Sorgfalt an unsern Bauern gewandt und ihm so viele Vergünstigungen gewährt hätte, er sich nicht schlechter erwiesen hätte als die deutschen Kolonisten. Erwähnen wir noch eine wichtige Einzelheit in der Einrichtung der deutschen Kolonien: hier war es verboten, eine Schänke zu eröffnen und man hütete überhaupt die Kolonisten möglichst vor der Trunksucht. Wir meinen, daß wenn man alle Umstände in Betracht zieht, unter denen bei uns die deutschen Kolonien errichtet sind, auch nicht einmal die Rede sein kann von irgend einem spezifisch deutschen Geist, der etwa eine höhere Kultur im russischen Süden geschaffen hat; wenn diese höhere Kultur in Wirklichkeit existiert, so ist sie nicht aus dem deutschen Geist hervorgegangen, sondern aus den Privilegien, Vergünstigungen und staatlichen Fürsorgemaßnahmen mit denen unsere deutschen Kolonisten so freigebig ausgestattet worden sind. Hierzu bemerkt die Russk. Shisn : wir haben keine Daten zur Hand über den gegenwärtigen Zustand der deutschen Kolonisten im Süden Rußlands, uns ist aber authentisch bekannt, daß die d e u t s c h e n K o l o n i e n a n d e r W o l g a, ebenfalls unter Katharina II. gegründet und unter denselben Vergünstigungen, deren die N. W. erwähnt, sich gegenwärtig fast in einem schlechteren Zustande befinden, als die benachbarte russische Bevölkerung. In Ssamara und Ssaratow giebt es unvergleichlich mehr deutsche Bettler als russische. Die Deutschen haben um nichts weniger gehungert und thun es noch, als die eingeborene Bevölkerung. Das sind unumstößliche Thatsachen. Folglich ist auch die Frage, wieviel die verschiedenen den deutschen Kolonisten verliehenen Begünstigungen ihren Wohlstand gesichert haben, eine offene. Im Süden Rußlands bestehen wahrscheinlich abgesehen von den Begünstigungen Bedingungen, die den Deutschen dazu verholfen haben, so gut zu prosperiren, wie der Korrespondent der N. W. es schildert. Es freut uns, bemerkt die Ztg. f. St. u. L. dazu, zu konstatiren, daß auch einmal ein russischees Blatt anerkennt, daß die deutschen Kolonisten nicht überall und durchaus in Abrahams Schoß sitzen, den sie, nach Meinung der Herren Korrespondenten gewisser Blätter so ganz unverdienter Weise innehaben, um dort den russischen Bauern den verdienten Platz wegzunehmen. Libausche Zeitung 1. März 1893 Der Kolonisten-Frage widmeten die Mosk. Wed. einen großen Leitartikel, in dem sie sich namentlich gegen die Now. Wr. und den Grashdanin wenden, die bekanntlich sich den Gesuchen der Jekaterinosslawchen Adels- und Landschaftsversammlung um Beschränkung des Eigenthumsrechts der deutschen Kolonisten nicht anschließen zu können vermeinen, weil, wie namentlich die Now. Wr. bemerkte, sie ja russische Unterthanen seien. Dem gegenüber machen, wie wir der St. Pet. Ztg. entnehmen, die Mosk. Wjed. darauf aufmerksam, daß das demokratische Prinzip der völligen Gleichberechtigung aller Unterthanen in Rußland gar nicht existire. Die Rechte der russischen Unterthanen verschiedener Kategorien seien Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 167
168 immer verschieden gewesen, je nachdem sie ihren Unterthanen p f l i c h t e n nachkommen und andererseits habe der Staat ganz allein das Recht, das Maß der jeweiligen Unterthanenrechte in den verschiedenen Kategorien zu präzisiren. Es handelt sich nur darum, was vom allgemein staatlichen Standpunkt zweckentsprechend und nützlich ist. Daher giebt es bei uns völlig berechtigter und gesetzlicher Weise verschiedene beschränkende Maßnahmen bezüglich der Rechte der Juden, z.b., die doch auch russische Unterthanen sind, der Rechte der Polen, die ebenfalls russische Unterthanen sind u.s.w. Das ist der russische Standpunkt, der Standpunkt, der in der russischen Geschichte, in der russischen Gesetzgebung, in dem heutigen Wirklichkeitsleben Russlands herrscht. Das Blatt meint dann, daß dieses russische Rechtsprinzip in allen Beziehungen höher steht, schöpferischer, gerechter und humaner sei, als das europäische Prinzip eines erfundenen angeborenen, für alle gleichen Staatsbürgerrechts. Es führt ferner aus, daß es nothwendig wäre, daß der Deutsche sich davon überzeugte, wie russische Rechte nicht unentgeltlich zu haben seien, sondern nur nach V e r d i e n s t ; dann werde er sich selbst bemühen, sie zu verdienen, nicht blos um des Vortheils willen, sondern aus dem Gefühl der Achtung vor Rußland und den Russen Der Fehler sei einmal gemacht. Nun gelte es, ihn zu verbessern. Ehe man an die Rechte dieser so schlechten, undankbaren und hoffnungslosen Unterthanen denke, müsse man der getreuen Unterthanen und der Interessen Rußlands gedenken. Die Mosk. Wed. entwickeln nunmehr ihr Programm jener Beschränkungsmaßnahmen. Vor allem müßte unbedingt jedem neuen Zufluß von deutschen Kolonisten ein Ende gemacht werden und ebenso der weiteren territorialen Ausdehnung der heutigen Kolonisten, der Kauf und die Pacht neuer Ländereien müsse den heute in Rußland vorhandenen Kolonisten strikt untersagt werden. Ebenso wäre darauf zu achten, daß die Kolonisten ihre Grundstücke ausschließlich an russische Käufer abträten, wobei die Agrarbanken treffliche Dienste leisten könnten. Was sodann die Russifizierung der vorhandenen Kolonisten betreffe, so seien ja Vorschläge auf diesem Gebiete schon gar oft gemacht worden. Natürlich müßte gute Kenntniß des Russischen verlangt werden, wobei ein gutes Mittel vielleicht das wäre, für Rekruten, die die Staatssprache nicht beherrschen die Dienstzeit zu verlängern. Ferner müßte man überall die deutschen Ansiedelungen mit den russischen zu einer Landgemeinde verschmelzen. In den Schulen müßte die deutsche Sprache als besonderer Unterrichtsgegenstand ganz beseitigt werden; von allen Gemeindebeamten wäre volle Kenntniß der russischen Sprache zu verlangen und eventuell hätten an die Stelle von Deutschen auf diesen Posten vorübergehend Russen zu treten. Allerdings würde durch alle diese Maßnahmen nur eine äußere Verschmelzung erzielt; um eine innere herbeizuführen, bedürfte es längerer Zeit; als bestes Mittel wäre zur Erreichung dieses Zwecks wohl die Verbreitung der Orthodoxie unter den Kolonisten zu betrachten, was aber auch nur sehr langsam von Statten gehen könnte. Indessen wäre es wohl angezeigt, im Hinblick auf mögliche Uebertritte, solchen Kolonisten, die den orthodoxen Glauben annehmen, nach einer gewissen Reihe von Jahren größerer Rechte zuzugestehen, z.b. ihnen zu gestatten, deutsche Ländereien anzukaufen, ihnen bei Besetzung der Posten von Dorfschullehrern und Gemeindebeamten den Vorzug einzuräumen u.s.w. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 168
169 Wenn das alles den Deutschen nicht gefällt, so mögen sie weiterziehen; auf dem Erdball gäbe es noch viel freie Plätze, viele Länder, die genügend unterentwickelt sind, um so maltraitirt zu werden, wie die deutschen Kolonisten hartnäckig Rußland behandeln. Mögen sie doch nach Südamerika, nach Afrika ziehen. Aber wenn Jemand in Rußland bleiben möchte, der muß Russe sein, nicht blos dem Namen nach, sondern auch seinem ganzen Wesen nach. Das ist in den Grundzügen der Artikel, den die Now. Wr. heute als sonderbar und äußerst ungereimt bezeichnet. Sie erinnert daran, daß der Grashdahnin jüngst einmal darauf hingewiesen habe, die Beziehungen zwischen den Juden und den Pseudoerben Ratkow s in den Mosk. Wed. seien recht dunkel. Anstatt nur dem Fürsten Meschtscherski direkt zu antworten, suchen die Mosk. Wed. die Sache zu maskiren und die Gegner des Mangels an wirklichem Patriotismus zu beschuldigen. Einstweilen hätten sie als Argument sich die deutschen Kolonisten ausgesucht, die russischen Unterthanen sind und die sie womöglich aller bürgerlichen Rechte verlustig erklären möchten, weil sie wer weiß, worauf diese Behauptung sich stützt in Bausch und Bogen äußerst schlechte und unzuverlässige Unterthanen, ja im Kriegsfalle sogar Verräther seien! Die Now. Wr. zitirt den Passus der Mosk. Wed. über die Juden und Polen und fügt hinzu: Heißt das nicht, daß, wenn man die Deutschen nicht bedrückt, wozu bedrückt man dann die Juden?! Wahrscheinlich ist s gerade so. Denn die deutschen Kolonisten, die tausend Werst von der Grenze entfernt leben, für eine politische Größe ausgeben das ist denn doch schon zu albern! Jeder wahre Freund seines Vaterlandes, der schon in Rußland Wohlstand erworben, wird natürlich leichteren Herzens von Beschränkungen hören, die ja die deutschen Gemeinden noch fester zusammenschweißen müßten, als von entschlossener Vernichtung der isolirten Existenz der deutschen Kolonisten. Mit dieser Isolirtheit davon sind wir fest überzeugt werden diese Kolonien in Jahren ihre Grenzen verlieren und im Meere des Russenthums untergehen, das zu lebendig und machtvoll ist, als daß das nicht geschehen sollte. Rīgas Pilsētas Policijas Avīze 17. Juni 1893 Zur Auswandererfrage. Die Gesellschaft russischer Ackerbauer des Südwestgebiets hat sich bereits endgiltig formirt. Ihre Hauptaufgabe besteht im Ankauf freier Ländereien und im Weiterverkauf derselben an russische Ansiedler aus den inneren Gouvernements unter günstigen Bedingungen. Jeder Ankömmling, der von der Gesellschaft ein Landstück erworben hat, ist verpflichtet, im Lauf der ersten fünf Jahre der Gesellschaft einen Theil der mit der Exploitation des Landes verknüpften Kosten zu bezahlen. Indem die Gesellschaft die freien Ländereien an Uebersiedler verkauft, wird sie auch Meliorationsarbeiten ausführen. Es ist eine Aktiengesellschaft. Die Aktieninhaber müssen unbedingt Russen und Orthodoxe sein. ( Now. Wr. ) Rigasche Rundschau 7. Februar 1895 Wie den R. W. berichtet wird, soll in Ergänzung und Abänderung der Allerhöchst bestätigten temporären Vorschrift vom 14. März 1892, betreffend die Ansiedlung von Personen nichtrussischer Herkunft im Gouvernement Wolhynien folgende Verhaltungsregel aufgestellt werden: A u s l ä n d i s c h e E i n w a n d e r e r, welche sich im Gouvernement Wolhynien bis zum 14. März 1892 angesiedelt haben und bei einer Kleinbürger- oder Dorfgemeinde oder einem Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 169
170 Wolostbezirk angeschrieben sind, bleibt die Erneuerung ihrer P a c h t v e r h ä l t n i s s e auf allgemeiner Grundlage auf die Dauer bis zu höchstens 10 Jahren, vom Tage der Veröffentlichung dieser Gesetzesbestimmung an überlassen. Rīgas Pilsētas Policijas Avīze 22. Februar 1895 Dem Peterburgski Listok zufolge ist die Idee der Wiederherstellung der altrussischen Namen von Flecken und Dörfern im Nordwest- und Südwest-Gebiete der Verwirklichung nahe. Düna-Zeitung 5. Januar 1896 Deutsche Colonien im Südwestgebiet Rußlands. Im Jahre 1881 ist, wie die Nowoje Wremja berichtet, vom General Kossitsch eine Karte der deutschen Colonien im Südwestgebiete mit der graphischen Darstellung ihrer sich verbreitenden Bewegung dargestellt worden. Die Karte giebt ein anschaulisches Bild dieser colonisatorischen Bewegung: wie ein breites Band rücken die deutschen Ansiedelungen in südöstlicher Richtung, von der österreichischen Grenze (nächst Wladimir- Wolynsky) nach Shitomir hin, zu jenem gesegneten Landstrich des Südwestgebietes, da Milch und Honig fließt, vor Von dieser dominirenden Milchstraße der deutschen Colonisten geht eine Reihe von Abzweigungen nach Süden zur Grenze Bessarabiens und Rumäniens, nach Südosten bis zum Dnjepr und nach Nordost bis zum Tschernigowschen Gouvernement, wobei auch in diesen Abzweigungen stellenweise zu dicht angesiedelte Centren der deutschen Bewegung sich verknoten. Die Karte hat großen Eindruck gemacht, doch blieb vorläufig Alles beim Alten. Jedenfalls fand die Frage, wie diesem Mißstande abzuhelfen sei, sehr einseitige Beachtung. Es wurden nur Maßregeln zur Hemmung eines ferneren Zuflusses deutscher Colonisten gemacht, während die früheren Colonisten auf den alten Stellen sitzen blieben, indem sie sich durch natürlichen Zuwachs der Bevölkerung nach allen Richtungen, mit Ausnahme der Richtung, von der sie ausgegangen, verbreiteten. Und zu derselben Zeit wandert die russische Bevölkerung des benachbarten Tschernigowschen und Poltawaschen Gouvernements nach dem fernen, ungastlichen Sibirien... Wodurch wird die Nothwendigkeit eines so ungerechten Platzaustausches von eigenen und fremden Elementen auf russischem Boden bedingt? Es ist wohl lächerlich, aber wahr, daß der einzige Grund darin liegt, daß die deutschen Einwanderer die Mittel haben, ihre Besitzungen in Wolhynien durch Ankauf zu vergrößern, während die russischen Bauern nicht die Mittel besitzen, im Heimathlande, an dessen Klima, Bodenbeschaffenheit und Lebensbedingungen sie gewöhnt sind, Land zu kaufen. Ein solcher Grund zeugt einzig davon: von unserer äußersten Mißachtung unserer eigenen wichtigsten, politischen, ökonomischen und culturellen Interessen. Jedoch, à tout malheur remède. Die Now. Wremja weist zugleich auf die Mittel zur Abhilfe hin: Dasselbe Kaufgeschäft (das den Colonisten diese Ländereien in die Hand gab) ist geeignet, den Knoten der Frage zu allseitiger Zufriedenheit zu lösen und, ohne die Colonisten zu schädigen, den russischen Landbesitz auf dem von jenen, kraft ihrer Privatrechte, besetzten Territorien wiederherzustellen. Zur Zeit, da die Bauernagrarbank auch hinsichtlich einer Erweiterung ihres Operationskreisese und ihrer Mittel reformirt ist, giebt es nichts Einfacheres, als die Expropriation der den deutschen Colonisten gehörigen Ländereien und die Uebergabe derselben an russische Bauern eben durch Vermittelung der Bauernagrarbank in s Werk zu setzen, wobei man nicht bedauern dürfe, wenn die Bank, um den Auskauf zu beschleunigen, einige Verluste erleiden sollte. In diesem Falle wäre es sogar vorzuziehen, für die auszukaufenden Ländereien einen den normalen Werth übersteigenden Preis zu zahlen und der Staat würde noch im großen Vortheil bleiben, wenn Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 170
171 er die Ueberzahlungen auf seine Rechnung übernehmen würde, um die Lage der neuen russischen Ansiedler dadurch, daß der ganze erhöhte Kaufpreis ihnen aufgebürdet würde, nicht zu verschlimmern. Für die Bauernagrarbank wäre diese wichtige politische Mission ein großer Fortschritt und sie würde die staatliche Bedeutung jender bedeutend erhöhen. Die haben übrigens schon des Oefteren auf die Russification des Westgebietes eben durch Vermittelung der Bauernagrarbank an dieser Stelle hingewiesen. Die Frage, wo denn die deutschen Colonisten bleiben sollen, läßt der Verfasser des Artikels unbeantwortet. Vermuthlich wünscht er den Kaufpreis so hoch bemessen, daß jene etwa als Rentiers sorgenlos im ganzen Reiche leben können. Düna-Zeitung 11. April 1896 Die deutschen Colonisten Innerrußlands bilden bekanntlich den nie versagenden Stoff für die russische Presse und haben zu einer förmlichen Legendenbildung geführt, wo man nur nicht recht weiß, was ist böse Absicht, was Unkenntniß. Es ist auch schwer zu wissen, was die Colonisten eigentlich machen sollen, um den Zorn, der gegen sie lebendig ist, zu lindern. Wandern sie nicht fort, ruft man ihnen zu: Macht daß ihr dahingeht, wo der Pfeffer wächst, wandern sie dann wirklich aus, so ist man auch nicht zufrieden und klagt darüber, daß die Emigranten ihre Ländereien an die zurückbleibenden Landsleute übertrügen und riesige Latifundien vereinigten, auf denen sie gleich irischen Landlords dem russischen Bauern gegenüber säßen. Somit, bemerkte neulich die Now. Wr., liegt kaum ein Grund vor, sich über die Uebersiedlungsbewegung der deutschen Colonisten besonders zu freuen. Ganz anders schreibt dagegen die südrussische Zeitung Shisni Iskustwo, die, wie wir der Odess. Ztg. entnehmen, in einer Reihe den deutschen Colonisten in Wolhynien gewidmeten Artikeln nachzuweisen versucht, daß diese Frage in nächster Zukunft von selbst verschwinden werde, da die Colonisten, dank der ausgebrochenen landwirthschaftlichen Crisis, massenhaft auszuwandern beginnen. Das Bestehen der deutschen Colonien im Gouvernement Wolhynien geht seinem Ende entgegen. In nächster Zukunft schon werden sie spurlos verschwinden, ebenso wie andere Ansiedlungen im Südwest- Gebiet verschwanden, von welchen nur Ortsnamen und die Erinnerung zurückgeblieben sind. Ein anderer Ausgang ist undenkbar, wie auch die Wiederkehr der Zeit undenkbar ist, da der Landwirth an Ort und Stelle für ein Pud Weizen 1 Rbl., für ein Pud Hopfen 65 Rbl. erhielt. Sobald die sibirische Bahn fertig ist, werden alle nichtrussischen Elemente der westlichen Gouvernements überhaupt und die Deutschen insbesondere, früher als Andere, nach Sibirien ziehen. Daran ist nicht zu zweifeln. Die Frage über die deutschen Colonien im Gouvernement Wolhynien erscheint somit erschöpft. Man weiß nur nicht recht, warum gerade der tüchtige deutsche Colonist eher das Opfer der landwirthschaftlichen Misere werden soll, als die übrige Bauernschaft. Oder meint das Blatt gar, daß alle - Russen und Deutsche - emigriren werden? Wohin denn? Weit drastischer als obige Calculationen berührt aber der Schauerroman, den ein als Deutschenhasser per excellence bekannter Berichterstatter Wolynez in den Pet. Wed. seinen gläubigen Lesern aufbindet, indem er folgendes, eines Commentars freilich nicht bedürfendes Phantasiestück zum Besten giebt, das auch bei uns Gaudium hervorrufen könnte, wenn es nicht abermals beweisen würde, wie blind nationaler und politischer Fanatismus machen kann: Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 171
172 Die Lage ist natürlich eine ganz unnormale - schreibt Herr Wolynetz in den Pet. Wed., "wie wir gleichfalls der Odess. Ztg. entnehmen, die umso mehr Beachtung verdient, als die Kette der deutschen Ansiedelungen im Südwestgebiet, bei der deutschen Grenze beginnend, sich längs der ganzen österreichischen Grenze hinzieht, innerhalb des Gebiets des Wolhynischen, Podolischen und Bessarabischen Gouvernements, hier an die rumänische Grenze anlehnend, und dann in dem Rayon der südlichen Gouvernements, vornehmlich im Chersoner, Jekaterinosslawischen und Taurischen Gouvernement gruppirt. Andererseits zieht sich die Kette der deutschen Ansiedelungen längs unserer ganzen deutschen Grenze hin, in den links der Weichsel gelegenen Gouvernements, tritt hierauf in das Nordwestgebiet ein, wo sie sich besonders in dem Kownoschen Gouvernement verdichtet. Aber das Bild wird noch deutlicher, wenn wir es durch andere Daten vervollständigen. Bei einer aufmerksamen Prüfung der von der deutschen Colonisation ergriffenen Rayons, fällt nicht so sehr das auf, daß die ganze Strecke unserer österreichischen und deutschen Grenze von deutschen Ansiedlungen umzingelt ist, als vielmehr der, wie uns scheint, viel wesentlichere Umstand, daß die zu uns gekommenen deutschen Auswanderer fast alle strategischen Wege und Punkte des Süd- und des Nordwestgebiets besetzt haben. Im Südwestgebiet zieht sich die Hauptkette der deutschen Ansiedelungen längs der Kiew-Brestschen Chaussée, der Polesischen und Südwestbahnlinien hin; zu beiden Seiten dieser drei wichtigsten strategischen Wege ziehen sich die deutschen Ansiedelungen in dichter und fast ununterbrochener Kette hin. Von dieser Hauptkette laufen Abzweigungen längs allen anderen strategischen Chausséen und militärischen Transportwege hin. Die Chausséewege, die unsere drei neuen Festungen, nämlich Rowno, Lutzk und Dubno verbinden - sind von deutschen Colonien umzingelt; längs den militärischen Transportwegen: Dubno, Kremenetz, Kowel - Wladimir-Wolynsk, Wladimir-Wolynsk - Lutzk, Rowno - Dombrowitza - längs all diesen und allen anderen strategischen Punkten ziehen sich in ununterbrochener Kette deutsche Ansiedelungen hin, oder - um sich anschaulicher auszudrücken - alle diese Wege sind von Deutschen b e s e t z t Von den 990 Colonien des Wolhynischen Gouvernements sind mehr als fünfhundert zu beiden Seiten der oben bezeichneten Wege zerstreut. Um unsere vor kurzem gebaute erstklassige Festung Dubno ist, ohne Uebertreibung, ein ganzes deutsches Heer gruppirt. Die Festung Dubno liegt 42 Werst von der Grenze entfernt und ihre ständige Militairgarnison beträgt nicht mehr als 5000 Mann, in den Umgebungen Dubnos aber ist eine wenigstens zwanzigtausendköpfige Armee deutscher Colonisten gelagert. Dasselbe läßt sich auch unschwer in Lutzk, einer ebenfalls erst vor kurzem errichteten Festung, bemerken; im Lutzker Kreise befinden sich mehr als 18,000 deutsche Colonisten. Dies Alles sind natürlich keine Kleinigkeiten, es läßt sich schwer annehmen, daß sie sich zufällig gebildet haben. Auf solche Zufälligkeiten stoßen wir auch in den anderen Grenzrayons, sowohl im Weichsel-, als auch im Nordwestgebiet. Im Weichselgebiet wohnen eine halbe Million Deutsche und diese ganze Masse fast ist in den an Preußen angrenzenden Gouvernements - dem Petrokowschen, Kalischen, Plotzkischen, Suwalkischen und Lublinischen Gouvernement - gruppirt. Und so weiter, in dem gleichen Sinne. Und dann kommt Herr Wolynetz zu folgendem Schlusse: All dies gewinnt um so mehr Bedeutung, als es sich auf eine sehr bedrohliche Stärke des eingewanderten deutschen Elements an unseren Westgrenzen stützt. Nach den letzten statistischen Daten wohnen in den zehn Gouvernements des Weichsel- und neun des Westgebiets 857,000 Deutsche, deren Hauptmasse in den Grenzgouvernements gruppirt ist. Wie sehr eine solche Lange der Dinge nicht normal ist dies zu sagen erscheint überflüssig. Herr Wolynetz fühlt sich aber, trotzdem er mit Zahlen in der Hand angerückt kommt, mit seiner Argumentation nicht ganz sicher und so schließt er mit einer etwas nachgiebigeren und so zu Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 172
173 sagen zahmeren Wendung: Mag alles von uns Angeführte auf Zufall beruhen. Muß es erst bewiesen werden, daß auch solche Zufälligkeiten nicht geduldet werden können und dürfen? Rigasche Rundschau 30. März 1899 Preßstimmmen. Unter dem Titel die Deutschen in Wolhynien citirt der Rishsk. Westn. folgende Preßstimmen: Im Warsch. Dewn. sagt M. Kornilewitsch: die Deutschen haben ihre Invasion nach Wolhynien wieder aufgenommen. Eine Zeit lang schien sie still geworden zu sein, gegenwärtig aber, gleichzeitig damit, daß unsere Presse begonnen hat sich für die Segnungen der ausländischen Capitalien zu begeistern, haben sich die Deutschen von Neuem auf das unglückselige Wolhynien geworfen, in der Hoffnung es in allerkürzester Zeit in eine deutsche Provinz zu verwandeln. Nach Angabe des Herrn Kornilowitsch sind aus dem Radomschen Gouvernement allein übergesiedelt: im Jahre Personen, Personen, Personen, Personen. Die Anhänger der ausländischen Capitalien werden diese Erneuerung der friedlichen Eroberung des uralten Drewljanerlandes durch die Deutschen mit Befriedigung begrüßen, im Herzen des russischen Mannes jedoch kann sie nur Schmerz erregen. Der Provinzial-Rundschauer des Nabljudatelj sagt im Märzheft: Besonders bemerkenswert ist es, daß die Deutschen in Wolhynien alle Knotenpunkte der Eisenbahnen, alle Fähren und Furthen der großen Flüsse occupirt haben. Sobald die Masse der Deutschen auf Rußland losgeht (движенія на Русь) findet sie alle strategischen Punkte auf ihrem Wege schon für ihre Landsleute besetzt. Eine in jedem Falle ernste Situation. Wir lieben es die Augen gegen die Gefahr zu verschließen, die nicht heute, wol aber morgen droht. Die Gefahr der Ueberfüllung unseres Südwestens durch die Deutschen ist indeß sehr nahe, wenn auch nicht heute, so wird sie doch jedenfalls morgen eintreten. Es scheint danach die Anschauung unausrottbar zu sein, daß eine Handvoll unbewaffneter deutscher Ansiedler im Stande wäre, im Kriegsfalle wichtige strategische Punkte gegen das im Lande befindliche gewaltige russische Heer so lange zu behaupten, bis eine Invasionsarmee dazu gelangt, sie zu besetzen, also gleichsam aus den Händen der getreuen Aufbewahrer in Empfang zu nehmen?! Wir haben eine andere und wie uns scheinen will, richtigere und für sie ehrenvollere Vorstellung von den Leistungen der russischen Armee! Der unverblümte Hinweis auf die ausländischen Capitalien läßt übrigens erkennen, wie wenig ernst die strategischen Bedenken nur gemeint sein können, die ja auch bisher schon oft - gegen die bessere Einsicht der Staatsregierung von dem Nutzen der Kolonisation erfolglos - in s Feld geführt wird, als eine Art Hannibal ante portas für schreckhafte Kinder. Düna-Zeitung 2. Juli 1899 Amurgebiet. Deutsche Colonisation. Zwanzig deutsche Familien sind, wie der Wolynj meldet, kürzlich aus dem Shitomirschen Kreise nach dem Amurgebiet ausgewandert. Sie äußern sich sehr befriedigt über ihren neuen Wohnort und fordern brieflich ihre Landsleute auf, ihnen zu folgen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 173
174 Libausche Zeitung 29. April 1902 Wolhynien. Ueber den C o n f l i c t d e u t s c h e r C o l o n i s t e n mit ihrem Pachtherrn im Nowograd-Wolhynskischen Kreise berichet die Wolynj. Der Besitzer eines enormen Gutes hatte, wie wir in der Düna-Ztg. lesen, die Pacht bis auf 3 Rbl. 55 Kop. pro Dessjatine erhöht, die Colonisten erblickten hierin eine Verletzung ihres alten mündlichen Contractes und verweigerten die Zahlung. Der Gutsbesitzer wandte sich an das Gericht und laut Urtheil desselben unterliegen nun eine Reihe von Colonien der Aussiedelung. Alle Deutschen des Kreises beschlossen, wie ein Mann, der Verfügung nicht Folge zu leisten. Auf den 2. April war die Ausssiedelung eines Colonisten, namens Bichler, angesetzt. Vom frühen Morgen an sah man zahlreiche Wagen mit Colonisten nach dem Gehöft Bichler s ziehen. Gegen Mittag trafen daselbst der Kreispolizeichef, dessen Gehilfe, der Gerichtspristaw, Urjadniks, städtische und Dorfpolizisten, im Ganzen etwa 100 Mann, ein. Ein dichter Haufen von Colonisten, etwa 500 an der Zahl, umringte wie eine undurchdringliche Mauer das Gehöft und verweigerte dem Gerichtspristaw den Zutritt, sodaß dieser die Polizei reclamirte. Alle Ermahnungen und Drohungen des Kreispolizeichefs blieben erfolglos; sein Plan, die Anwesenden aufzuschreiben, blieb unausführbar, weil in der ersten Reihe der Colonisten nur solche aus anderen Gegenden standen, die Niemand kannte. Endlich wurde der Befehl gegeben, Gewalt anzuwenden, was naturgemäß mit einer völligen Niederlage der Angreifenden endete. Als der Befehl alle arretiren, die den Weg versperren ertönte, geschah etwas schwer zu Beschreibendes: die erbitterten Colonisten befreiten nicht nur jeden Verhafteten sofort, sondern maltraitirten die Polizeichargen derart, daß diese der Uebermacht weichend die Flucht ergreifen mußten. Rigasche Rundschau 9. Mai 1902 Preßstimmen. Die agraren Unruhen, die, wie wir kürzlich berichteten, auf dem Gute in Wolhynien unter den deutschen Colonisten wegen Differenzen mit dem Verpächter ihrer Ländereien entstanden waren, geben dem Mosk. Wjed. den Anlaß zu folgenden Bemerkungen: Wenn schon eine müßige Civilklage eine solche Solidarität der Deutschen hervorruft, was ist dann erst für den Fall irgendwelcher politischer Verwicklungen zu erwarten? Wenn sich die deutschen Colonisten so zur russischen Ordnung («порядку») und zur russischen Autorität (власти) verhalten und sich so stürmisch, um nicht zu sagen aufrührerisch, aufführen zu einer Zeit, wo wir in freundschaftlichen Beziehungen zu ihrem Vaterlande stehen, wessen sollen wir uns dann von ihnen gewärtigen im Falle einer Verschärfung dieser Beziehungen und eines Bruches mit Deutschland? Wenn sich für einen Colonisten ein ganzer Kreis, alle seine Colonisten, erheben (und das in einem Kreise der insgesammt Einwohner hat und dicht an der Grenze belegen ist) wer entschlösse sich da zu versichern, daß sich für 50 Millionen Deutsche, für das ganze Vaterland, nicht alle unsere deutschen Kolonisten erhöben, deren es allein im westlichen Grenzrayon mehr als eine Million giebt (?die Furcht hat große Augen! d. Red. d. Rig. Rundsch. ) und die südlichen und Wolgagegenden mitgerechnet über 2 Millionen Deutsche eine Art kleines Deutschland bilden, das obgleich es sich in Rußland befindet, diesem feindlich ist, sich von allem Russischen isolirt, nicht für russische, sondern deutsche Interessen lebt und athmet. Eine solche Sachlage unterwirft das Staatswesen Rußlands allzugroßen Zufälligkeiten und darf deshalb offenbar nicht geduldet werden. Im weiteren Verlauf ihrer Exclamationen gestehen die Mosk. Wjed. zu, daß diese sämmtlichen Deutschen - russische Unterthanen seien, glauben aber, daß das die Gefahr nicht beseitige da das Staatsrecht des Deutschen Reiches eine doppelte Unterhanenschaft kenne (! sollten die Mosk. Wjed. ein geheimes, der übrigen Welt unbekanntes Deutsches Reichsgesetz entdeckt haben? d. Red. d. Rig. Rundsch. ) Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 174
175 Zum Schluß leisten sich die Mosk. Wjed. den geschmackvollen Vergleich der 2 Millionen Deutschen in Rußland mit den Buren in Südafrika, nur mit dem Unterschiede, daß hinter Jenen Deutschland mit 50 Millionen stehe. So die Mosk. Wjed. Es ist gewiß sehr zu bedauern, daß einige deutsche Colonisten in Wolhynien, ihre Zahl steht keineswegs fest, sich dazu haben hinreißen lassen, ihr wirkliches oder nur vermeintliches Recht selbst im Widerstande gegen staatliche Organe zu vertreten, wer aber diese Leute nur einigermaßen kennt, der weiß auch, daß ihnen die Politik meilenfern liegt, und daß vollends das alberne Ammenmärchen von ihrem eventuellen activen Eingreifen im Falle eines deutschrussischen Conflicts nur dazu erfunden worden ist, um den an sich haltlosen Anschuldigungen aller Art wider die Colonisten in den Augen gedankenloser und leichtgläubiger Zeitungsleser eine kräftige Folie zu geben. Rigasche Rundschau 3. April 1903 Wolhynien. Die Auswanderungsbewegung deuscher Kolonisten wird nach dem "Wolhyn" mit den ersten Frühlingstagen immer lebhafter. Im Kreise Shitomir veröden die Kolonien an der Gradowolynsker Chaussée und um Fastowa. ferner erstreckt sich die Auswanderung auf einen bedeutenden Teil des Kreises Dubno, namentlich auf das nordöstliche Gebiet, wo die sog. "Wald- Deutschen" leben. Ebenso trage sich mit Auswanderungsgedanken die deutschen Kolonisten im nordwestlichen Theil des Kreises Luzk. Während der letzten zwei Jahre sind bereits aus dem Kreise Dubno und den übrigen nördliche gelegenen Theilen Wolhyniens Kolonisten ausgewandert, doch waren es nur wenige Familien. Jetzt hat aber die Emigrationsbewegung einen allgemeinen Charakter angenommen. Das Ziel der Auswanderung soll noch nicht ganz feststehen. Einige Kolonisten wollen zunächst in das Weichsel- und das Westgebiet übersiedeln und dann nach Polen und Ost-Preußen, andere ziehen aber direct in den südwestlichen Theil Polens. Rigasche Rundschau 3. April 1903 A. Artemjew betrachtet in der Now. Wr. die z w e i A u s w a n d e r u n g s - W e l l e n, die tatarische aus der Krim und die deutsche aus Wolhynien, und meint, Rußland hätte diese vollständig geringfügige Bevölkerung nicht weiter zu betrauern. Weder vertreiben unsere Gesetze, noch vertreiben wir die Andersstämmigen und Andersgläubigen aus Rußland, und mit ihrem Weggang werden wir auch nicht die geringste Leere verspüren. Wir können es bedauern, daß die unwissenden Tataren sich durch die Auswanderung ruiniren, und daß den deutschen Kolonisten nicht einmal ein Jahrhundert genügt hat, um Anhänglichkeit an ihre zweite Heimath zu gewinnen, die sie ernährt und bereichert hat. Wenn sie aber ziehen wollen, mögen sie ziehen Artemjew weiß auch für die entstehende Lücke Rath zu schaffen: jetzt muß man aus den inneren Gouvernements Bauern auf die freiwerdenden Plätez der deutschen Kolonisten Wolhynhiens schaffen und dann gewönne die doppelte Uebersiedelung einen Staatsgedanken. Rigasche Rundschau 26. April 1903 Wolhynien. Die Now. Wr. stellt wieder einmal Betrachtungen über den E x o d u s d e r d e u t- s ch e n K o l o n i s t e n an und meint, diese folgten nur ungern den Vorschlägen der Posenschen Ansiedlungskommission, da ja die deutschen Kolonisten es in Rußland gut hätten. Das Blatt beruft sich auf die Zeitung Wolhyn, der ein gewisser Gustav Strebert berichtet habe, daß die Preußen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 175
176 T a s c h e n s c h n e i d e r seien, d.h. die Taschen ausplünderten. Dieser Gustav Strebert ist im vorigen Jahr nach Deutschland mit 3000 Rbl. in der Tasche ausgewandert. Die Ansiedlungskkommission habe ihm 20 Dessätinen Land, aber ohne Baulichkeiten, zugewiesen und ihn verpflichtet, Ziegelgebäude aufzuführen. Die 3000 Rbl. hat er ausgegeben, die Bauten aber nicht beenden können. Das L a n d s e i i h m u m s o n s t gegeben worden, er habe 3 ¾ jährlich von der Schätzungssumme des Landstücks zahlen müssen und das Land sei auf 300 Rbl. pro Dessätine eingeschätzt worden. Die Einhaltung solcher Bedingungen hat aber die Kräfte des Strebert überstiegen, er hat infolgedessen seine Angelegenheit mit großen Verlusten liquidiert und es vorgezogen, nach Wolhynien zurückzukehrern. So weit der Wolhyn. An dieser Darstellung erscheint uns eins zweifelhaft: daß der Strebert das land umsonst erhalten haben soll. Soweit uns bekannt, v e r k a u f t die Preußische Ansiedlungskommission ihre Ländereien; Seelenland vertheilt sie nicht. Rigasche Rundschau 28. März 1906 Wolhynien. E i n e D e p u t a t i o n d e u t s c h e r K o l o n i s t e n, bestehend aus den Männern: Lützin, P. A. Ittermann, Langholf, G. Steiger, war an den Grafen Witte abgesandt. Die Audienz beim Grafen Witte entwickelte sich in fogender kurzen aber lebendigen Weise ab: Witte: Wer seid Ihr? Die Deputation: Wir sind die Deputierten aus Wolhynien. Witte: Ich habe mich mit Euren Wünschen in eurer Bittschrift bekannt gemacht, kann euch aber selbst nicht helfen. Ich werde mich interessieren für eure Sache und werde dieselbe der Reichsduma zur Beratung vorlegen, und es kann euch geholfen werden. Lahngholf: Wir Deutsche in Wolhynien haben sehr unter dem Ausnahmegesetz zu leiden. Witte: Das weiß ich. Wie lebt Ihr dort? Deputation: Gott sei Dank, ruhig und in stillem Frieden. Witte: I h r l e b t d o r t u n t e r w i l d e n L e u t e n, aber s e i d i h n e n e i n V o r b i l d und lebt auch in Zukunft ruhig und in Frieden; es soll euch geholfen werden. Damit war die Audienz zu Ende. Düna-Zeitung 21. Januar 1908 D e r V i z e p r ä s i d e n t d e r R e i c h s d u m a B a r o n A. v. M e y e n d o r f f veröffentlicht folgende Erklärung im St. Petersburger Evangelischen Sonntagsblatt : An die 55 Wirte der Kolonie Dermanka-Marjanowka, Wolost Chrolin, Poststation Schepetowka, Kreis Sasslaw, Gouv. Wolhynien, als Antwort auf ihre Darlegung vom 20 Dez. 1907, welche mir am 29. Dezember zuging. Genannte Wirte klagen darüber, daß sie, als der d e u t s c h e n N a t i o n a l i t ä t a n g e- h ö r i g, in ihren Rechten als russische Staatsbürger, besonders bei etwaigem Landerwerb, v o n d en B e h ö r d e n, b e s o n d e r s d e r B a u e r n a g r a r b a n k, g e s c h ä d i g t, b e- z i e h u n g s w e i s e z u r ü c k g e s e t z t w ü r d e n, und erwähnen als Beweis dafür die Behandlung, welche den deutschen Kolonisten im Rownoschen Kreise seitens der genannten Bank widerfahre. Zugleich bitten die betreffenden Wirte, durch mich andere Herren Duma-Abgeordnete zu veranlassen, für das gute, volle Bürgerrecht der Kolonisten einzutreten und gegen irgendwelche Verdächtigungen ihrer Reichstreue energisch zu protestieren. Ich glaube die Absender der Darlegung v e r s i c h e r n zu können, daß die D u m a a b g e- o r d n e t e n d i e s e B i t t e n i c h t u n b e a c h t e t l a s s e n w e r d e n. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 176
177 Zugleich erachte ich es für meine Pflicht, die 55 Wirte der Kolonie Dermanka auf folgende zwei Umstände aufmerksam zu machen: 1. Zur Erfüllung der den Dumaabgeordneten zugedachten Aufgabe bedarf es einer genaueren Darlegung derjenigen Vorkommnisse, in welchen die gedachten Wirte eine gesetzeswidrige Schädigung ihrer Rechte und Interessen erblicken; erwünscht wären als Beweismittel Kopien offizieller behördlicher Bescheide. 2. Eine Rechtsausgleichung sämtlicher russischen Untertanen als Staatsbürger und, im Zusammenhang hiermit, eine Rechtsausgleichung sämtlicher Klassen der landbauenden Bevölkerung ist im Allerhöchsten Manifest vom 17. Oktober 1905 nicht enthalten; immerhin wird im Allerhöchsten Ukas vom 5. Oktober 1906 über Aufhebung einiger Rechtsbeschränkungen der bäuerlichen und steuerbaren Bevölkerung anerkannt, daß infolge der Manifeste vom 6. August und 17. Oktober 1905, durch welche auch die bäuerliche Bevölkerung zur gesetzgeberischen Tätigkeit herangezogen worden sei, die weisen Pläne des Kaiserlichen Befreiers Alexander des II., auf den von Seiner Majestät verkündeten Grundlagen der bürgerlichen Freiheit und der Gleichheit aller russischer Untertanen vor dem Gesetze zu vollziehen seien. Diese große Aufgabe ist im Ukase vom 5. Oktober 1906 in Angriff genommen worden, aber bei weitem noch nicht endgültig gelöst. Hierüber darf kein Zweifel herrschen, wenn man die Rechtslage der deutschen Kolonisten in Rußland richtig verstehen will. Die deutschen Kolonisten in Rußland müssen, ebenso wie jeder andere Stand, wissen, daß es ein gleiches, volles Bürgerrecht in Rußland noch nicht gibt; weder ein Ausgleich aller Stände, noch auch ein Ausgleich aller verschiedenen Klassen der landbauenden Bevölkerung ist vollzogen und deshalb müssen sich auch die Wirte der Kolonie Dermanka fragen, nicht ob ihr volles Bürgerrecht verletzt sei, sondern ob ihre Rechte als Kolonisten verletzt werden. Wie wenig bis jetzt ein Ausgleich der Rechte, welche in Bezug auf die Landversorgung (по3емельное устройство) den früher leibeigenen russischen Bauern von dem Gesetze zuerkannt werden, mit ähnlichen Rechten der deutschen Kolonisten und sonstigen Landbauern zustande gekommen ist, das lehrt eine aufmerksame Durchsicht der Gesetzerlasse, welche infolge des Manifestes vom 3. November 1905 über die Wohlfahrt der bäuerlichen Bevölkerung ergangen sind. Von diesen Gesetzen lassen sich einige erwähnen, welche den Kolonisten gleichе Rechte wie den Bauern (крестьяне) erteilen und zwar: der Ukas vom 27. August 1906 über die Anweisung der Domänenländereien zum Verkauf ( 8), vielleicht auch der Allerhöchste am 21. Oktober 1906 bestätigte Beschluß des Ministerrats über Verkauf von Ländereien aus dem Bestande von Majoraten usw. Anderseits sind aber die Vergünstigungen bei der Beleihung durch die Bauernagrarbank, zum Beispiel bis zum vollen Werte der zu kaufenden Ländereien (Abt. 2 des Ukases vom 3. November 1905) und die Herabsetzung des Zinsfußes (Ukas vom 14. Oktober 1906) und schließlich die Beleihung des sogenannten Надыль (Ukas vom 15. November 1906) nicht ohne weiteres auf die Kolonisten zu beziehen, ebensowenig wie der Ukas über den Verkauf der Apanagen (удыльныя 3емли) vom 12. August Von diesen Gesetzen hat seinem Sinne nach nur der oben unterstrichene Ukas vom 14. Oktober 1906 über Herabsetzung der Zinsen an die Bauernagrarbank Anwendung auf diejenigen Kolonisten, welche mit Hilfe dieser Bank Land gekauft haben, obgleich auch dieses bestritten werden könnte. Aus dem Gesagten ergibt sich, wie genau die Darlegung an die Dumaabgeordneten sein muß, damit sie genau feststellen können, ob die Rechte der deutschen Kolonisten verletzt werden. Hier darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch unter den deutschen Kolonisten rechtliche Verschiedenheiten bestehen. So ist besonders zu merken, daß alle sogenannten deutschen Kolonisten, welche sich als Pächter in Rußland niedergelassen haben, besonders auf Länderein von Privatpersonen, selbst nachdem sie russische Untertanen wurden, ebensowenig wie dies in Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 177
178 Deutschland der Fall wäre, dadurch ein Recht erworben haben, das von ihnen gepachtete Land gegen den Willen des Grundeigentümers zu kaufen. Ein solches Recht ist in Rußland, besonders in den Westgouvernements, und im Kaukasus als strenge Ausnahme nur wenigen Kategorien von langjährigen, meist sogar Erbpächtern, durch besondere Gesetze verliehen worden. Ein derartiges Vorrecht ist also den deutschen Pächtern, ebensowenig wie den meisten ihrer russischen Landsleute nicht vorbehalten, und jeder Pächter muß sich dessen bewußt sein, daß für ihn ein Zeitpunkt und Umstände kommen, welche ihn zum Verlassen der gepachteten Scholle zwingen können. Für die Zukunft läßt sich eine Besserung der Rechtslage bei langjährigen Pachten erhoffen, da man von der Notwendigkeit einer solchen Besserung viel sprechen hört, und seiner Zeit auch die Особое совышаніе о нуждяхь сельско-хо3яйственной промышленности ein neues für die Pächter günstigeres Pachtrecht empfahl; es ist wohl anzunehmen, daß, wie in anderen Fragen, so auch in dieser die Vorarbeiten der genannten Совышаніе nicht ohne Verfolg bleiben werden. Diese eingehendere Auseinandersetzung soll Mißverständnissen, wie sie mir in einer anderen Zuschrift deutscher Kolonisten begegnen sind, entgegentreten. B a r o n A. M e y e n d o r f f, Glied der Reichsduma Rigasche Zeitung 13. Oktober 1910 Zum Gesetzprojekt gegen die deutschen Kolonisten schreibt man uns aus Petersburg: In hiesigen deutschen Kreisen macht sich eine allgemeine Entrüstung fühlbar, daß in dem neuen Gesetz über die deutschen Ansiedler russischer Untertanenschaft den loyalen Deutschen nicht einmal die Rechte der Polen in Wolhynien und Polen zugestanden werden und wildfremden Tschechen, die nach Rußland auswandern, wenn sie griechisch-katholisch sind, größere Rechte eingeräumt werden, als diesen so kaiser- und vaterlandstreuen Elementen, die durch nichts als ihre deutsche Herkunft diese Zurücksetzung auf sich gezogen haben. Wir fügen dem hinzu, daß das Befremden über den Gesetzentwurf sich keineswegs auf deutsche Kreise - natürlich nicht nur Petersburgs, sondern des ganzen Reiches - beschränkt, sondern auch in den russischen Gesellschaft und zwar nicht zum letzten in der konservativen zum Ausdruck gekommen ist. So hat sich der Kiewljanin des Reichsratsmitgliedes Pichno, der eine gewisse offiziöse Stellung einnimmt, sehr scharf gegen dieses unglaublich rigorose Ausnahmegesetz ausgesprochen, in dem er u.a. sich dahin äußerte: Die deutschen Kolonisten sind keine Politiker, sondern nur ehrliche Arbeiter, dabei kulturelle Arbeiter. Sie arbeiten sehr viel und schaffen sich schnell einen Wohlstand, der für unsere umwohnenden schrecklich faulen und verwilderten Bauern unerreichbar ist. Die deutschen und tschechischen Kolonien sind eine hochkulturelle und darum sehr erwünschte Erscheinung. Wie dunkel und träge auch unsere Bauern sind, so lernen sie doch manches von den Kolonisten und werden allmählich wohlhabender. Bekanntlich hat die Einzelwirtschaft in Wolhynien vor der Initiative der Regierung schon größeren Umfang angenommen. Das ist der direkte Einfluß des lebendigen Beispiels der deutschen und tschechischen Kolonisten. Ihr wohltätiger Einfluß zeigt sich noch in vielem anderen. Und plötzlich wird gegen die Kolonisten ein unerbittlicher Feldzug unternommen! Das ist ja ein Feldzug gegen die Kultur selbst, an der wir so arm sind Auch in oktobristischen Blättern macht sich eine Opposition gegen das Projekt bemerkbar, das zu den traurigsten Zeichen nationalistischer Ausnahmepolitik zu zählen ist. Eben jetzt haben deutsche Kolonien in Südrußland unter allgemeiner Beteiligung der Staatsregierung ihr Hundertjahrjubiläum begehen können, ihre Staatstreue ist dabei mit Wärme anerkannt worden, sie haben ihre Loyalität durch eine große Stiftung für das projektierte Romanow-Denkmal auch äußerlich dokumentiert aber eben dieselben Bauern, kulturfördernde Elemente, sollen in Wolhynien und Polen zu staatsgefährlichen Parias entrechtet werden! Wir halten an der Hoffnung fest, daß die Gegnerschaft der Volksvertretung dieses Projekt nicht Gesetz wird werden lassen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 178
179 Rigasche Zeitung 30. November 1910 Wolhynien. Zur Kolonistenvorlage. Der Pet. Ztg. erzählt ein in Wolhynien grau gewordener Pastor ein charakteristisches kleines Erlebnis aus Wolhynien: Am Damm einer Mühle stand ein alter russischer wohlhabender Bauer, der einige heranfahrende d e u t s c h e K o l o n i s t e n tief und e h r f u r c h t s v o l l g r ü ß t e. Auf die Frage, ob der diese Kolonisten den kenne, antwortete er: Nein, ich habe sie im Leben nicht gesehen. A b e r i c h g r ü ß e a l l e d e u t s c h e n B a u e r n, d e n n s i e s i n d u n s e r e L e h r e r. Wo wären wir jetzt, wenn sie uns nicht gezeigt hätten, wie man arbeiten kann und muß! Rigasche Zeitung 26. Januar 1911 Zum Kampf gegen die deutschen Kolonisten. Zu dem geplanten Kolonistengesetz und dessen amtlichen Motiven bringt die Köln.Ztg. eine auf Konsulatsmatrikeln des Kaiserlichen Deutschen Konsulats in Kiew basierende Darlegung, die darin gipfelt, daß die Frage der starken numerischen Zunahme der Kolonisten in Wolhynien sich aus amtlichen deutschen Quellen deshalb nicht feststellen lasse, weil es sich, mit ganz wenigen Ausnahmen, lediglich um russische Untertanen deutscher Abstammung handelt. Sie sind, heißt es da, entweder niemals in die Matrikel dieses Konsulats eingetragen gewesen oder aber, sofern sie sich, als sie noch deutsche Reichsangehörige waren, hatten aufnehmen lassen, darin nach ihrem Eintritt in den russischen Untertanenverband gelöscht worden. Das Deutsche Reich hat mit ihnen in keiner Weise etwas zu tun, da es sie nicht einmal kennt, geschweige, daß die Konsuln, wie behauptet wird, eine heimliche Ueberwachung über sie ausüben. Wenn in vereinzelten Fällen eine Löschung unterblieben ist, so stellte sich jedesmal heraus, daß hieran lediglich die russische Behörde schuld war, die es unterlassen haben, das Konsulat von der Annahme der russischen Staatsangehörigkeit durch den Betreffenden zu benachrichtigen. Von den jetzt in Wolhynien ansässigen Kolonisten ist eine große Zahl preußischer und württembergischer Herkunft. Sie wanderten bereits Ende des 18. und zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Kongreßpolen, welches damals unter preußischer Verwaltung stand, ein. Bereits bei der letzten Teilung Polens haben diese Kolonisten, die den allergrößten Prozentsatz der durch den Gesetzentwurf der reichsdeutschen Untertanenschaft bezichtigten Wolhynier bilden, die russische Untertanenschaft angenommen. Eine deutsche Untertanenschaft gab es damals, da es kein Deutsches Reich gab, noch nicht, das preußische und württembergische Staatsrecht aber kennen keine doppelte Untertanenschaft. In den Aufstandsjahren 1831 und 1863 sahen sich die Einwanderer gezwungen, dem polnischen Drucke zu weichen und nach Wolhynien überzusiedeln. Ein geringer Zuzug hat durch die unmittelbare Einwanderung aus Deutschland und teilweise aus Oesterreich stattgefunden. Diese ist jedoch infolge der den fremden Ansiedlern auferlegten Beschränkungen seit den 80er Jahren sehr zurückgegangen. Durch Gesetz vom 14. März 1887 wurde für das Zartum Polen und die westlichen Grenzgouvernements Bessarabien, Wilna, Witebsk, Wolhynien, Grodno, Kiew, Kowno, Kurland, Livland, Minsk und Podolien fremden Staatsangehörigen der Erwerb von Grundeigentum sowie von Besitz- und Nutzungsrechten untersagt. Spätere Verordnungen vom 14. März 1892 und 19. März 1895 bezweckten gleichfalls, dem weiteren Zustrom ausländischer Ansiedler in dieses Gouvernement Einhalt zu gebieten. Wie die Konsulatsmatrikel ergibt, hat denn auch eine weitere Einwanderung unter Beibehalt der deutschen Untertanenschaft nicht stattgefunden, da aber für die früher Eingewanderten eine Verjährungsfrist von 10 Jahren längst abgelaufen ist, haben sie ipso Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 179
180 iure aufgehört, deutsche Reichsangehörige zu sein. Die Behauptung der Begründung, die wolhynischen Einwanderer hätten nicht aufgehört, deutsche Untertanen zu sein, fällt deshalb einfach in sich zusammen. Rigasche Zeitung 17. März 1911 Das projectierte Kolonistengesetz. Es ist jetzt bald ein Jahr her, daß die Nachricht bekannt wurde, die Regierung plane eine gesetzliche Einschränkung der Gleichberechtigung der deutschen Kolonisten in Wolhynien. Bald darauf wurde der Entwurf auch in die Duma eingebracht und erregte durch die bekannten rigorosen Maßnahmen, die er gegen den Teil der Bevölkerung des Reiches, dessen Loyalität und Treue auch von seinen nationalen Gegnern nicht in Abrede gestellt werden kann, enthielt, wie auch durch die ungeheuerlichen Motive, die ihm beigegeben waren, das größte Aufsehen und die peinlichsten Empfindungen. Namentlich nachdem durch authentische Beweise klargelegt worden war, daß das Hauptargument von der doppelten Untertanenschaft der wolhynischen Kolonisten ein Ammenmärchen oder ein Produkt eines fanatischen Subalternen war, machte sich bis weit in die Kreise der Nationalisten ein lebhaftes Befremden geltend, da eine derartige, von tiefstem Mißtrauen der Regierung zeugendes und daher die Würde der Deutschen in Rußland beleidigendes Projekt überhaupt hat eingebracht werden können. Seitdem ist es von demselben still geworden, ja man würde an seine Existenz kaum gemahnt werden, wenn nicht ab und an in der Duma von einzelnen Personen in sehr nationalistischem Sinne daran erinnert würde. So hat noch dieser Tage Erzbischof Mitrofan, der allgemein als ein milder und maßvoller Mann gilt, in der Reichsduma eine materielle Bevorzugung der russischen Uebersiedler verlangt, die er den deutschen Kolonisten nicht zugestehen will. Und schon ist von solchen Leuten, die alles mit Hilfe der Regierung wollen und nichts aus eigener Kraft tun können, über das Ueberhandnehmen des deutschen Elements in Sibirien Klage geführt worden, als ob nicht Sibirien groß genug wäre und eines solchen Kulturelements wie der Deutschen nicht besonders bedürfte! Mit Recht hat der Abgeordnete Lütz, der die Interessen der südrussischen deutschen Kolonisten vertritt, in der Duma das beleidigende und schmerzliche Moment hervorgehoben, das in der Tatsache liegt, daß die Regierung sich weigert, den russischen Deutschen, der loyalsten Bevölkerung des Reiches, im Kaukasus und an anderen Orten, Land zu verkaufen. Das eingebrachte Projekt und die Praxis, die den deutschen Kolonisten durchaus missgünstig ist und u.a. seitens der Baueragrarbank ein Messen mit verschiedenem Maß herbeigeführt hat, haben eine Situation geschaffen, die für die gesamte deutsche Bevölkerung Rußlands unerträglich geworden ist. Denn mag auch nur ein Teil von ihr durch das geplante Gesetz getroffen werden, soviel Solidaritätsgefühl ist denn doch in der durch Glauben und Sprache geeinten deutschen Bevölkerung vorhanden, daß alle das ihrer nationalen Würde zu nahe Tretende der durch die Regierung geschaffenen Lage empfinden. Wir glauben daher, gut informiert zu sein, wenn wir es aussprechen, daß die Deutschen Rußlands wie auch ihre Vertreter in Reichsduma und Reichsrat es wünschen, daß die für die Zukunft der deutschen Kolonisten vitale Frage nicht weiter verschleppt werde, um dann bei der Regierung geeignet erscheinender Weise wieder hervorgeholt zu werden, sondern daß endlich Klarheit geschaffen werde, woran wir sind. Es ist nicht angängig, daß das Damoklesschwert über loyalen Untertanen des Zaren und Bürgern des Reiches hängen bleibe, deren einzige Schuld die ist, Deutsche zu sein. Die Regierung aber muß wissen, daß die Volksvertretung in ihrer Mehrheit ihr nicht auf einem Wege zu folgen bereit ist, der statt zur kulturellen Angliederung zur Vertiefung der nationalen und religiösen Gegensätze führen muß. Die nationalistischen Abgeordneten stammen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 180
181 zum Teil gerade aus solchen Gebieten, wo sie sich von der wirtschaftlichen Tüchtigkeit, der nationalen Harmlosigkeit und der unwandelbaren Treue der Deutschen persönlich zu überzeugen immer wieder Gelegenheit haben, ja Purischkewitsch und manch anderer aus diesem Lager verdanken ihre Wahl nicht zum letzten deutschen Wahlstimmen. Nicht anders steht es mit den Oktobristen, die in Petersburg und Moskau eine Hauptstütze in den deutschen Elementen haben. Auch bei ihnen verbindet sich ihr politisches Programm, das solche Entrechtung einzelner Bevölkerungsteile ausschließt, mit dem Gebot politischer Klugheit, um gegen das Projekt Front zu machen. Aber selbst wenn die Chancen für dasselbe günstiger lägen, als es, gottlob, der Fall ist, können die Deutschen darüber nicht im Unklaren lassen, daß sie eine baldige Entscheidung für notwendig halten, da nichts unerträglicher ist als die heute bestehende Sachlage. Die Regierung muß das Projekt, über dessen innere Unhaltbarkeit sie ja nicht länger im Zweifel sein kann, offen zurückziehen oder aber auf eine rasche Entscheidung in den Kammern drängen. Tertium non datur. Rigasche Zeitung 25. April 1911 Die Kolonistenvorlage in der Dumakommission. Die am 23. April aufgenommene Beratung der K o l o n i s t e n v o r l a g e i n d e r K o m m i s- s i o n f ü r D i r i g i e r u n g d e r G e s e t z e s v o r l a g e n kam, berichet die Pet. Ztg., im Grunde genommen recht unerwartet. Zwar waren die Abgeordneten rechtzeitig, einen Tag früher, von der am Sonnabend bevorstehenden Prüfung des Gesetzesprojekts in Kenntnis gesetzt worden. Doch da ein großer Teil der auswärtigen Dumamitglieder immer noch durch seine Abwesenheit glänzte oder erst, wie z.b. der Cherssonnsche Abgeordnete L. G. Lutz, Mitglied der Dirigierungskommission, am Sonnabend in Petersburg eintraf, so ist es keineswegs zu verwundern, daß die Sonnabendsitzung keine starke Frequentierung aufwies. Auch die Opposition, mit Ausnahme der P o l e n, war in der Kommission recht schwach vertreten. Dafür aber wog die überzeugende, glanzvolle Rede F. J. R o d i t s c h e w s eine ganze Anzahl der der abwesenden linken Stimmen auf. Der glänzende k.d. Redner war von seiner Fraktion vor verhältnismäßig kurzer Zeit in die Kommission für Dirigierung der Gesetzprojekte gewählt worden, die erst infolge der ihr zur Beratung gestellten nationalen Vorlagen Finnland-, Cholm- und Kolonistenvorlage zu größerer Bedeutung gelangt ist. Verwunderlich erscheint auch die große Schnelligkeit, mit der eine so hochbedeutsame Vorlage, wie das Kolonistengesetz, durchberaten wurde. Nur e i n e Sitzung war dazu erforderlich Debattiert wurde verhältnismäßig recht wenig. Der Vertreter der Progressisten Graf A w a r o w erklärte sich im Prinzip gegen eine Beschränkung der Eigentumsrechte der russischen Untertanen, im vorliegenden Falle im besonderen gegen eine solche der Polen, die bekanntlich nach dem Projekt mit den deutschen Kolonisten zusammen in Kiew, Wolhynien und Podolien in ihren Rechten beschränkt werden sollen. F. J. R o d i t s c h e w sprach lange und eindringlich. Was würden Sie, meine Herren, für ein Geschrei erheben, sagte er unter anderem, wenn Oesterreich oder Preußen zu den Mitteln greifen würden, die Sie eben im Begriff sind gegen die deutschen Kolonisten anzuwenden. Wenn es sich noch einzig und allein um ausländische Untertanen handeln würde, so könnte man sich, falls zwingende Gründe vorliegen, noch mit den proponierten Maßnahmen aussöhnen. Man will aber g e g e n d i e e i g e n e n M i t b ü r g e r, die Deutschen russischer Untertanenschaft, i n e i n e r d e r G e r e c h t i g k e i t H o h n s p r e c h e n d e n W e i s e v o r g e h e n. Wenn schon gegen die deutschen im Südwest-Gebiet angekämpft werden soll, so dürfen es ausschließlich k u l t u r e l l e Mittel sein, nicht aber Repressalien. Heben Sie das kulturelle Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 181
182 Niveau der dortigen einheimischen russischen Bevölkerung, man fördere ihre soziale Lage, man nehme aber Abstand von solch untauglichen und schädlichen Maßnahmen. Eine Einschränkung nach der Nationalität und nach der Konfession ist ein Unding. Selbst vom Standpunkt der Nationalisten, schloß Redner, erscheint die Vorlage unannehmbar. Die Nationalisten müssen doch einsehen, daß die Vorlage nur geschaffen ist, anstatt, was diese ja selbst befürworten, eine Verschmelzung der Deutschen mit der russischen Bevölkerung anzubahnen, die aus Deutschland und Oesterreich stammenden Deutschen zu veranlassen, beständig nach ihrer einstigen Heimat, die sie längst aufgegeben haben, zurückzuschauen. Der Vertreter des Polnischen Kolo Abg. D y m s z a erklärte, er wolle nicht gegen das Projekt als solches protestieren, sondern nur gegen die Bestimmung, die sich gegen die aus dem Zartum P o l e n s t a m m e n d e n K a t h o l i k e n richtet. Werde dieser Punkt gestrichen, so erscheine für ihn die Vorlage durchaus annehmbar. Der Ministergehilfe K r y s h a n o w s k i gab seine Zustimmung zu der Streichung der Bestimmungen, die sich auf die K o n f e s s i o n der aus Polen stammenden Ansiedler bezeihen, und erklärte dann weiter, d i e R e g i e r u n g w e r d e e i n G e s e t z p r o j e k t ü b e r E i n s c h r ä n k u n g der d e u t s c h e n K o l o n i s a t i o n in P o l e n einbringen. Da die noch auf der Rednerliste stehenden Mitglieder auf das Wort verzichteten, so konnte auch gleich zur Abstimmung geschritten werden. Mit allen Stimmen gegen die der Abgeordneten Roditschew und Partschewski (Pole) wurde die Vorlage mit einigen Abänderungen angenommen. I n d e r M a j o r i t ä t b e f a n d e n s i c h u. a. a l l e O k t o b r i s t e n u n d d e r P o l e D y m s z a. Die Bestimmungen, die sich auf die ausländischen Ansiedler, welche die russissche Untertanenschaft angenommen und in den Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien ihren Wohnsitz genommen, sowie auch die Nachkommen in absteigender männlicher Linie beziehen, wurden unverändert gelassen. Gestrichen wurden alle auf die K o n f e s s i o n bezüglichen Bestimmungen. Belassen wurde die Verordnung, derzufolge alle mit Umgehung des Gerichts abgeschlossenen Kauf- und Arrende-Kontrakte annulliert werden. Gestrichen wurde auch der letzte 4. Artikel, wonach dem Generalgouverneur von Kiew, Wolhynien und Podolien das Recht eingeräumt wird, auf administrativem Wege alle diejenigen auszuweisen, die in Verletzung des Gesetzes Land erworben haben. Der bedauerliche Beschluß der Kommission wird natürlich in der O k t o b e r f r a k t i o n noch genug von sich reden machen und wird o h n e P r o t e s t n i c h t h i n g e n o m m e n w e r d e n. Es wird der Ueberzeugung Ausdruck gegeben, daß die Oktoberfraktion ihr Programm nicht verleugnen, sondern dieses einhalten werde. Daß die Kolonistenvorlage bereits in dieser Session im P l e n u m zur Verhandlung gelangt, erscheint, nach der Pet. Ztg., wohl ausgeschlossen. Rigasche Zeitung 26. April 1911 (Auszug) Zur Annahme der Kolonistenvorlage wird uns aus Petersburg geschrieben: Die Gesetzesvorlage über die deutschen Kolonisten in den Südwestgouvernements ist also mit einigen unbedeutenden Abänderungen in der Dumakommission mit allen gegen eine polnische und die Stimme Roditschews angenommen worden; - ein solches Resultat wäre im vorigen Herbst, als die meisten Nationalitäten noch nicht definitiv zur Fahne des Premiers geschworen hatten, einfach undenkbar gewesen, denn wie ich selbst damals aus verschiedenen Gesprächen mit Abgeordneten Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 182
183 dieser Fraktion und speziell aus jenen in Frage kommenden Gouvernements erfahren habe, waren damals die südrussischen Gutsbesitzer gegen diese Vorlage, einmal weil die loyalen Deutschen ihrer Ansicht nach durch nichts eine solche Zurücksetzung verdient hätten und zweitens, weil die deutschen Kolonisten gerade dort Kulturträger sind, durch deren Fleiß und Tüchtigkeit der Wert des Landes sowohl als Arrende- wie auch als Verkaufsobjekt im laufe der Jahre sich sehr gehoben hat und nur durch sie sich so hoch erhält, das Ausschalten dieses Kulturfaktors daher undenkbar sei. So sprachen dieselben Herren von rechts im verflossenen November und gestern fand sich unter ihnen keiner, der auch nur ein Wort der Anerkennung für die Verdienste dieser stillen, friedlichen Leute sprach und nur Roditschew trat, wenn auch ohne ein Wort der Sympathie, so doch aus Prinzip dagegen auf, wobei er in ausgezeichneter Rede die Ungerechtigkeit dieser Maßnahme geißelte, während der Führer des polnischen Kolos Professort Dymscha nichts anderes zu sagen wußte, als daß er die Streichung des Punktes aus der Vorlage verlange, der sich auf die aus dem Königreich nach Wolhynien übersiedelnden Kolonisten beziehe, worauf der Gehilfe des Ministers des Innern sich mitzuteilen beeilte, daß das Ministerium ein ähnliches Gesetz auch gegen die Ansiedlung von deutshen Kolonisten im Königreich einbringen werde. Nun wissen die deutschen Bauern, die in Polen vorläufig noch unbehelligt ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienen dürfen, was ihrer harrt! ( ) Rigasche Zeitung 2. Mai 1911 Zur Kolonistenvorlage. In einer am 29. April abgehaltenen Sitzung des Bureaus der Oktober-Fraktion machte, nach der Pet. Ztg., der Vorsitzende P. W. Kamenski die Mitteilung davon daß ihm von seiten des stellv. Präses der P e t e r s b u r g e r D e u t s c h e n G r u p p e R. v o n A n t r o p o f f eine von dieser Gruppe verfasste Schrift über die Kolonistenvorlage übergeben worden sei. Das Bureau ist in die Prüfung dieser Schrift noch nicht eingetreten. In der Denkschrift wird nach der Pet. Ztg. eingangs ausgeführt, daß das Gesetzproject den von der Höhe des Thrones gewährten Versprechungen zuwiderläuft und eine G e f a h r f ü r d i e E x i s t e n z a l l e r d e u t s c h e n U n t e r t a n e n d e s R u s s i s c h e n R e i c h e s d a r s t e l l t. Es folgt hierauf eine kurze Darlegung der G e s c h i c h t e d e r K o l o n i - s a t i o n, die nach vorübergehenden Versuchen in den 70er Jahren des XVIII Jahrh zum ersten Mal mit Nachdruck einsetzt, um denn von neuem anzuschwellen und bis 1886 fortzudauern. Beide Male handelte es sich um I n l ä n d e r, seit 1865 russische Untertanen seiende deutsche Bauern, die infolge der Aufstände in Polen das ungastliche Land verließen. Die Denkschrift führt dann im einzelnen aus, welchen materiellen Nutzen Gutsbesitzer und Bauern von der deutschen Einwanderung nach Wolhynien gehabt, wie sie unter Entbehrungen und Beamtenwillkür, die früh einsetzt und kein Ende nimmt, sich behauptet und Unland in blühenden Kulturboden umgewandelt haben. Seit 1886 namentlich, wo die Erlaubniß zum Landankauf vom Generalgouverneur abhängig gemacht wurde, einem Befehl, dem 1892 das rigorose Verbot an Kolonisten folgte, sich außerhalb der Städte anzukaufen, ist die Lage so unerquicklich geworden, daß die E i n w a n d e r u n g d e u t s c h e r K o l o n i s t e n völlig a u f g e h ö r t hat. Wenn die Zahl trotzdem angewachsen ist, so erklärt sich das lediglich durch die starke Geburtenziffer. Sie hat die Zahl von (1897) heute auf erhöht, nicht , wie der Minister behauptet. Das Gesetz von 1905, das den Kolonisten das Recht zum Landkauf wiedergab, ist durch Beamtenwillkür stark erschwert, die B a u e r a g r a r b a n k mit ihrer nationalistischen Praxis tut das ihrige dazu. Kein Wunder, daß die A u s w a n d e r u n g immer Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 183
184 gewaltigere Dimensionen annimmt. Die Schrift führt an einer Reihe von Beispielen an, wie die deutschen Kolonien zusammenschmelzen und zum Theil sich auflösen und den Russen Platz machen, während noch nie ein russischer Bauer von den deutschen Kolonisten verdrängt worden ist. Die Annahme, daß der Landbesitz der deutschen Kolonisten Dessjatinen betrage, ist falsch. Nach den Recherchen der Deutschen Gruppe übersteigt sie nicht Dessjatinen. Dabei sind drei Viertel von ihnen Arrendatoren und nur ein Viertel Eigentümer. Sie sind alle russische Untertanen, zu zwei Drittel Nachkommen der Einwanderer aus Polen, während die übrigen später die russischen Untertanenschaft angenommen haben. Die Denkschrift widerlegt dann mit den unseren Lesern bekannten Argumenten das Märchen von der d o p p e l t e n U n - t e r t a n e n s c h a f t und hebt mit Nachdruck die Ungerechtigkeit hervor, die darin liegt, daß e i n t r e u e s, l o y a l e s, a r b e i t s a m e s K u l t u r e l e m e n t entrechtet werden soll. Mit einem Appell an die Einsicht und den Gerechtigkeitssinn der Regierung und der Duma schließt die vortreffliche Denkschrift. Rigasche Zeitung 22. Dezember 1912 (4. Januar 1913) Das neue Kolonistengesetz Der Minister des Innern bringt, wie schon gestern kurz mitgeteilt, ein Gesetzprojekt zum Schutze des russischen Landbesitzes in den Gouvernements des Süd-Westgebiets sowie im Gouvernement Bessarabien in die Reichsduma ein. Diesem Gesetzprojekt zufolge sollen in Abänderung und Ergänzung der einschlägigen Gesetze folgende Bestimmungen getroffen werden: 1) Personen ausländischer Herkunft, die die russische Untertanenschaft nach dem 15. Juni 1888 angenommen haben, Personen polnischer Herkunft, die nach dem erwähnten Termin aus den Gouvernements des Zartums Polen übergesiedelt sind, sowie den Nachkommen der erwähnten Personen in der männlichen Linie, die sich nicht die russische Nationalität zu eigen gemacht haben ( ) ist es hinfort untersagt, das Eigentumsrecht an Immobilien außerhalb der Städte des Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien sowie das aus Miets- und Pachtverträgen sich ergebende Besitz- und Nutzungsrecht zu erwerben. 2) Personen ausländischer Herkunft, die russische Untertanen sind, jedoch nicht die russische Nationalität erworben haben, ist es hinfort untersagt, die erwähnten Rechte an Immobilien außerhalb der Städte des Gouvernements Bessarabien zu erwerben. 3) Falls eine Person ausländischer oder polnischer Herkunft außerhalb der Städte der erwähnten Gouvernements ein Immobil erwirbt oder mietet resp. pachtet, so müssen zum Beweis dessen, daß der Käufer resp. Pächter die russische Nationalität erworben hat, Zeugnisse vorgestellt werden, die vom zuständigen Generalgouverneur oder Gouverneur ausgestellt sind. 4) Die erwähnten Regeln erstrecken sich nicht: a. auf die in den russischen Untertanenverband getretenen ausländischen Kolonisten russischer oder tschechischer Nationalität sowie deren Nachkommen, b. im Gouvernement Bessarabien auch auf alle Personen, die von Geburt orthodox sind und c. auf die Fälle, wo außerhalb der Städte gelegene Immobilien, welche den in den 1 und 2 erwähnten Personen gehören, auf dem Wege der Erbschaft in die Hände ihrer direkten Nachkommen oder des Gatten übergehen. In allen übrigen Erbschaftsfolgen sind die in 1 und 2 erwähnten Personen verpflichtet, ihre Immobilien im Laufe von 3 Jahren nach der Erwerbung derselben zu verkaufen. Bei Nichterfüllung dieser Regeln wird das Immobil auf Verfügung der Gouvernementsobrigkeit unter Kuratel gestellt und gelangt in der zuständigen Gouvernementsverwaltung zur öffentlichen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 184
185 Versteigerung, wobei der Erlös nach Abzug der Kuratel- und Verkaufskosten dem Erben ausgezahlt wird. 5) Falls die örtliche Gouvernementsobrigkeit ein Rechtsgeschäft aufdeckt, das unter Verletzung oder Umgehung der obenerwähnten Regeln abgeschlossen worden ist, so bevollmächtigt der Gouverneur nach Einforderung der erforderlichen Informationen, die sowohl die Gerichts- als auch alle übrigen Regierungsbehörden und Beamten der Gouvernementsobrigkeit unverzüglich zukommen lassen müssen, eine ihm unterstellte Amtsperson, vor dem örtlichen Bezirksgericht eine Klage zwecks Ungiltigkeitserklärung des betreffenden Geschäfts oder Vertrags anzustrengen. Die auf Grund dieser Klagen eingeleiteten Prozesse werden nach dem für die Prozesse der Kronsverwaltungen geltenden Modus geführt. 6) Den Gouverneuren von Kiew, Podolien, Wolhynien und Bessarabien wird das Recht gewährt, aus den ihnen unterstellten Gouvernements auf administrativem Wege Personen auszuweisen, die sich unter Verletzung der obenerwähnten Regeln im faktischen Besitz von Immobilien außerhalb der Städte befinden, auf Grund mündlicher Vereinbarungen oder überhaupt nicht formeller Abmachungen oder nachdem das von diesen Personen abgeschlossene Geschäft, betreffend das Besitz- und Nutzungsrecht an dem Immobil, für ungiltig erklärt worden ist. Die Pet. Ztg. schreibt hierzu: Als letztes Geschenk aus A. A. Makarows Händen haben wir kurz nach seinem Abgang die Kolonistenvorlage in erneuter Gestalt erhalten. Wir behalten uns vor, auf diese späte Frucht der allerschlimmsten Periode unseres zoologischen Nationalismus zurückzukommen und begnügen uns eben nur die Hauptzüge des Gesetzprojekts zu charakterisieren. Im allgemeinen werden die Bestimmungen im Verhältnis zur ersten Fassung stark abgeschwächt. Nur die Personen ausländischer Herkunft (und deren Nachkommen) die nach 1888 russische Untertanen geworden sind, sollen das Recht auf Landbesitz und Arrende verlieren. Da die meisten Kolonisten vor 1888 russische Untertanen geworden sind, kommen sie und ihre Nachkommen nicht unter die Rechtsbeschränkung. Doch das gilt nur für Kiew, Podolien, Wolhynien, für Bessarabien dagegen wird keine Einschränkung gemacht. Hier wird jeder Mann auswärtiger Abstammung, der sich nicht die russische Nationalität angeeignet hat, gezwungen, binnen 3 Jahre sein Hab und Gut zu verkaufen. Die Aneignung der russischen Nationalität - ein neuer Begriff in unserem Recht - schützt auch in den drei obengenannten Gouvernements die Nachkommen von Ausländern, die nach 1888 russische Untertanen geworden sind, gleichfalls vor Rechtsbeschränkung. Der neue Begriff der Aneignung der russischen Nationalität erhält sein ganz besonderes Gepräge durch die Bestimmung, daß die Gouverneure darüber zu entscheiden haben, ob sie erfolgt ist. Polizeizeugnis über Nationalitätswechsel, über nationale Zuverlässigkeit! Den Gouverneuren wird auch vom neuen Gesetz die von der Duma gestrichene Vollmacht, Zuwiderhandelnde auszuweisen, gegeben. - Im übrigen sind die Bestimmungen wenig verändert. Es ist nur zu hoffen und zu wünschen, daß die Duma dieses dem Rechtsbewußtsein zuwiderlaufende Projekt ablehnt. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 185
186 Rigasche Zeitung 12. September 1913 Erhöhte Staatsmittel zur Förderung der Rückwanderung. Wir lesen in der Tgl. Rdsch. : Wie wir hören, sind Erwägungen im Gange, die sich mit einer Förderung der Rückwanderung deutscher Elemente in g r o ß e m M a ß s t a b befassen, zu welchem Zwecke erhöhte Staatsmittel eingesetzt werden müßten. Mit Rücksicht auf die immer bedenklicher werdende Entwicklung der L a n d a r b e i t e r f r a g e und im Hinblick auf die zunehmend günstigen Ergebnisse der Rückwanderung erweist es sich als unbedingt notwendig, daß sich die Regierung in einem weit höhern Maße als bisher bemüht, die Rückwanderung der deutschen Elemente in großem [Maße] herbeizuführen. Tatsächlich würde der Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderung bei entsprechend vermehrter Unterstützung wohl in der Lage sein, n o c h v i e l e T a u s e n d e v o n F a m i l i e n n a c h D e u t s c h l a nd zu bringen, wobei erleichternd ins Gewicht fällt, daß ein großer Teil der Rückwanderer durchaus nicht arm ist. Die Rückwandererfrage ist auch d a d u r c h j e t z t b e s o n d e r s b r e n n e n d g e w o r d en, weil die rein deutschen Elemente, die namentlich an der Wolga und in Wolhynien angesiedelt sind, von der russischen Regierung abgeschoben werden und die verschiedensten, zum Teil mit Erfolg gekrönten Bestrebungen bestehen, sie nach B r a s i l i e n, A r g e n t i n i e n, K a n a d a u n d S i b i- r i e n a b z u l e i t e n. Dann dürfte die Frage der R e g e l u n g d e r D e c k u n g d e s L a n d b e d a r f s d e r a n s i e d l u n g s- l u s t i g e n R ü c k w a n d e r e r einer Prüfung zu unterziehen sein. Ein Teil der Deutschen ist durch den Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer bereits in Deutschland untergekommen, was auch zum Teil in den Ansiedlungsprovinzen geschehen ist, und erfreulicherweise bemühen sich jetzt immer mehr Landwirtschaftskammern um Ansiedlung. So auch von den nicht-östlichen Provinzen Schleswig- Holstein und Westfalen. Wenn auch nicht alle Elemente, die sich unter den Rückwanderern befinden, als wertvoll anzusprechen sind, so ist doch die große Mehrzahl von ihnen durchaus brauchbar und zum Teil ganz vortrefflich. Als ein besonders bedenklicher Mißstand hat sich leider geltend gemacht, daß die S c h i f f a h r t s g e s e l l s c h a f t e n die Rückwanderer in das Ausland bringen, und daß es aufgrund des Auswanderungsgesetzes nicht möglich ist zu erreichen, daß die von den Schiffahrtsgesellschaften gekauften Rückwanderer in Deutschland bleiben. Rigasche Zeitung 17. Juli 1914 (Auszug) Allerhöchster Mobilisierungsbefehl. Wir erhalten folgendes Telegramm der Petersburger Telegraphenagentur: Petersburg, 17. Juli. Durch Namentlichen A l l e r h ö c h s t e n B e f e h l an den Dirigierenden Senat ist es für notwendig befunden worden, einen Teil der Armee und Flotte in Kriegszustand zu versetzen. Die Mobilisation betrifft die n ö r d l i c h e n, ö s t l i c h e n, W o l g a- u n d z e n t r a l e n G o u v e r n e m e n t s, sowie einige Kreise Livlands und Estlands. Ein zweites ausführliches Telegramm der pta. übermittelt uns den Wortlaut des Befehls: Indem Wir es für notwendig erachten, einen Teil der Armee und der Flotte in den Kriegszustand zu versetzen, befehlen Wir in Erfüllung dieses, laut Weisungen, welche Wir am heutigen Tage dem Kriegs- und Marineminister gegeben haben: 1) An der Hand des bestehenden Mobilisationsplanes vom Jahre 1910 der U n t e r m i l i t ä r s d e r R e s e r v e zum a k t i v e n D i e n s t einzuberufen und den Regimentern von der Bevölkerung Pferde, Fuhren und Geschirre zuzustellen: a. in allen Kreisen der Gouvernements Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 186
187 Kostroma, Moskau, Wladimir, Nishni Nowgorod, Kasan, Kaluga, Tula, Rjasan, Orel, Woronesh, Tambow, Pensa, Simbirsk, Kiew, Kursk, P o d o l i e n, Poltawa, Charkow, B e s s a r a b i e n, Chersson, Jekaterinoslaw, Taurien und Astrachan. b. In den Kreisen Welsk, Rikolsk, Weliti-Ustjug, Ssoljwytschegodsk, Totjma, (. ) in den Kreisen Dubno, Luzk, Rowno, Kremenz, Ostrog, Ssasslawl, Nowograd-Wolynsk, Shitomir, Owrutsch und Staro-Konstantinow. ( ) Der Dirigierende Senat wird nicht ermangeln, die nötigen Maßnahmen zur Erfüllung dieser Vorschrift zu ergreifen. Das Original ist Höchsteigenhändig von Seiner Majestät dem Kaiser unterzeichnet N i k o l a i Gegeben in Peterhof, am 16. Juli 1914 Libausche Zeitung 9. September 1914 Konferenzen zwischen russischen und polnischen Politikern (Auszug) Die Ereignisse der letzten Zeit haben Aussprachen zwischen den Vertretern russischer liberaler Parteien bis zu den Progressisten einschließlich, und fortschrittlicher polnischer Kreise zur Folge gehabt. In der ersten Konferenz wurden fast ausschließlich Referate seitens polnischer Vertreter gehalten. Ein Pole aus Posen charakterisierte die Lage, wobei der auf die bekannten Verfolgungen der Polen in Preußen hinwies, so gegen die auch von der Petrograder Zeitung verurteilte Landexpropriation Protest einlegte. Der Referent erklärte, die preußischen Polen hätten es auch früher vorgezogen, obgleich die Polen auch in Rußland Unannehmlichkeiten ausgesetzt waren, zu Rußland zu gehören, weil die Behandlung der Polen in Rußland bei weitem besser als die in Preußen sein. Derselbe polnische Referent brachte auch Angaben darüber auf, Deutschland und Österreich-Ungarn hätten ein Abkommen getroffen, wonach im Falle eines Krieges Zweidrittel von Russisch-Polen an Preußen und Eindrittel an Oesterreich falle; wobei der letztere Staat auch Wolhynien erhalten solle (Deutschland und Oesterreich haben die Rechnung ohne den russischen Wirt gemacht! Die Red. der Petr. Ztg.) Der Vertreter Posens sprach sich zum Schluß für einen Anschluß an Rußland aus. ( ) Rigasche Zeitung 14. Oktober 1914 Ein Soldatenbrief. Einem in der Odessaer Zeitung veröffentlichten S o l d a t e n b r i e f e, den ein durch Granatsplitter schwerverwunderter d e u t s c h e r K o l o n i s t a u s W o l h y n i e n an seine Frau gerichtet hat, entnehmen wir den sympathischen Schluß: Im Spital habe ich es sehr gut. Mein Bett und Anzug ist kreideweiß. ( ) So brachte mir auch heute unser Doktor eine Nummer der Now. Wr.. ( ) Mit einmal traf ich auf den Artikel, der der Regierung den Vorschlag macht, die D e u t s c h e n a u s W o l h y n i e n z u v e r t r e i b e n, s o g a r w ä h r e n d d e s K r i e g e s. Da dachte ich wieder an euch und ein Weh ging durch meine Seele. Ich liege hier als Krüppel für mein ganzes Leben. Zwei von meinen deutschen Kameraden blieben in der ersten Schlacht tot auf der Wahlstatt. Ob die anderen fünfzehn aus Wolhynien, mit denen ich bekannt wurde, leben, weiß ich nicht. Und dich mit meinen lieben Kindern und ihre Frauen und Kinder will man aus unserer liebgewordenen Heimat vertreiben, noch während wir im Kriege sind. Nein, das ist nicht möglich, Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 187
188 das bringt kein Mensch und am allerwenigsten ein Russe fertig. Und doch steht es in solch einer großen Zeitung. Mir wurde so schwindlig, daß ich die Zeitung nicht mehr halten konnte. Indessen kam unser Kapitän, der auch verwundet war, an mein Bett: Na, wieder große Schmerzen, fragte er. Nein, sagte ich. Was denn? Er bückte sich nach der Zeitung und sah gleich auf den Artikel über die Vertreibung der Deutschen aus Wolhynien. Wer hat dir das gegeben? fragte er. Der Herr Doktor, sagte ich. Da kam dieser auch selbst, sah auf den Artikel. Nachdem er eine Zeitlang gelesen hatte meinte er zum Offizier: Ich hätte diese Zeitung ihm nicht geben sollen, sah mich scharf an, fühlte den Puls und meinte: das hat wirklich den armen Kerl stark mitgenommen. Es wäre wirklich Zeit, daß auch gegen diese Hetze eine Zensur eingeführt würde, wenigstens in dieser schweren Zeit. Der Offizier runzelte die Stirn und sagte: ich möchte nur wünschen, daß die Herren von der Redaktion und ihre Mitarbeiter, die so ein Zeug schreiben, wenigstens eine Schlacht gemeinsam mit meinen deutschrussischen Soldaten mitmachen möchten, ich glaube, dann würden sie anders urteilen. Legte mir die Hand auf den Kopf und sagte: Sei ruhig, Kamerad, heute und morgen vertreibt man deine Frau und Kinder noch nicht und wenn dein kranker Fuß heil wird und du für uns nicht mehr taugst, dann fahre nachhause, grüße von mir deine Frau und Kinder und sage deinen Landsleuten, sie sollen ihre Pflicht tun und sich nicht über solche Zeitungsartikel aufregen. Denn es gibt noch mehr Russen in Rußland als die Herren von der Now. Wr.. Ach, wie wohl tat mir das und wie freudig ging ich wieder in die Schlacht, als es mein Fuß erlaubte. Ich hätte dir dies nicht geschrieben, wenn ich ich denken müßte, daß du auch schon etliches gelesen oder gehört hast. Dann mach dir nur ja keine Sorge, denn was unser Kapitän will, das geschieht auch. Mit herzlichem Gruß an dich und die lieben Kinder bleibe euer Julius Reitknecht. Rigasche Zeitung 14. Oktober 1914 Zur Liquidation des deutschen Grundbesitzes. Wie bereits in Kürze gemeldet, enthält das vom Ministerium des Innern ausgearbeitete Projekt eine Reihe von einschränkenden Bestimmungen für den Erwerb und Besitz von Immobilien seitens d e u t s c h e r und ö s t e r r e i c h i s c h e r R e i c h s a n g e h ö r i g e n. Wie die Rnsk. Sslowo ergänzend zu entnehmen, soll sich das für solche Personen geltende Verbot des Immobilienbesitzes außerhalb der Städte auf folgende Gouvernements beziehen: Petrograd, E s t l a n d, K u r l a n d, L i v l a n d, Kowno, die 10 Gouvernements P o l e n s, Wolhynien, Podolien, Bessarabien, Chersson und Taurien, das Don- und Kubangebiet, das Schwarzmeergouvernement, Kutais und Batum, d.h. auf die an der Ostsee, dem Schwarzen und dem Asow-Meer belegenen und an diese grenzenden Gouvernements. Ferner soll Personen ausländischer Abstammung, die aus dem deutschen und österreichischen Untertanenverbande in den russischen übergegangen sind, sowie ihrer Deszendenz in männlicher Linie verboten werden, Immobilien in ihrem Besitze zu halten, die nach dem 1. Juni 1870 erworben worden sind, d.h. seit dem Erlaß des deutschen Gesetzes über die doppelte Untertanenschaft. Denselben Personen soll es auch verboten sein, Immobilien zu mieten oder zu pachten, sowie sie zu verwalten. Die neuen einschränkenden Regeln beziehen sich nicht auf den e i n g e b o r e n e n A d e l d e r O s t s e e p r o v i n z e n, ebenso wenig auch auf die russischen Untertanen auswärtiger Herkunft, die s l a w i s c h e r Nationalität und von Geburt o r t h o d o x e n Glaubens sind, sowie diejenigen, die selbst oder in der Person ihrer gesetzlichen Rechtsnachfolger an den K ä m - p f e n d e r r u s s i s c h e n A r m e e gegen den Feind teilgenommen haben. Die Liquidation Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 188
189 des deutschen Grundbesitzes soll im Laufe mehrerer Monate auf dem Wege der Z w a n g s e n t - e i g n u n g gegen eine g e r e c h t e V e r g ü t u n g durchgeführt werden. Libausche Zeitung 15. November 1914 Petrograd. Montag hat, wie die Retsch berichtet, unter dem Vorsitz des Justizministers die beschlussfassende Sitzung der interressortlichen Kommission zur Begutachtung der Gesetzesvorlage über die Liquidation des ausländischen Grundbesitzes in einer Reihe von Gouvernements stattgehabt. Die Kommission nahm die Vorlage mit Ausnahme desjenigen Teiles an, der eine zweimonatliche Frist für die Enteignung der Immobilie vorsieht. Die Kommission beantragte diese Frist für Personen, die gegenwärtig Untertanen Deutschlands, Oesterreich- Ungarns und der Türkei sind, auf 6 Monate zu verlängern, und für die Personen die nach dem 31. Dezember 1870 aus der Untertanenschaft genannter Staaten ausgeschiedene sind, auf 2 Jahre. Rigasche Zeitung 10.Januar 1915 Kiew. Herr R e n n i k o w von der Now. Wremja hat sich jetzt aufgemacht, um Leben und Taten der d e u t s c h e n K o l o n i s t e n im Südwestgebiet und Südrußland zu studieren und zu beschreiben. Unterwegs hat er in Kiew Halt gemacht und dort bereits in Universitätskreisen, in Handel und Wandel gefahrdrohende Anzeichen der deutschen Uebermacht entdeckt, wovon er in der Now. Wr. unter dem Gesamttitel Der Ring der Nibelungen zu fabulieren begonnen hat. Rigasche Zeitung 2. Februar 1915 Tambow. Ausgewiesene Kolonisten. Im Laufe des Januar-Monats sind ins S a r a t o w s c h e und A s t r a c h a n s c h e Gouvernement d e u t s c h e K o l o n i s t e n gezogen, welche aus den westlichen Gouvernements ausgewiesen sind. Rigasche Zeitung 10. Februar 1915 Rowno, 6. Februar. Allein im Kreise Rowno müssen nach dem Gesetz über die Liquidierung des deutschen Grundbesitzes gegen Dessjatinen Land d e u t s c h e r K o l o n i s t e n e n t e i g n e t werden. (Russk. Sslowo.) Rigasche Zeitung 14. Februar 1915 Shitomir. Nach dem Gesetz über die L i q u i d i e r u n g d e s d e u t s c h e n G r u n d- b e s i t z e s müssen in Wolhynien über Dessjätinen Land versteigert werden. Freihändig haben die Kolonisten bereits gegen 2000 Dessj. veräußert. (Retsch.) Rigasche Zeitung 24. Februar 1915 Warschau. (Now. Wremja). In Sachen der d e u t s c h e n K o l o n i s t e n werden demnächst folgende Maßnahmen ergriffen werden: sie sollen k e i n e s e l b s t ä n d i g e n Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 189
190 G e m e i n d e n mehr bilden, sondern den russischen Nachbargemeinden angegliedert werden; ferner soll eine Reihe von Gesetzentwürfen ausgearbeitet werden, die darauf abzielen, die A b s o n d e r u n g e n der Deutschen aufzuheben und die Interessen des deutschen Grundbesitzes den Interessen der russischen Bevölkerung unterzuordnen. Rigasche Zeitung 7. März 1915 Kiew. Hier passierte eine Partie von 760 gefangenen K o l o n i s t e n, die aus Polen, dem Nordwestgebiet und Wolhynien a u s g e w i e s e n worden sind. Aus G a l i z i e n sind 165 Juden eingetroffen, die nach den östlichen Gouvernements ausgewiesen sind. (Wetsch. Wr.) Rigasche Zeitung 7. März 1915 Eine Denkschrift A. W. Kriwoscheins, die dem Ministerrat zugegangen ist, behandelt, wie wir dem Russk. Wed. entnehmen, die A u f b e s s e r u n g des wirtschaftlichen Wohlstandes der B a u e r n, die nach dem Kriege aus den Reihen des Heeres heimkehren werden, namentlich auch eine weitergehende V e r s o r g u n g m i t L a n d. Zu diesem Zweck seien bereits Maßnahmen getroffen, um ein möglichst großes Areal von vorhandenem K r o n s l a n d zu parzellieren und die betr. Grundstücke hinsichtlich der Versorgung mit Wasser, Trockenlegung, der Festlegung von Sandflächen u. dgl. in einen besseren Zustand zu bringen, ferner die Organisation der Heimarbeit für Krieger, die für den Ackerbau untauglich geworden sind, in die Wege zu leiten, und endlich auch rechtzeitig in Asien Ländereien für die Ansiedelung der aus dem Kriege zurückgekehrten einzurichten. Doch würde es an dem vorhandenen Kronsland nicht langen, um die Bedürfnisse zu befriedigen und daher müßten sowohl der bereits im Besitz der B a u e r n b a n k befindlichen Landfonds, als auch die Ländereien, die auf Grund des neuen Gesetzes vom 2. Februar 1915 über die L i q u i d a t i o n des d e u t s c h e n G r u n d b e s i t z e s, der Regierung anheimfallen könnten, ins Auge gefasst werden. Die Bauernbank sollte daher den Verkauf ihres Landfonds bis zum Schluß des Krieges temporär einstellen. Ihrerseits hat die infolge des Liquidationsgesetzes entstandene Notwendigkeit, in kurzer Zeit, d.h. im Laufe von 6 18 Monaten, ein bedeutendes Landareal zum Verkauf zu stellen, in den betr. Gebieten seitens der bäuerlichen Käufer eine verstärkte Nachfrage nach Kredit hervorgerufen und daher müßten die Kreditoperationen der Bauernbank bedeutend erweitert [werden] und gleichzeitig auch der Erwerb von Land für Rechnung der Bank zur Vergrößerung ihrer Landfonds. Da es sich nun um den Ankauf von zirka 3 Millionen Dessjatinen im Werte von Millionen Rbl. handeln würde, so wäre dies für die Bank, namentlich in diesem pekuniär beengten Zeiten, sehr schwierig und die Beschaffung von Mitteln auf dem üblichen Wege, durch Emmission der Pfandscheine der Bank, würde kaum zweckmäßig sein. Daher sollte man zu der Maßnahme greifen, die bereits im Revolutionsjahr 1905 angewandt worden sei, nämlich zur Emission von auf den N a m e n lautenden P f a n d s c h e i n e n, die nicht auf den Markt gelangten und besondere Tilgungsbedingungen genießen. Derselbe Modus könnte auch jetzt zur Anwendung gelangen, wobei die Auszahlung des Kapitals an die Verkäufer auf Grund solcher Pfandscheine bis zu einem beliebigen Termin, d.h. bis zu besseren Zeiten, aufgeschoben und nicht mit einem Male, sondern zu Teilen, erfolgen könnte. Der Ministerrat hat sich nun dahin ausgesprochen, die Frage zwecks detaillierter Beratung an zwei Kommissionen, eine beim Ministerium der Landwirtschaft und eine am Justizministerium, zu überweisen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 190
191 Rigasche Zeitung 16. März 1915 Petrograd. Das Ministerium des Innern projektiert, wie der Retsch. gemeldet wird, den örtlichen Administrativbehörden eine Reihe von Maßnahmen vorzuschlagen, um die d e u t s c h e n K o- l o n i s t e n unter die benachbarten Gemeinden mit rein russischer Bevölkerung zu verteilen, damit sie nicht wie bisher abgetrennte Dorf- und Gemeindegebiete bilden. Es soll auch eine Reihe von Gesetzvorlagen ausgearbeitet werden, die dasselbe Ziel verfolgen: die Vernichtung dieser isolierten Besitzstücke, die jetzt die deutschen Kolonien darstellen. Rigasche Zeitung 31. März 1915 Die Aussiedelung der d e u t s c h e n K o l o n i s t e n aus W o l h y n i e n hält an; über Kiew passierten dieser Tage etwa 15 Familien, insgesamt 100 Personen. Sie werden nach Ostrußland befördert. (Now. Wr.) Rigasche Zeitung 4. April 1915 Wolhynien. Z u r K o l o n i s t e n f r a g e berichtet die Russk. Ssl., daß die Gouvernementsverwaltung von Wolhynien im Ministerium des Innern die Frage angeregt habe, wie mit den Kolonisten zu verfahren sei, die sich w e i g e r n sollten, das Gouvernement zu verlassen und ihren Grundbesitz f r e i w i l l i g zu liquidieren. Das Ministerium hat daraufhin erklärt, daß solche Kolonisten unbedingt auszuweisen sind und die Liquidation unverzüglich und ohne jede Nachsicht zu vollstrecken sei. Rigasche Zeitung 9. April 1915 Gegen die deutschen Kolonisten erhebt die Wetsch. Wremja folgende Anschuldigungen: Erstens bemühten sie sich ihre der L i q u i d a t i o n unterliegenden Ländereien zu einem möglichst h o h e n Preise loszuschlagen, und zweitens hätten sie beschlossen, die zu liquidierenden Felder n i c h t z u b e s ä e n, wobei sie sich darauf beriefen, daß der Liquidationstermin im Sommer ablaufe, sodaß die Ernte dem Käufer zufallen würde. In diesem Plan der Kolonisten erblickt die Wetsch. Wr. eine große Gefahr für den Staat und schreibt: Falls die Kolonisten ihre Felder tatsächlich nicht bestellen sollten, so sollte ein solches Vorgehen als L a n- d e s v e r r a t qualifiziert und kriegsrechtlich geahndet werden; ferner sollte alles Kolonistenland den im Kriege militäruntüchtig gewordenen Kriegern zum Eigentum übergeben werden. Rigasche Zeitung 8. Juli 1915 Kiew. Es hat die A u s s i e d e l u n g sämtlicher d e u t s c h e r K o l o n i s t e n aus dem Gouvernement Wolhynien begonnen, die zum 10. Juli beendet sein muß. (Now. Wr.) Rigasche Zeitung 9. Juli 1915 Wolhynien. Die A u s s i e d e l u n g der d e u t s c h e n K o l o n i s t e n ist auf Anregung des Gouverneurs Melnikow in Zusammenhang mit der Annäherung der feindlichen Armeen zu den Grenzen des Gouvernements erfolgt. Es werden nicht nur alle Erbgrundzinsler, sondern überhaupt Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 191
192 alle Kolonisten russischer Untertanschaft aus den Kreisen Rowno, Dubno, Kremenez, Kowel u.a. ausgesiedelt, allen zuvor die in der Nähe der Bahnen Ansässigen. Sie werden über Kiew nach Sibirien abgeschoben; auf den Etappenpunkten sind Verpflegungsstätten organisiert. Auch aus dem Gouv. K i e w sollen alle deutschen Kolonisten a u s g e w i e s e n werden. Rigasche Zeitung 14. Juli 1915 Kiew. Zur Liquidation des deutschen Grundbesitzes. Die Now. Wr. beklagt sich in einer Kiewer Korrespondenz darüber, daß der Umfang der Liquidation, wie es sich jetzt, bei der praktischen Durchführung des Gesetzes vom 2. Februar 1015 erweise, ein verhältnismäßig recht geringfügiger sein werde. So unterlägen im Gouvernement W o l h y n i e n von deutschen Immobilien mit einem Areal von Dessjatinen nur etwa 8600 Immobilien mit insgesamt R. der Liquidierung, und es würden also fast vier Fünftel des deutschen Grundbesitzes intakt bleiben. Denn auch in der 150 Werstzone, in den Grenzen derer liquidiert werde, hätten sich eine Menge von deutschen Kolonisten erwiesen, die vor dem 1. Januar 1880 russische Untertanen geworden und daher der Liquidation nicht unterliegen. Außerdem beziehe sich das Gesetz auf die s t ä d t i s c h e n Immobilien nicht und in den Städten sei der deutsche Grundbesitz kollossal angewachsen. In Kiew allein befänden sich etwa 300 Häuser in deutschem Besitz. Von den Deutschen, die im Südwestgebiet ansässig seien, lebten in den Städten und Flecken über Personen als Immobilienbesitzer oder Pächter. Auch die ausgewiesenen Deutschen würden nur ihren Wohnort wechseln und sich als Besitzer oder Pächter in anderen russischen Flecken und Städten ansiedeln, so daß das neue Gesetz jedenfalls große Lücken aufweise. Rigasche Zeitung 15. Juli 1915 Zur Liquidation des deutschen Grundbesitzes berichtet die pta.: Petrograd, 14. Juli. Die interressortliche Konferenz unter dem Vorsitz des Gehilfen des Justizministers, Iljuschenko, auf der die im Zusammenhang mit der Anwendung des Gesetzes vom 2. Februar 1915 (über den Grundbesitz und die Landnutzung im Russischen Reiche seitens der Untertanen der mit Rußland kriegführenden Mächte und deren Abkommen) entstandenen Fragen beraten wurden, hat sich bei der Prüfung der Frage, ob sich die Geltung des Gesetzes vom 2. Februar auch auf solche aus den feindlichen Staaten kommende Personen erstreckt, die s l a- w i s c h e r Nationalität sind und die erst nach dem Erlaß des Gesetzes vom 2. Februar russische Untertanen geworden sind, für eine Entscheidung dieser Frage in v e r n e i n e n d e m Sinne ausgesprochen. In Bezug auf die Frage, ob sich die Geltung des Gesetzes vom 2. Februar auf den Besitz der d e u t s c h e n K o l o n i s t e n erstreckt, die sich innerhalb der Prohibitionszone befinden, falls die Eigentümer des betreffenden Besitzes nicht zu einer Kolonistengemeinde, sondern zu irgend einer Bauerngemeinde des Reiches angeschrieben sind, erkannte die Konferenz, daß solche Besitztümer der Wirksamkeit der Punkte в und г des Artikels 3 des Gesetzes über das Verbot des Landbesitzes und der Landnutzung seitens österreichischer, ungarischer und deutscher Abstammung unterliegen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 192
193 Rigasche Zeitung 18. Juli 1915 Petrograd. In S a c h e n d e r A u s s i e d l u n g d e r B e v ö l k e r u n g vom Kriegsschauplatz ist, wie der R. W. berichtet, beim Ministerium des Innern eine besondere Konferenz zusammengetreten. Es ist beabsichtigt, zwei Sonderbevollmächtigte, den einen für die nordwestliche, den anderen für die südwestliche Front zu bestellen, deren Aufgabe es sein soll, nicht nur die Aussiedlung, sondern auch die Ansiedlung am Bestimmungsort zu leiten. Nächste Aufgabe der Konferenz soll die Ausarbeitung der Instruktionen für die Sonderbevollmächtigten sein. Diesen soll der Gedanke zugrunde liegen, daß der Staat, indem er einen Teil der Bevölkerung zwangsweise aussiedelt, auch verpflichtet ist, für das weitere Schicksal der Ausgesiedelten zu sorgen. Es ist möglich, daß den Sonderbevollmächtigten auch die Verpflichtung auferlegt werden wird, gegebenen Falls die Vernichtung von Vorräten und Saaten und die Fortschaffung solcher Gegenstände zu übernehmen die dem Feinde nützen könnten. Auf der ersten Sitzung der Konferenz ist bereits die Frage aufgetaucht, was mit den ausgesiedelten J u d e n zu geschehen habe. Zur Fürsorge für die Ausgesiedelten sollen die Städte und Landschaften herangezogen werden, wozu natürlich ein besonderer Kredit erforderlich ist. Die Elaborate der Konferenz sollen dem Minister des Innern vorgestellt werden, von dem die weitere Direktive dieser Angelegenheit abhängen wird. Als Kandidaten für die Posten der Sonderbevollmächtigten werden die Mitglieder des Reichsrats Snbischaninow und Fürst Urassow genannt. - Rigasche Zeitung 18. Juli 1915 Shitomir. In den ersten Tagen des Juli hat die A u s s i e d e l u n g der d e u t s c h e n K o- l o n i s t e n begonnen. Aus den Kreisen Rowno, Kowel u.a. sind bereits über 150 Partien abgeschoben worden. Die großen Kolonien wie Kamenka, Feodorowka, Bojarka, Kaisersdorf u.a. bieten den Anblick von Jahrmärkten: der gesamte Besitzstand wird ausgeführt Vieh, Hausrat, Getreide, Maschinen; Das meiste wird von den Landschaften aufgekauft. Der Schlußtermin der Evakuierung ist der 20. Juli. Rigasche Zeitung 31. Juli 1915 Moskau. 5 0 d e u t s c h e K o l o n i s t e n aus der Zahl der wohlhabenderen und begüterteren Einwohner sind in S h i t o m i r, auf Verfügung der Militärobrigkeit, arretiert und in Haftlokalen untergebracht worden. Die Freilassung wird erst n a c h A b s c h l u ß d e r E v a- k u a t i o n d e r K o l o n i s t e n erfolgen. (Russk. SSl). Rigasche Zeitung 6. August 1915 Petrograd. Der V e r w e s e r d e s M i n i s t e r i u m s d e s I n n e r n hat in die Gesetzgebenden Institutionen als dringlich ein Gesetzesprojekt betreffs der Sicherstellung des Schicksals der Flüchtlinge eingebracht. Laut Vereinbarung des Ministeriums der Finanzen und des Wegebaues ist die kostenlose Fahrt der Flüchtlinge, falls diese in den Ansiedelungsorten keinen Erwerb finden und in andere Gegenden ziehen, gestattet. ( ) Der Minister des Wegebaues hat die Einrichtung von Verpflegungspunkten hauptsächlich für die Flüchtlinge auf den Eisenbahnen und inneren Wasserstraßen gestattet. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 193
194 Rigasche Zeitung 6. August 1915 Kiew. 3. August. In den Kreisen Owrutsch und Nowograd-Wolhynsk sind die örtlichen Behörden, nach der Russk. Sslowo, daran gegangen, die g a l i z i s c h e n F l ü c h t l i n g e a u f d e n L ä n d e r e i e n d e r a u s g e s i e d e l t e n d e u t s c h e n K o l o n i s t e n u n t e r z u - b r i n g e n. Rigasche Zeitung 11. August 1915 Kiew. Partien deutscher Kolonisten treffen, den Birsh. Wed. zufolge. täglich mit der Eisenbahn und per Achse ein; die Fuhren bilden ein Biwak am Dnjeprufer, am Podol. In der letzten Woche sind durch Kiew 6000 Kolonisten gekommen, durch den Kiewer Kreis, an Kiew vorbei, sind auf Fuhren 9000 Kolonisten durchgezogen. Die weitere Übersiedlung der Kolonisten nach den Gouvernements Tschernigow und Poltawa ist eingestellt worden, die Kolonisten werden in weiter entfernte Gouvernements geschickt. Arbeitsfähige Flüchtlinge werden in die Bergwerke des Donez-Gebiets abgefertigt und die flüchtenden Juden ins Gouvernement Woronesh. Der Zustrom von Flüchtlingen wächst an, Sonnabend sind in Kiew über 3000 eingetroffen. Rigasche Zeitung 15. August 1915 Shitomir. Die Gouvernementsbehörde für Bauernangelegenheiten beschloß, a l l e m i t d e u t s c h e n N a m e n u m z u b e n e n n e n. D ö r f e r (p.t.a.) Libausche Zeitung 22. November 1915 Russisches Elend. Utro Rossij bringt folgende Drahtmeldung aus Kiew: Im Laufe der letzten Woche haben über F l ü c h t l i n g e K i e w p a s s i e r t, hauptsächlich aus der Gegend von Dubno und Kowel. Die Flüchtlinge erzählen, daß viele Bauern unterwegs in den Wäldern an Krankheiten und vor Hunger gestorben sind. Einzelne Trupps, die beim Aufbruch aus der Heimat 200 Mann zählten, weisen nur noch 40 auf. Russkoje Slowo vom berichtet: Die Semstwoverwaltung von Slatonst (Ural) bittet um Maßnahmen zur Abhilfe des Transportes der Flüchtlinge in ungeheizten Wagen. Um nicht zu erfrieren, machen sie in den Wagen Lagerfeuer an, auf die Gefahr des Verbrennens hingewiesen, erklären sie, wie sie umkämen, sei gleichgültig. Aus jedem Zuge werden erstarrte Kinderleichen entfernt. Viele, die den Transport in den ungeheizten Wagen nicht mehr aushalten können, durchirren die Wälder. Libausche Zeitung 8. Dezember 1915 Die Deutschen in Rußland. U.d.a. Das russische G e s e t z ü b e r d e n d e u t s c h e n G r u n d b e s i t z beschäftigte den russischen Ministerrat, so berichten russische Blätter in jüngster Zeit sehr eingehend. Es wurde nach lebhaftem Meinungsaustausch beschlossen, auch deutsches Anteilland der Enteignung zu unterwerfen. Dann einigte sich der Ministerrat darauf, daß Nachkommen von Deutschen, die nach 1880 russische Untertanen geworden sind, wie deutsche Untertanen zu Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 194
195 behandeln seien, mit Ausnahme von Deutschen und Oesterreichern s l a w i s c h e r Abstammung. Ferner wird die Wirkung des Gesetzes in den Gouvernements, die ich ihm aufgezählt sind, auf das ganze Gouvernement ausgedehnt, Ausnahme einzelner Kreise werden nicht mehr zugelassen. Außerdem werden noch die Gouvernements Kowno, Pskow und Witebsk mit zu den Gegenden gezogen, für die das Gesetz gilt. Chwostow (der Innenminister) weist darauf hin, daß bei der Verteilung der enteigneten Länder vor allem Kriegsteilnehmer zu bevorzugen sind. Wenn die Länder nicht bis zum angegebenen Termin zu verkaufen sind, sollen sie der Bauernbank zur Verfügung gestellt werden. Libausche Zeitung 11. Dezember 1915 Die Liquidation deutschen Landbesitzes im heiligen Rußland. Die Nowoje Wremja stellt fest, daß der letzte Beschluß des russischen Ministerrats, d i e U m- a r b e i t u n g d e s E n t e i g n u n g s g e s e t z e s vom 2. Februar betreffend, einen Schritt vorwärts bedeutet. Erstens ist die Fläche des Liquidationsgebietes erheblich vergrößert durch das Hinzukommen der Gouvernements Kiew, Witebsk, Pskow, Nowgorod und des ganzen Steppengebiets. Fallen gelassen ist ferner die 150 und 100 Werst Zone von der Landesgrenze, so daß die Gouvernements nunmehr vollständig und nicht wie bisher nur zum kleinen Teil von der Liquidation ergriffen werden. Die Liquidation wird dabei auf ganz Finnland und auf den ganzen Kaukasus ausgedehnt werden. Zweitens werden auch die Schenkungsländereien der deutschen Kolonisten vom Gesetz betroffen, die vor Alters so unverdient freigebig von der russischen Regierung an sie verliehen wurden. D i e G e r e c h t i g k e i t verlangt, daß diese Geschenke den undankbaren Beschenkten wieder abgenommen werden. Im Uebrigen sollen sie nicht einmal abgenommen, sondern nur abgekauft werden. Drittens wird das langsame Versteigerungsverfahren durch zweckentsprechende Sonderbestimmungen beschleunigt werden. Viertens erhält durch ihr Vorkaufsrecht die Bauern-Agrarbank die Möglichkeit, fiktive Käufer und käuflich getriebene Bodenpreise zu bekämpfen. Fünftens werden alle Liquidations fristen abgekürzt und in dieser Beziehung die Russen mit doppelter Untertanenschaft den Deutsch-Oesterreichern mit einfacher Untertanenschaft gleichgestellt. Das Gesetz wird nicht erst im Jahre 1917 durchgeführt werden, sondern wird für die Betroffenen sehr bald zu einer unangenehmen Wirklichkeit werden. Diese höchst erfreulichen Beschlüsse weisen jedoch zwei Aber auf: erstens sind die Beschlüsse des Ministerrates noch kein Gesetz und zweitens sind drei Minister in der Sitzung bei besonderer Meinung verblieben und haben die Aufnahme ihrer besonderen, ablehnenden Meinung ins Protokoll verlangt. Diese drei Minister sind: Der Unterstaatssekretär Rittich vom Landwirtschaftsministerium, der Reichskontrolleur Charitonow und der Minister des Aeußern Sasonow. Die Haltung dieser drei Minister nennt die Nowoje Wremja seltsam und schließt daraus, daß die Frage der deutschen Enteignung zwar endlich vom Flecke gekommen, aber vom gewünschten Ziele noch weit entfernt ist. Libausche Zeitung 1. Februar 1916 o.st. Die Retsch meldet: Nach Mitteilungen, die im Eisenbahnministerium eingelaufen sind, befindet sich auf den Stationen der Südwestbahn augenblicklich e i n e g r o ß e A n z a h l d e u t s c h e r K o l o n i s t e n, d i e n a c h d e n G o u v e r n e m e n t s S a m a r a, O r e n b u r g u n d d e n w e i t e r i m O s t e n g e l e g e n e n G e b i e t e n v e r- s c h i c k t w e r d e n s o l l e n. Die Zurückhaltung der Kolonisten auf den Stationen ist darauf Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 195
196 zurückzuführen, daß eine S t a u u n g d e r B a h n f r a c h t e n auf den Strecken eingetreten ist. Es handelt sich diesmal um etwa P e r s o n e n. Die Eisenbahnverwaltung hat nunmehr angeordnet, daß sie in kürzester Zeit an ihren Bestimmungsort, (d.h. nach Sibirien, d. Red.) zu schaffen sind. Libausche Zeitung 12. April 1916 Deutsche Not. o.st. Wie die Russkija Wjedomosti mitteilen, beschäftigte sich der russische Ministerrat in seiner Sitzung vom 15. März wiederum mit einem Antrage des Landwirtschaftsministers Naumow, betreffend die Ergreifung von Maßnahmen gegenüber den ungünstigen Folgen, welche der diesjährigen Ernte aus der L i q u i d i e r u n g d e s d e u t- s c h e n G r u n d b e s i t z e s drohen. Der Minister weist darauf hin, daß die vorbereitenden Maßnahmen für die Liquidierung des deutschen Grundbesitzes sehr schädliche Folgen hinsichtlich der bevorstehenden Feldarbeiten gezeitigt haben. Die deutschen K o l o n i s t e n, deren Land für die Liquidierung vorgemerkt ist, treffen fast gar keine Anstalten zur Aussaat und Bestellung der Felder. Zwecks Regelung der so geschaffenen Lage hält es der Minister daher für zweckmäßig, den deutschen Kolonisten, die ihre Felder bestellt haben, die Möglichkeit zu sichern, die ganze Ernte unabhängig von den Liquidierungsterminen einzuholen. Für jene Kolonisten hingegen, welche sich weigern sollten, ihre Felder zu bestellen, fordert der Landwirtschaftsminister Strafenin Gestalt des Abzugs des Werts der verlorenen Ernte, berechnet für den Durchschnittsertrag ihres Grund und Bodens. Der Ministerrat billigte den Antrag des Landwirtschaftsministers. Daß es sich in Rußland aber nicht etwa um eine Sinnesänderung gegenüber den Deutschen im Lande und um ein Nachgeben in der Frage der Aussiedlung handelt, beweist klipp und klar die Resolution, die in der Duma am 21. März auf Antrag des Blocks gefaßt wurde. Hier spricht die Duma zum Schluß das Verlangen aus, es sollen vorbeugende Maaßregeln getroffen werden, damit die Ländereien, die Eigentümern deutscher Herkunft gehören, als Landreserve zur Ueberlassung an bäuerliche Kriegsteilnehmer verbleiben. Nur die bitterste Not zwingt also augenblicklich dazu, einen Teil der deutschen Bauern auf ihrem Besitz zu belassen, damit ihre Felder bestellt werden können, aber hat denn der Mohr seine Schuldigkeit getan, so kann er gehen, und in die blühenden deutschen Siedlungen wird der großrussische Bauer einziehen. U n d w a s g e s c h i e h t d a n n m i t u n s e r e n v e r- t r i e b e n e n S t a m m e s g e n o s s e n? Libausche Zeitung 10. Mai 1916 Unnütze Menschen. Unter dieser Ueberschrift bringen die russischen Zeitungen folgende Notiz: In Kostroma ist ein großer Schub d e u t s c h e r K o l o n i s t e n, die aus Wolhynien ausgesiedelt wurden, im ganzen 1600 Mann, eingetroffen. Der Versuch, sie in der Stadt unterzubringen, stieß auf unüberwindliche Hindernisse. Es erwies sich, daß keine freien Räume vorhanden waren, und die örtliche Bevölkerung ohne dies an großer Lebensmittelnot leidet. Der Gouverneur erklärte, daß er es unter diesen Umständen ablehne, die eingetroffenen Kolonisten unterzubringen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 196
197 Libausche Zeitung 31. August 1916 Briefe aus Rußland (Auszug) ( ) Trotz der Aussicht, geplündert zu werden, wollten sogar die Letten nicht fliehen, da sie wußten, was der Flüchtlinge im Innern des Reiches harrt. Denn infolge der allgemeinen Kopflosigkeit sind die Flüchtlinge mit ausgesiedelten Kolonisten verwechselt worden und trotz eifrigen Protestes, in langen Zügen nach Sibirien befördert worden: Ihr könnt ja mit eigenen Mitteln zurückkehren, wenn Ihr wollt. Die Kolonisten sind übrigens manchmal in plombierten Wagen fortgeschickt worden, die erst am Bestimmungsort geöffnet wurden, z.b. von Wolhynien nach Astrachan. Ein Augenzeuge (baltischer Reserveoffizier) erzählte mir, daß auf einer Station der Schaffner gefleht habe, man solle den Wagen öffnen, er halte das Geschrei nicht mehr aus. Sie haben dann Tote und Tobsüchtige herausgeholt und ein paar Gesunde, die aber ganz stumpfsinnig geworden waren. Libausche Zeitung 2. November 1916 Die Nowoje Wremja meldet, daß in Tomsk in großen Gruppen aus Südwestrußland a u s g e- s i e d e l t e d e u t s c h e K o l o n i s t e n eintreffen. Die erste Gruppe, 600 Personen, wurden in Kolywan untergebracht. Im ganzen werden im Gouvernement Tomsk Kolonisten angesiedelt werden. Libausche Zeitung 10. April 1917 Aufgehoben. Berlin, 8. April. Die Bossische Zeitung meldet: Laut Rußkoje Slowo hat die provisorische Regierung die vom vorigen Regime erlassenen gesetzlichen Bestimmungen über die Enteignung des Besitzes russischer Untertanen deutscher Abstammung aufgehoben. Rigasche Rundschau 29. März 1922 Der polnische Staat hat für das laufende Jahr 1,2 Milliarden polische Mark für Zwecke der Rückwanderung ausgeworfen. Hauptsächlich sollen diese Mittel zur Förderung des Gesundheitswesens an der Grenze verwendet werden. Zu den Etappenpunkten B a r a n o- w i t s c h i und R o w n o sollen Hilfspunkte in B i a l y s t o k und D o r o g o b u s h eröffnet werden. Deslgeichen werden die Hospitäler in Baranowitschi, Rowno, Brest, Luzk, Grodno, Siedlec und Warschau erweitert, um speziell kranke Rückwanderer aufzunehmen. Rigasche Rundschau 10. Juli 1926 Deutsche Not in Wolhynien. Chauvinistische Willkür der Polen. Die deutsche Fraktion des polnischen Sejm hat eine Abordnung nach Wolhynien entsandt, um die zahlreichen Klagen zu untersuchen, die von den dortigen deutschen Kolonisten eingegangen sind. Die Abordnung hat folgende erschütternde Tatsachen festgestellt: Vor ungefähr 50 Jahren wurden viele Deutsche nach Wolhynien gerufen und dort auf Pachtland angesiedelt. Sie haben die dortige sumpfige und waldige Gegend in jahrelanger mühevoller Arbeit zu einem Musterland umgestaltet. Nun kam im Jahre 1924 ein Gesetz zustande, nach dem die Pächter unter gewissen Bedingungen die Pacht- und Zinsländer ankaufen konnten. Zum Ankauf Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 197
198 berechtigt waren aber nur solche Pächter, die das polnische Staatsbürgerrecht besaßen. Nun bemühen sich die polnischen Behörden und Gutsbesitzer, den Kolonisten das polnische Staatsbürgerrecht abzusprechen. Selbst solche, die seit drei Geschlechtern auf polnischem Gebiete wohnen, deren Söhne sich im Heeresdienst befinden, oder als Soldaten der polnischen Armee gefallen sind, rangieren noch als Ausländer, und mit tausend S c h i k a- n e n und b ü r o- k r a t i s c h e n U m s t ä n d l i c h k e i t e n wird ihnen der Nachweis ihrer polnischen Staatsangehörigkeit unmöglich gemacht. Ferner hatte der deutschfeindliche frühere Vizeminister Szulski eine Verfügung erlassen, wonach die polnische Staatszugehörigkeit von der Bedingung abhängig gemacht wird, daß der Pächter P o l e n n i c h t l ä n g e r a l s e i n J a h r v e r- l a s s e n d a r f. Während des Weltkrieges aber wurden diese deutschen Ansiedler von russischer Seite als Verräter verleumdet, ihr Land wurde vollständig verwüstet, ihre Gebäude wurden eingeäschert und sie selbst i n d a s I n n e r e R u ß l a n d s v e r s c h l e p p t, von wo sie erst mehrere Jahre nach Beendigung des Krieges zurückkommen konnten. Die polnischen Behörden nutzten dieses Unglück aus und behaupteten, daß diese Deutschen den Aufenthalt in Polen länger als ein Jahr unterbrochen hätten. Sie sprachen ihnen daher das Recht ab, weiter auf ihren Ländereien zu bleiben, und nahmen die Vertreibung von Tausenden von d e u t s c h e n P ä c h t e r n rücksichtslos vor. Es trifft dies die Pächter umso schwerer, als sie nach ihrer Rückkehr unter den größten Entbehrungen das verwüstete Land und die Baulichkeiten wieder in musterhaften Zustand gebracht haben. Nach den Schilderungen selbst polnischer Beobachter unterschieden sich die deutschen Siedlungen durch ihre Sorgfalt und die Höhe ihrer Kultur vorteilhaft von den übrigen Ländereien Polens. Irgendwelche Einsprüche vor Gericht haben keine Aussicht auf Erfolg, und die Gerichtsvollzieher gehen rücksichtslos vor. Man verschleudert die Gebäude und das Inventar, ja sogar die Kleider, und rechnet den Erlös auf die sogenannten E x e k u t i o n s k o s t e n an, so daß die deutschen Kolonisten o h n e j e g l i c h e M i t t e l h i n a u s g e s t o ß e n werden. Zur Schulfrage wurde festgestellt, daß sich in Wolhynien k e i n e e i n z i g e s t a a t l i c h e S c h u l e m i t d e u t s c h e r U n t e r r i c h t s s p r a c h e mehr befindet. Die deutschen Kinder gehen e n t w e d e r i n p o l n i s c h e S c h u l e n o d e r genießen g a r k e i- n e n U n t e r r i c h t. Die wenigen p r i v a t e n K i r c h e n s c h u l e n (Kantorate) stehen nicht auf der Höhe und sind infolge der allgemeinen Verarmung der Gemeinden i n i h r e r E x i s t e n z s t a r k b e d r o h t. Die einzigen Männer, an die sich heute die evangelischen Deutschen halten, sind die deutschen Pfarrer mit Herrn Pastor Kleindienst in Luzk an der Spitze. Diese Herren sind aber machtlos und besitzen nicht die Mittel zu einer ausgiebigen Hilfe für ihre leidenden Glaubensgenossen. Nach Kenntnisnahme dieses Berichtes hat die F r a k t i o n b e s c h l o s s e n, u n v e r z ü g- l i c h d i e e n e r g i s c h s t e n S c h r i t t e b e i m M i n i s t e r p r ä s i d e n t e n, J u s t i z - u n d I n n e n m i n i s t e r zu tun, um dem Elend der wolhynischen Deutschen ein Ende zu machen. Eine günstige Erledigung dieser Frage macht die Deutsche Vereinigung im Sejm und Senat zu einer ihrer wichtigsten Bedingungen, von deren Berücksichtigung sie ihre Stellungnahme zu der Regierung abhängig macht. Gleichzeitig hat die Vereinigung beschlossen, eine H i l f s - u n d B e r a t u n g s s t e l l e für die wolhynischen Deutschen zu eröffnen, da dies jetzt von gewissenlosen Rechtsanwälten oft ausgenutzt werden und durch Unwissenheit und verspätete Reklamationen in die schwierigste Lage kommen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 198
199 Rigasche Rundschau 9. August 1927 Bedrückung der Deutschen in Wolhynien. Die polnische Regierung hat in zwanzig deutschen Kolonien in Sidawka, Kreis Luck, den Kolonisten ganz unvermittelt das durch sie bewirtschaftete Land staatlichen Eigentums zum 1. August 1927 gekündigt und sie aufgefordert, das Land samt ihrer Familie sofort zu verlassen. Der Beamte, der die Kündigung des Landamtes überbrachte, drohte, die Leute mit Militär und Polizei von ihren Kolonien zu vertreiben. Die Sidawker sitzen seit 65 Jahren auf dem Lande, das sie durch schwerste Arbeit aus einem unrentablen Wald- und Sumpfgebiet in den gegenwärtigen ertragsfähigen Zustand gebracht haben. Der Pachtvertrag mit dem früheren russischen Eigentümer ist 1923 abgelaufen wurde das Land vom polnischen Staat als Eigentum übernommen, dem die Kolonisten seit dieser Zeit den Zins auch ordentlich bezahlt haben. Jetzt setzt sich die Regierung über alle Bestimmungen des Kleinpächterschutzgesetzes einfach hinweg, nur weil es sich um deutsche Kolonisten handelt. Mitten während der Erntearbeit mutete man den Landwirten zu, den bebauten Boden zu verlassen. Die deutschen Wolhynier haben gegen die Maßnahmen des Lucker Landamtes Einspruch erhoben, und diesem wurde glücklicherweise aufschiebende Wirkung zuerkannt. Hoffentlich handelt es sich dabei nicht nur um einen Aufschub, sondern um eine Rückgängigmachung des Unrechts, das man den deutschen Kolonisten antun will. Rigasche Rundschau 8. Februar 1929 [Zum Tod von Prof. Karl Lindemann: Auszug aus dem Nachruf von Carlo von Kügelgen] ( ) Die deutschen Blätter Rußlands, als eines der letzten die St. Petersburger Zeitung, wurden bis zum Schluß des Jahres 1914 totgemacht. Zugleich artete die Bedrückung der deutschen Bürger Rußlands in schreckliche Massenverfolgungen aus. Die Ausweisung der deutschen Kolonisten aus Wolhynien und den Gouvernements Kiew und Podolien, die etwa Deutsche in das Innere und östliche Rußland verstieß, raubte diesen Unglücklichen die gesamte Habe und vielen Kindern und Alten auch das Leben. Schlimmer, weil umfaßender, waren die sog. L i q u i d a t i o n s g e- s e t z e vom 2. Februar und 13. Dezember 1915, auf Grund deren den deutschen Kolonisten das Land enteignet und russischen Soldaten gegeben wurde. Hunderttausende deutcher Bürger sind durch diese Gesetze zu Bettlern gemacht worden. Prof. Lindemann hat schon Ende 1914, als der erste Entwurf des Liquidationsgesetzes erschien, den Kampf dagegen aufgenommen. Er hat bis 1917 allein drei Bücher gegen diese unerhörte Entrechtung pflichttreuer russischer Untertanen geschrieben, freilich ohne etwas zu erreichen. Wahrscheinlich wäre die ganze Millionenbevölkerung deutscher Kolonisten von Haus und Hof vertrieben worden, wenn nicht die 1916 eingesetzte besondere Kommission zur Bekämpfung der deutschen Gewaltherrschaft in Rußland selber zum Rückzug hätte blasen müssen. Nach ihrem Gutachten hätte eine wirklich durchgeführte Liquidation des ganzen deutschen Landbesitzes eine tiefgehende Erschütterung aller Wirtschaftsverhältnisse hervorgerufen. * ( ) *vgl hierzu die Meldung der Libauschen Zeitung vom : Demnach blieben im Gouvernement Taurien aufgrund der Vertreibung deutschstämmiger Siedler von Desjatinen unbestellt; der Ausfall an Getreide wurde auf 35 Mio Pud geschätzt. In Cherson soll der Ausfall an Wintersaat 16 % betragen haben. Im Gouvernement Samara stellte man aufgrund des Weggangs deutscher Siedler einen Rückgang der bestellten Flächen mit Wintersaat um 60 % fest. Für das Gouvernement Wolhynien wird die Zahl der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 199
200 ausgewiesenen deutschen Bauern mit angegeben, die eine Fläche von Desjatinen in Bewirtschaftung hatten, deren Neubesiedlung mit russischer Bevölkerung für die Bauernbanken sehr schwierig war. Riga am Sonntag 16. Oktober 1932 Polnischer Schlag gegen die deutsche Schule deutsche Kinder ohne Schule. Rowno, Die polnischen Behörden haben 80 deutschen Kantoren, die in den seit 80 bis 100 Jahren bestehenden Kantoratsschulen deutsche Kolonistenkinder unterrichten, wegen angeblich mangelnder Vorbildung, die Unterrichtserlaubnis entzogen. Dadurch bleiben 3000 deutsche Kinder ohne Schulen, da mangels anderer Schulen in der Gegend eine Umschulung nicht möglich ist. Libausche Zeitung 18. Juli 1936 (Auszug) Helsingors, 17. Juli. In den finnisch- und polnisch-russischen Grenzgebieten gehen zur Zeit wieder Massenvertreibungen von Finnen, Deutschen und Polen vor sich. ( ) Wie weiter aus der Sowjetunion gemeldet wird, ist den deutsch- und polnisch-stämmigen Bewohnern in den Kreisen Nowograd-Wolynsk, Jarunj und Drodsitzka, die sich an der polnisch-sowjetrussischen Grenze befinden, die Pässe abgenommen und die Weisung erteilt worden, sich in kürzester Frist zur Uebersiedlung nach Kasaktstan bereitzuhalten. Die Ausgewiesenen werden unter der Aufsicht der Miliz in Transportzügen verladen, wobei in jeden Wagen 80 bis 90 Personen hineingepfercht werden, so daß die Unglücklichen während der mehrere Tage dauernden Fahrt weder sitzen noch liegen können. Vier Transporte, bestehend aus 40 bis 50 Wagen, sind bereits in der Gegend von Karganda eingetroffen, wo die vertriebenen Familien einem ungewissen Schicksal entgegensehen. Rigasche Rundschau 20. Juni 1938 Die deutsche Bevölkerung Wolhyniens hat dem polnischen Bildungsminister eine Denkschrift übereicht, in welcher gegen die Schließung von fünf deutschen Privatschulen protestiert wird. Für die gegen wolhynischen Deutschen bestehen jetzt nur noch 27 Schulen. Rigasche Rundschau 17. Juni 1939 Wolhynien-Deutsche ihrer sämtlichen Organisationen beraubt Warschau. 17. Juni. Nach Meldungen, die hier aus Wolhynien eintreffen, sind dort sämtliche politischen, wirtschaftlichen und anderen Organisationen der dortigen Deutschen bis auf eine Kreditorganisation behördlicherseits geschlossen bzw. den Organisationen jede Betätigung untersagt worden. c. Presseschau Libausche Zeitung 12. März 1856 Köslin. 16. März (R. Pr. B.) Der amtliche Bericht der hiesigen Regierung über die letzten beiden Monate erwähnt, daß in den östlichen Kreisen des Bezirks sich eine große Neigung zur Auswanderung nach Rußland zeigt. Es heißt nämlich, daß in Volhynien Ländereien für einen nicht Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 200
201 erheblichen Preis an Ansiedler veräußert werden; es soll dort eine Colonie Friedrichsdorf von Preußischen Auswanderern begründet sein. Rigasche Zeitung 11. September 1856 (Anzeigenteil) Güter-Verkauf in Volhynien, Podolien und im Kiewschen Gouvernement. Endesunterzeichneter hat von verschiedenen Gutsbesitzern Volhyniens, Podoliens und des Kiewschen Gouvernements den Auftrag, Käufer für diese in ihren Gouvernements gelegene Güter zu suchen und giebt hiemit den Kauflustigen zu wissen, daß alle dazu nothwendigen Auskünfte, sowie statistische Beschreibungen, Inventare etc. etc., nebst genauen Aufzählungen der gebotenen Güter, die verschiedenen Lagen und verschiedene Ukrainische und Polisier-(Polesie-)Gründe mit versendbaren Commerz-Waldungen haben, zu hundert bis zweitausend und mehr Seelen enthalten, so kann ein jeder Käufer in meinem Auftrage seinen Wunsch und seinem Vermögen entsprechende Güter finden. Alle in dieser Hinsicht an mich nach der Gouvernements-Stadt Shitomir adressirten und frankirten Briefe werden pünktlich und genau beantwortet werden. Aloizius Floryans Sohn Szczepanowski Rigasches Kirchenblatt 24. März 1867 Die Lutheraner in Volhynien. Volhynien, - wer hat nicht schon oft den Namen dieses Landes gehört, das ein Theil des großen russischen Reiches ist? Aber man weiß im Grunde wenig davon. Man hat eine allgemeine Vorstellung, es liegt von uns sieben Breitegrad südlicher, also muß es dort wärmer sein, als bei uns; auch ist es recht fruchtbar. Mit Buchen- und Eichenwäldern, Weizen gedeiht vortrefflich, auch die Rebe fehlt nicht. Russen, Polen und Juden wohnen da, und die Gouvernementsstadt ist Shitomir. Aber sonst wissen die meissten, die bereist sind, von der sächsischen Schweiz, Thüringen und dem anmuthigen Thälern der Taunusgebirge besser Bescheid und erinnern sich mit Vergnügen, was sie in Dresden und Weimar, Frankfurt und Wiesbaden gesehen haben, die ungefähr in demselben Breitegrad mit Shitomir liegen. Volhynien und Podolien liegen aber abseits der Tour, dorthin fährt man nicht so leicht, bis wir eine Eisenbahn haben, die uns durch die Pinskischen Moräste glücklich hinüber führen soll. Bis dahin ist es aber doch angenehm, auch von dort etwas zu erfahren, wenn eine Kunde gelegentlich kommt. Das ist diesmal der Fall. Ein junger Landsmann von uns, aus den Ostseeprovinzen, aus Riga, ist gegenwärtig dort im Amt, unter den dort zerstreut lebenden deutschen Lutheranern, bei denen er, Dank sei es unserer "U n- t e r s t ü t z u n g s k a s s e für evangelische Gemeinden in Rußland" als Reise- und Colonistenprediger angestellt ist, Pastor H. W a s e m, der Sohn des früheren vieljährigen Hausvaters der Rettungsanstalt zu Pleskodahl. In Shitomir selbst ist eine lutherische Kirche mit einem Prediger. Dorch für den großen Umfang des Gouvernements ist diese geistliche Bedienung viel zu gering. Hier und da gibt s im Lande deutsche Kolonisten, auch Arbeiter in Fabriken u.s.w., die ohne Gotteswort nicht bleiben sollen und wollen. Der Deutsche bringt überall, wohin er kommt, zähen Fleiß mit, jene stille Ausdauer, jenes gehorsame, ruhige Verhalten unter den Landesgesetzen, jene nützliche Betriebsamkeit, die anerkannt wird, die aber wohl auch unter dem Druck der Verkommenheit, wo Gotteswort fehlt oder seine Kraft versagt, eine gar trübe Mißgestalt annehmen kann, die sich in Muthlosigkeit und Verzagtheit äußert, woraus andere Uebelstände hervorgehen. Die Springkraft und fast heroisch zu nennende Willensenergie, die vor keiner Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 201
202 Schwierigkeit erschrikt, vielmehr in dieser eine Aufforderung sieht zum Handeln, ist eine andere Geistesbegabung, die mehr ein Erbtheil der anglo-germanischen Race zu sein scheint. Die lieben protestantischen Deutschen habe es also in der verschiedenartigen Bevölkerung, unter der sie einen geringen Bruchtheil ausmachen, nicht leicht, wie man sich das denken kann. Da jene Gegenden in einem Uebergangsstadium sich befinden, und eine gedeihliche Entwicklungsepoche noch erst angestrebt wird, so ist noch viel auf die Zukunft zu rechnen, wozu bei der günstigen klimatischen Lage des Landes Hoffnung ist, sobald nur die confessionellen und socialen Beziehungen ins rechte Gleis gekommen sein werden. Die vielen prachtvoll und großartig erbauten römischen Klöster der ehemaligen Jesuiten-, Augustiner-, Dominikaner- und Berhardiner-Orden stehen nunmehr ziemlich ruinenhaft da, oder werden anderen Zwecken überwiesen. Noch bemerkt man herrliche alte Orgelwerke aus früherer Zeit, die aber auch dem Verfall zuzueilen scheinen. Pastor Wasem schreibt: "Wie Sie wissen, hat das St. Petersburger Consistorium mir die Colonie zugetheilt. Da Pastor Stelz in Shitomir krank war (ist jetzt gestorben), so bat er mich, auch die Städte zu bereisen, und so kam ich auch in Gegenden und Lebenskreise, die mir bisher fremd waren. Es ist wohl ein eigenthüliches Leben, solch ein Reisepredigerleben. Alle Hände voll gibt es zu thun, bald hier, bald da. Schon Wochen vorher muß überall hingeschrieben werden, wenn man an jedem Orte einreffen wird und von dem bestimmten Termin dar nicht abgewichen werden, denn die Leute kommen oft Werst herbei. Fährt man von einem Ort zum andern, da wird man bald hier, bald da angehalten; denn hier soll man ein Kind taufen, dort ein Paar trauen, da einen Schein ausstellen, hier Schiedsrichter in einer Streitsache sein. In den Städten ist man alle Tage in einer anderen Gesellschaft: heute hat man es mit Fabrikdirectoren oder Fabrikmeistern und Arbeitern zu thun, morgen sitzt man unter Aerzten und Apothekern, Tages darauf ist man bei einem General zu Gast; dazu kommt wohl ein Besucht bei einem reichen Juden, dem man von seinem in Geschäftsverbindung stehenden Handlungshause eine Gruß zu überbringen hat, und der den "deutschen Rabbiner" oder den "Rabbi aus Shitomir" sehr freundschaftlich aufnimmt. Wie gesagt, es ist ein sehr eigenthümliches Leben, nur wünscht man sich oft etwas mehr Musse, um an seine Predigt denken zu können. Ich lerne Volhynien immer mehr und mehr kennen. Es ist ein schönes, gesegnetes Land, aber es macht auf mich den Eindruck einer Ruine. - Es ist ein sehr lehrreicher Anblick ein Land zu betrachten, in welchem die alten Ordnungen zu Grabe getragen werden und nun ein ganz Neues gestaltet werden soll. - Unsere Deutschen mehren sich von Tag zu Tag in Volhynien; mein Arbeitsfeld wird immer größer und immer lieber. Es ist wohl ein eigen Ding, daß wenn der Herr einem ein Amt gibt, er auch die Liebe dazu schenkt. Ist auch die Sehnsucht nach den Lieben in der Ferne oft kaum zu über winden, der Wunsch in der Heimath zu arbeiten, oft groß; es würde doch einen gar schweren und bittern Kampf kosten, wenn es einmal wirklich dazu kommen sollte, es würde doch ein Stück von Herzen mit davon gehen. Daß dazu viel beiträgt, daß die Geeinde uns, mir und meiner lieben Frau, mit viel Liebe und Freundlichkeit entgegenkommt, und uns oft zeigt, daß sie ein warmes Herz auch für uns hat, und uns dadurch immer mehr an sich fesselt, ist gewiß. Gott gebe, daß das Band, das meine Gemeinde und mich bindet, nie gelockert werde, daß der Herr mir aber auch die rechte Weisheit geben möge, bei den vielfach bei uns sich vorfindenden Richtungen und Ansichten und den oft schwierigen Verhältnissen nicht von dem Wege, den ich für den richtigen halte, abzuweichen, aber auch nicht durch falsches Auftreten die anders Denkenden zurückzustoßen, sondern vielmehr durch Liebe zu gewinnen. Die Aufgabe ist schwer, aber schön. Neulich habe ich Pastor Stelz beerdigt. Wie es nun werden wird, weiß ich nicht. Für's Erste ist dadurch meine Arbeit gewachsen, als ich nun jeden Monat ein Mal nach Shitomir muß, um die laufenden Geschäfte zu verrichten. Das Consistorium hat in den letzten Jahren wohl dadurch schon für Volhynien gesorgt, daß es mir die Colonien übertrug, und mir von der "Unterstützungskasse" das Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 202
203 Gehalt erwirkte, aber für die Dauer kann das nicht so bleiben und an Mitteln fehlt es hier noch sehr. Mir liegt die Frage nach der Organisation der Gemeinden, denn es müssen hier mehrere Kirchspiele kommen, oft so wie ein Stein auf dem Herzen, und wenn es mich auch ganz klar ist, in welcher Weise die Eintheilung geschehen müßte, so scheitert doch Alles an der Geldfrage. Und die Anordnung muß eintreten; denn die Seelen, die ich zu bedienen habe, nach den neuesten Einwanderungen, und die auf einem Flächenraum von 2080 Werst Länge und 270 Werst Breite zerstreut wohnen, können von einem nur handwerksmäßig bedient werden, und am meisten leidet der Prediger und dadurch natürlich auch die Gemeinde; denn dieses ungeordnete Reiseleben hindert einen an jeder geordneten Tätigkeit, man gewöhnt sich an ein Vagabundenleben und an einem Weiterschreiten und Fortarbeiten, was einem doch namentlich in solchen Verhältnissen durchaus nöthig ist, wird man ganz gehindert. Und ist nun ein Prediger da, so bleibt der größte Theil der Gemeinde, zu welcher der Pastor nur ein Mal im Jahr kommen kann, ganz ohne Rath und Beistand, und das hat hier noch eine andere Bedeutung, als in anderen Gegenden, hier, wo der deutsche Colonist nicht an höher stehenden Landsleuten und Glaubensgenossen irgend einen Halt hat, wo er außer dem Pastor keinen Einzigen hat, an den er sich wenden kann, und wo es Leute aus allen Klassen genug gibt, welche glauben, daß der deutsche Colonist nur da sei, daß man ihn anführen, betrügen und auspressen kann. Wenn die Gemeinden nicht so gar vereinsamt dastehen würden, hätte es z.b. nicht vorkommen können, daß diesen Sommer ein Betrüger, der sich für einen Missionar und Pastor ausgabe, die entfernten Colonien hätte bereisen und Amtshandlungen an ihnen hätte verrichten können!" Im Jahre 1866 kamen auf die evangelisch-lutherischen Gemienden in Volhynien 343 Taufen, 104 Trauungen und 3320 Communicanten. Libausche Zeitung 28. März 1867 Warschau. Vom Großherzog von Hessen-Darmstadt und vom ehemaligen Kurfürsten von Hessen Kassel sind Bevollmächtigte in Shitomir eingetroffen, um für dieselben sehr bedeutende Güter - Complexe in Volhynien anzukaufen. ( ) Rigasche Zeitung 25.Juli 1867 Wolhynien. Das Gouvernement Wolhynien zählt Einwohner, darunter nicht zur griechischen Kirche Gehörige. Diese letzteren sind katholische Polen, protestantische Deutsche, Juden und Mohamedaner. Die Deutschen vermehren sich daselbst nicht nur durch den natürlichen Zuwachs, sondern auch noch durch Colonisation. Im Jahre 1850 waren im Gouvernement 3170 Colonisten; 1864 betrug deren Zahl 6338, 1865 schon und 1866 gar Die Colonisation breitet sich immer mehr aus und vorher schon richtet man die Localität für die noch Erwarteten ein. Die Colonisten kommen aus Polen, Oesterreich und Preußen. Von den deutschen Colonisten, die sich 1865 in Wolhynien befanden, gehörten 8524 der protestantischen, die anderen, wahrscheinlich aus Oesterreich kommend, der katholischen Kirche an. Der Autor, der diese Nachricht im Localblatte mittheilt, meint, daß das Staatsinteresse es erfordere, der Colonisation der Deutschen Einhalt zu thun; der Kiewl. jedoch ist der Ansicht, daß es besser sei, wenn der Landbesitz Deutschen Protestanten, selbst Juden zufiele, als der Polnischen Szlachta. Die St. Pet. Z., der wir diese Nachricht entnehmen, fügt ihrerseits noch hinzu: Da sage doch Einer, daß die Katkow schen Ideen leere Phantasien seien! Wie käme sonst ein obscurer Scribent in einem Wolhynischen Winkel dazu, das Staatsinteresse durch Einwanderung fleißiger Deutscher Landbauer in einem Lande, wo der Ackerbau aus Mangel an Arbeitskräften und an Lust an Arbeit so grausam darnieder liegt, für gefährdet zu halten? Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 203
204 Rigasches Kirchenblatt 15. Mai 1870 Ein besonders mächtiger Strom von Kolonisten ergießt sich seit einer Reihe von Jahren aus Preußen und Polen nach Volhynien. Bereits bestehen in diesem Gouvernement 82 Kolonien und von Jahr zu Jahr kommt eine neue Anzahl hinzu. Sie kaufen oder pachten Land von Gutsbesitzern, welches zum größten theil erst urbar gamacht werden muß. Ueber evangelische Preußen und Polen sind in den letzten Jahren auf diese Weise in Volhynien ansässig geworden. Bisher gabe es einen einzigen evangelischen Prediger in Volhynien, der seinen Sitz in der Hauptstadt Shitomir hat. Schon seit einigen Jahren ist ein zweites Kirchspiel an dem westlichen Ende des Gouvernements in Roschischtsche eingerichtet worden. Im vergangenen Sommer sind wieder zwei neue Kirchspiele organisirt, in Heinthal [sic!] und Rowno, und vorauszusehen ist, daß in 5 6 Jahren noch zwei Kirchspiele werden geschaffen werden müssen. Libausche Zeitung 15. August 1883 Kiew. 12. August. Ueber die Entdeckung eines den Behörden unbekannten Dorfes veröffentlichen die "Sarä" folgenden merkwürdigen Fall: Als kürzlich einige Generalstabsofficiere behufs Vervollständigung der Generastabskarte vom Wolhynier Kreise in den neugegründeten deutschen Colonien heraumreisten, von denen gegen 80 neue Ansiedlungen auf der Karte noch nicht figuriren, nahmen sie u.a. auch ein aus 60 Höfen bestehendes Dorf Metschislawka in ihr Verzeichnis auf. Als späterhin einer dieser Officiere den Stanowoi-Pristaw (Kreisrichter) um nähere Angaben über die Entstehung des letztgenannten Dorfes ersuchte, erhielt er die lakonische Antwort, daß im ganzen Kreise kein solches Dorf existire. Nun begab sich der Officier zum Isprawnik, erhielt aber auch von diesem die Versicherung, daß es unmöglich sei, daß ein Dorf Metschislawka vorhanden wäre, von dem die Behörde oder eigentlich der Isprawnik nichts wissen sollte. Da aber ein derartiges Dorf dennoch existirt, so fragt die "Sarä", wem eigentlich die Bewohner dieses Dorfes die gebührenden Kronssteuern und anderen Abgaben entrichten? Libausche Zeitung 21. November 1886 Kiew. Der Kiewlänin theilt mit, daß vor einigen Tagen über Warschau eine ganze Partie deutscher Kolonisten nach Deutschland zurückgereist sei. Diese Kolonisten hatten 20 Jahre lang im Gouvernement Wolhynien im Wladimir-Wolhynischen Kreise gelebt; 18 Jahre ging es ihnen vorzüglich, in den beiden letzten Jahren indessen verschlechterte sich ihre Lage. Sie entschlossen sich deshalb, nach Amerika auszuwandern. Den Warschauer Zeitungen zufolge, haben viele deutsche Kolonien in Wolhynien die Absicht, neue Ansiedelungsplätze jenseits des Oceans zu suchen, wohin schon Kundschafter vorausgeschickt sind. Libausche Zeitung 31. Juli 1887 Der Nordd. Allg. Ztg. wird aus Warschau bezüglich der Rückwanderung aus Rußland geschrieben: In letzter Zeit kommen namentlich aus Volhynien Deutsche hier an, welche aus jenen Gegenden wieder zurück nach Deutschland ziehen. Sie schildern den dortigen Aufenthalt für Deutsche schwierig und peinlich: alles vereinigte sich jetzt, den eingewanderten Deutschen das Leben schwer zu machen. Diese Heimkehrenden gehören meist dem Bauernstande an. Eine Verlängerung ihrer Pachtkontrakte wurde ihnen nicht mehr zugestanden, die Ausführung der sogenannten Zeitkäufe verweigert. Den deutschen Lehrern, welche sie auf ihre Kosten erhalten, hat man nun vorgeschrieben, ein russisches Lehrerexamen zu machen und in russischer Sprache zu Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 204
205 unterrichten. Die vertriebenen deutschen Bauern führen zuweilen Wagen und Pferde, mit ihren Habseligkeiten beladen, mit sich. Manche unter ihnen wollen nach dem Posenschen gehen, um sich auf den angekauften polnischen Ländereien kolonisiren zu lassen. Düna-Zeitung 30. Mai 1888 U n t e r s t ü t z u n g d e r B a u e r n, die überzusiedeln wünschen. Die staatliche Bauernbank ist, wie der Киевск. Слово zu melden weiß, zu der Ueberzeugung gekommen, daß man den Bauern, welche aus den Gouvernements Groß- und Kleinrußlands mit dichter Bevölkerung auszuwandern wünschen, Unterstützung nicht verweigern dürfe, wenn sie in die waldigen Gegenden des Kijewschen, Wolhynischen, Minskischen und des Grodnoschen Gouvernements überzusiedeln gedenken. Ebenso könne man die Uebersiedlung der Esten und Letten unterstüthzen, wenn diese sich in den östlichen Gouvernements: Usim, Orenburg, Ssamara, Nowgorod niederzulassen gedenken; auch wenn sie sich in den Gouvernements, die dem Dnjepr zunächst liegen und in den Theilen der Gouvernements Minsk, Wolhynien und Kijew, die von dem Königreich Polen und der Grenze entfernt sind, ansiedeln wollen, können sie unterstützt werden. Rigasche Zeitung 30. Juli 1888 Wolhynien. Die geheimen Agenten, welche bereits in Polen mit großem Erfolge Bauern zur A u s- w a n d e r u n g n a c h A m e r i k a angeworben haben, verlegen jetzt ihre Tätigkeit auch nach dem Gouvernement Wolhynien. In Wladimir-Wolhynsk ist, wie Warschauer Blätter berichten, unlängst ein Agent, Namens Feldner, ermittelt worden, welcher acht Bauern mehr oder minder beträchtliche Summen abgeschwindelt und ihnen Quittungen übergeben hat, die zur freien Fahrt von Hamburg nach Amerika berechtigen sollen. Feldner wurde verhaftet, es gelang ihm aber, auf dem Wege zur Kreispolizeiverwaltung zu entfliehen. Libausche Zeitung 9. November 1893 Der Dampfer Knud verließ heute Morgen um 10 ½ Uhr mit 198 Auswanderern an Bord unseren Hafen, um die Route nach Hull einzuschlagen. Unter den Auswanderern befanden sich ca. 40 deutsche Kolonisten aus Wolhynien, die sich nach Manitoba in Kanada begaben. Es war dies der erste Zug deutscher Auswanderer aus Wolhynien, die bisherigen kamen durchweg aus den Wolgagegenden. Libausche Zeitung 11. November 1893 ( ) Fast in jeder Woche verläßt ein Auswandererschiff unseren Hafen. In der laufenden Woche sind es sogar zwei, da der Dampfer Knud mit nahe an 200 Köpfen an Bord bereits gestern nach Hull abgegangen ist. Unter seinen Passagieren befanden sich auch etwa 40 deutsche Kolonisten aus Wolhynien. Die Herren Spiro und Ro., die früher in Hamburg als Auswanderungsvermittler thätig gewesen sind, theilten Ihrem Berichterstatter mit, daß das Amerikafieber unter den deutschen Bauern Wolhyniens bereits seit Jahren heftig grassirt und daß wohl schon gegen von ihnen über Hamburg in die neue Welt hinübergewandert sein mögen. Ihr Ziel ist meistens Manitoba in Kanada. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 205
206 Libausche Zeitung 24. März 1894 Auswanderertransport. Der gestern Abend von hier nach London abgegangene Dampfer Knud nahm wieder 230 christliche Emigranten mit, die zum größten Theil nach Nord-Amerika auswandern. Unter denselben befanden sich Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge und einige Greise, zum größten Theil aus dem Gouvernement Wolhynien stammend. Libausche Zeitung 4. April 1894 (Auswanderertransport). In der vorigen Woche sind wiederum 40 deutsche Colonisten aus dem Shitomirschen Gouvernement hier eingetroffen um mit dem nächsten Dampfer nach Kanada zu gehen. Libausche Zeitung 25. April 1894 Gegen 100 Emigranten, deutsche Colonisten aus den Gouvernements Wolhynien und Chersson, verließen heute vormittag mit dem Dampfer Knut unseren Hafen. Als sich das Schiff in Bewegung setzte, stimmten die Auswanderer, meistentheils Babtisten, den 73. Psalm an, dessen feierliche Klänge noch lange vom Wasser her erschallten. Libausche Zeitung 30. Mai 1894 (Emigrantentransport). Mit dem am 28. d. Mts. von hier ausgegangenen dänischen Dampfer Knud verließen 127 deutsche Kolonisten größtentheils aus dem Gouvernement Wolhynien unseren Hafen. Das Reiseziel der Auswanderer ist Canada, wo sie bereits von Verwandten, die dort für die Nachzügler Land angekauft haben, erwartet werden. Düna-Zeitung 6. April 1895 Libau. 5. April. Auswanderer. Das Libauer Tageblatt berichtet: Am 1. April fand auf dem Dampfer Romny durch die Firma Spiro u. Co. die Beförderung der, wie schon von uns mitgetheilt, hier vor Kurzem eingetroffenen, auf der Auswanderung nach C a n a d a begriffenen 70 deutschen C o l o n i s t e n aus dem G o u v e r n e m e n t W o l h y n i e n statt. Der Dampfer bringt die Leute bis Hull. Am selben Tage bringt die Firma J. Knie mit dem Dampfer Kurland Stettin 50 lithauische Hebräer, deren Auswanderungsziel Argentinien ist. Diese sind nur die Vorläufer und Quartiermacher für eine in ca. 3 Wochen nachfolgende Auswanderergesellschaft von ca Köpfen. Düna-Zeitung 8. April 1895 Libau, 8. April. Nach Kanada siedeln deutsche Colonisten aus dem Gouvernement Wolhynien über, Hebräer aus dem Nordwestgebiete setzen die Übersiedelung nach Argentinien fort. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 206
207 Düna-Zeitung 18. Dezember 1895 Polen. Die Auswanderung deutscher Colonisten nach Sibirien. Im Rownoschen Kreise machte sich, dem Kij. Sl. zufolge, eine uner den Deutschen starke Hinneigung zur Emigragion nach Sibirien bemerkbar. Mit Beginn des Herbstes erscheinen, dem Referat der O d e s s. Z t g. zufolge, in den zahlreichen Colonien allerhand zweifelhafte Agenten, die Uebersiedler anwerben und sich erbötig machen, ihnen bei der Uebersiedelung behilflich zu sein. Die Versuchung ist so groß, daß viele Colonisten Gesuche eingereicht haben um Uebersiedelung nach dem Tobolsker Gouvernement, die, ihrer Ansicht nach, auf Rechnung der Krone vor sich gehen soll. Um nicht Zeit zu verliegen für den Fall, daß die Erlaubnis anlangen sollte, haben viele von ihnen ihr Hab und Gut verkauft und warten auf die Erlaubniß zur Uebersiedelung nach dem neuen Wohnort. Währenddem circulirt jetzt das hartnäckige Gerücht, daß den Bittstellern die nachgesuchte Erlaubnis nach dem Tobolsker Gouvernement nicht gewährt werden wird, infolge dessen die Colonisten wahrscheinlich große Verluste, die mit dem eiligen Verkauf der Habe verknüpft sind, zu tragen haben werden. viele von ihnen sind in der Styndinschen und Deraschewskschen Gemeinde und zehren schon jetzt am letzten Rubel aus ihrem Erlös und einige leiden äußerste Noth und müssen um Almosen betteln. Das alte Lied vom Auswandererleid! Düna-Zeitung 15. Februar 1900 J.M. Auswanderung nach Assurien. Obwohl das Ministerium des Innern in diesem Jahre die Genehmigung, nach Ostasien überzusiedeln, nur solchen Familien ertheilt hat, die im Stande sind, alle Reisekosten zu tragen, und die über mindestens 300 Rbl. zur Begründung ihrer Wirthschaft in der neuen Heimat verfügen, so hat der Drang nach Osten, wie es scheint, doch wenig nachgelassen, denn die Zahl der diesjährigen Uebersiedler, die sich vorzugsweise wiederum aus den Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien rekrutieren, reicht an 5400 heran, welche alle auf vier Dampfern der Freiwilligen Flotte und dem Dampfer Odessa der Russischen Gesellschaft für Handel und Dampfschifffahrt aus Odessa an den Endpunkt ihrer Reise befördert werden sollen. ( ) Rigasche Rundschau 1. November 1902 Kiew. Einer telegraphischen Meldung der Now. Wrem. gemäß wird unter den deutschen C o- l o n i s t e n der Kreise Radomysl und Shitomir eine Strömung zum V e r l a s s e n d e s L a n d e s deutlich wahrnehmbar. Unlängst veräußerten dreißig Familien aus der Umgegend Shitomirs ihre Habe und siedelten in die Umgebung von Königsberg über, wo das deutsche Colonialcomité geeignete Ländereien in Bereitschaft hält. Eine ähnliche Uebersiedelungsbewegung macht sich auch in anderen deutschen Colonien Wolhyniens bemerkbar. Als Ursache giebt der Correspondent der Now. Wrem. die Landtheuerung, die in der letzten Zeit eine außerordentliche Höhe erreicht habe, und die hohe Pacht an. Auch sollen einige Gutsbesitzer es ablehnen, das Land weiter an Colonisten zu verpachten. Der größte theil der deutschen Colonisten sei zwar in den russischen Unterthanenverband getreten, allein die Lage sei deswegen noch nicht besser geworden. Unseres Wissen kann es sich n u r um russische Unterthanen deutscher Nationalität handeln, da jeder Landerwerb in den westlichen Grenzgebieten Ausländern verboten ist. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 207
208 Düna-Zeitung 27. November 1902 Kiew. Ueber die Auswanderung deutscher Colonisten schreibt man der der Now. Wr. : Unter den deutschen Colonisten der Gouvernements Kiew und Wolhynien macht sich das Bestreben einer Rückwanderung nach Deutschland bemerkbar. Die Centren der deutschen Colonien befinden sich in den Kreisen Shitomir, Luzk, Nowograd Wolynsk, Wladimir Wolynsk im Gouvernement Wolhynien und im Kreise Radomyssl des Kiewschen Gouvernements. Im Gouvernement Wolhynien beläuft sich die Zahl der deutschen Colonien auf ungefähr 500, während es im Kiewschen deren 40 giebt. Die Gesammtzahl der deutschen Colonisten in diesen beiden Gouvernements dürfte sich auf belaufen. Wie groß das Areal ist, das sich gegenwärtig im Besitz der deutschen Colonisten befindet, läßt sich nicht genau angeben. Nach officiellen Angaben besitzen gegenwärtig Personen evangelisch-lutherischen Bekenntnisses im Gouvernement Wolhynien allein mehr als Dessjatinen, doch wie viel von diesem Besitz auf die Colonisten entfällt, wird nicht näher angegeben. Das weitere Anschwellen des deutschen und evangelischen Elements ist seit dem Jahre 1880 durch eine Reihe administrativer Maßnahmen erschwert; so ist z.b. den Colonisten der Landkauf und die Pacht von Land auf einen längeren Termin verboten worden. Ist einerseits das Bedenkliche einer zu starken Vergrößerung des fremden Elements wiederholt hervorgehoben worden, so darf, schreibt das Blatt - wie wir der Petersb. Ztg. entnehmen - weiter, andererseits nicht vergessen werden, daß die meisten Colonisten meisterhafte Landwirthe sind. Im Laufe der letzten Jahre sind nun die Landpreise enorm gestiegen und auch die Pachtpreise haben eine wesentliche Steigerung erfahren. Dieser Umstand hat augenscheinlich die Colonisten veranlaßt, in der Ferne günstigere wirthschaftliche Verhältnisse zu suchen. Kürzlich haben 30 Familien aus dem Kreise Shitomir und 10 Familien aus dem Kreise Radomyssl ihren Besitz liquidiert und sind nach Ostpreußen ausgewandert, wo ihnen in der Umgebung von Königsberg die Colonialgesellschaft Land zur Verfügung gestellt haben soll. In jüngster Zeit haben die Colonisten von der Königsberger und Posener Section der Colonialgesellschaft Aufforderungen zur Uebersiedelung nach Ostpreußen erhalten, wo ihnen Land zu außerordentlich günstigen Bedingungen angeboten wird. Diese Bedingungen sind so verlockend, daß sie sogar diejenigen Colonisten zur Auswanderung veranlassen, die russische Unterthanen sind. Rigasche Rundschau 3. Dezember 1902 Poltawa. Das Gouvernement Poltawa liefert nach Angabe des Kiewl. das H a u p t - C o n t i n- g e n t d e r A u s w a n d e r e r n a c h S i b i r i e n. Im Jahre 1901 waren es Personen oder 35 1/3 aller Auswanderer. Es folgen die Gouvernements Tschernigov mit , Mohilew mit 8692, W i t e b s k mit 7710, Kursk mit 6348, Jekaterinoslaw mit 6080, Kiew mit 4761, Podolien mit 2995, Wolhynien mit 2392 Auswanderern. Die Auswanderung scheint somit im Südwestgebiet am stärksten zu sein. Düna-Zeitung 10. Januar 1903 Wolhynien. Die Emigration der deutschen Colonisten nimt immer größere Dimensionen an. Zum Frühjahr beabsichtigen, der "Wolhynj" zufolge, nicht weniger als 2000 Familien, hauptsächlich aus den Kreisen Owrutsch und Nowogradwolynsk, aber auch aus dem Shitomirschen Kreise, auszuwandern. Die Auswanderer gehen nach P o s e n, da die dortige Colonisationscommission unter den günstigsten Bedingungen Land vertheilt. Für die Shitomirschen Kaufleute ist der Auszug Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 208
209 der Deutschen ein harter Schlag: viele der Händler in der Wilschen und Kathedralenstraße lebten, wie das citirte Blatt constatirt, ausschließlich von den deutschen Colonisten, die ihre ständigen Abnehmer waren. Rigasche Rundschau 11. Januar 1903 Wolhynien. Nach Mittheilungen des Wolyn wird die Rückwanderung der deutschen Kolonisten nach Deutschland im Frühjahr einen ganz besonders großen Umfang annehmen. Und zwar sollen gegen 2000 Familien hauptsächlich nach Polen ziehen. Hauptsächlich werden die Kreise Owontsch und Nowogradwolhynsk von der Auswanderung betroffen, aber auch im Shitomirschen Kreise werden einige Kolonien, wie z. B. Kamenka, vollständig leer dastehen. Die Posensche Ansiedlungs-Commission verkauft das Land zu ganz besonders günstigen Bedingungen, sodaß, wie die Now. Wr. bemerkt, die Kolonisten dort auch Eigenthümer des von ihnen bestellten Grund und Bodens werden können, während sie in Rußland selbst bei bloßer Landpachtung eingeengt sind. Düna-Zeitung 3. April 1903 Wolhynien. Zum Exodus der deutschen Colonisten aus Südrußland referirt die Nowoje Wremja, die ihnen - wie den Krimer Tataren - frohen Herzens glückliche Reise auf, hoffentlich, Nimmerwiedersehen wünscht, folgende Nachrichten der Wolynj : Mit Anbruch des Frühjahrs beginnt die Emigration größere Dimensionen anzunehmen. Außer dem Kreise Shitomir, wo die Colonien an der Nowograd-Wolynsker Chaussée und in der Nähe von Fastowo merklich leer werden, erstreckt sich die Bewegung bereits auch auf den Dubenskiy Kreis besonders den nordöstlichen Theil desselben, wo die sogenannten Walddeutschen in den Colonien Ssatyjew, Kossarewo, Rowinki, Radschizy etc. wohnen. Auch die Colonisten im nordwestlichen Theil des Luzkschen Kreises planen die Auswanderung. In den letzten zwei Jahren pflegten die Colonisten nur in einzelnen Familien fortzuziehen, jetzt nimmt die Emigration aber einen allgemeineren Charakter an. Ein Theil der Colonisten zieht vorläufig nur ins Weichsel- und Westgebiet, die übrigen aber direct nach Posen. Die Now. Wr. schlägt vor, bereits jetzt mit der Uebersiedelung von russischen Bauern aus Centralrußland nach Wolhynien zu beginnen. Düna-Zeitung 11. April 1903 Auswanderung der deutschen Colonisten. Wie der Wolynj berichtet, beginnt mit dem Eintritt des Frühjahrs thatsächlich eine Massenauswanderung der deutschen Colonisten in die östlichen Provinzen Deutschlands hin sich bemerkbar zu machen. So soll man längs der Nowogradwolynsker Chaussee täglich große Züge Auswanderer, die auf schwerbeladenen Wagen mit Sack und Pack hinausziehen, beobachten können. Am meisten wandern die Emigranten aus dem Kreise Shitomir, und zwar aus den Dörfern, die an der Linie Silatnjew-Kossaowo-Nowink und Radtschizy gelegen sind, aus. Aber auch aus anderen Bezirken, wie aus dem Luzker und Dubnyer Kreise, sieht man viele Colonisten fortziehen. Diese Bewegung erstreckt sich im Allgemeinen über das ganze Gouvernement Wolhynien und einige an dieses angrenzende Gebiet. Das hauptsächliche Ziel der Auswanderer soll die Provinz Posen sein, woselbst ihnen zur Ansiedelung viele Vortheile und materielle Unterstützung zu Theil werden sollen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 209
210 Düna-Zeitung 4. Jul 1903 Südwestgebiet. Im Hinblick auf die gegenwärtige Rückwanderung deutscher Kolonisten aus dem Südwestgebiet nach den Provinzen Westpreußen und Polen werden folgende Zahlen von Interesse sein, die wir in der Pet. Ztg. lesen: Die Einwanderung deutscher Bauern in Wolhynien, besonders in die Kreise Wladimir, Shitomir, Luzk etc., begann im Jahre Sie ließ dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder nach und setzte erst später wieder in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein. Von 1860 bis 1870 kamen j ä h r l i c h d e u t s ch e C o l o n i s t e n nach W o l h y n i e n. Am stärksten war die Einwanderung von 1870 bis 1880, denn in diesem Zeitraum betrug der jährliche Zuwachs aus Deutschland rund 5250 Personen und ergoß sich auch in die Kreise Dubno, Kowel etc. Ende des Jahres 1902, wo die R ü c k w a n d e r u n g nach Deutschland begann, hatten die Deutschen Colonisten in Wolhynien Dessjatinen, d. h. 5,98 pct. des allgemeinen Bodens, unter ihrem Pfluge. An Stelle der abwandernden deutschen Colonisten, die überall musterhafte Landwirte und Viehzüchter sind, treten in der Hauptsache p o l n i s c h e B a u e r n und zwar meist als P ä c h t e r. Düna-Zeitung 7. Mai 1905 Wolhynien. Unruhen. Die Zeitung "Wolhyn" berichtet, daß im Shitomirschen Kreise unter den deutschen Kolonisten und sonstigen Bauern sich letzthin das Gerücht verbreitet habe, 2000 Kleinrussen hätten sich aus der Kreisstadt aufgemacht, um die D e u t s c h e n, Juden, Polen und sonstigen unter diesen ansässigen Bauern umzubringen. Es hieß, die 2000 seien am 26. April aufgebrochen und zögen auf Tuling zu. Infolgedessen floh die Bevölkerung aus den am Wege gelegenen russischen Dörfern. Die d e u t s c h e n K o l o n i s t e n aber in dem gleichfalls bedrohten Ostrowka b e w a f f n e t e n sich und verbrachten, um den heranziehenden Kleinrussen ihren Mut zu bekunden, die ganze Nacht auf den 27. mit Schießübungen. Das Schießen vernahmen die russischen Bauern in dem hinter Ostrowka gelegenen Subranka und flohen mit Weib und Kind, ihren Besitz den heranziehenden 2000 überlassend. Gegen Morgen erreichen die Flüchtlinge den Flecken Goroschka, wo sie mit ihren Schreckensnachrichten Polizei und Bevölkerung alarmierten. Es kam in Goroschka zu einer entsetzlichen Verwirrung. Die Kopflosigkeit der Einwohner hatte ihren Höhepunkt erreicht, als endlich auf Aufforderung der Polizei 500 b e w a f f n e t e d e u t s c h e K o l o n i s t e n aus Fedorowka und Tortschin eintrafen. Es dauerte noch geraume Zeit bis sich die Grundlosigkeit all dieser Gerüchte herausstellte und das deutsche Heer die wieder beruhigten Juden Ostrowkas sich selbst überlassen konnten. (Pet. Ztg.) Düna-Zeitung 27. Juni 1905 Fünf- bis sechstausend russische Emigranten, aus Polen und Wolhynien gebürtig und meist sehr arm, haben sich in R o t t e r d a m eingeschifft und sind in G l a s g o w angekommen. Düna-Zeitung 14. September 1907 Wolhynien. Zur Kolonistenrückwanderung. Unter dieser Ueberschrift erschien in der Nr. 202 der Düna-Zeitung vom 31. August ein Artikel, in welchem u.a. mitgeteilt wurde, daß sieben von einem Gute Livlands kommende deutsche Kolonistenfamilien auf der Rückreise in die alte Heimat Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 210
211 Riga passierten, wo sie sich einige Tage aufhielten. Als Grund ihrer Rückwanderung gaben diese an, bei den bisherigen niedrigen Löhnen nicht existieren zu können und behaupteten außerdem, daß sie hier zu lange und zu schwer arbeiten müssen. Es sei einem in Rußland inmitten deutscher Kolonien lebenden deutschen Landwirten gestattet, in bezug auf obigen Artikel, der ihm erst eben in die Hände gekommen ist, folgendes zu äußern: Daß schon seit längerer Zeit, besonders aber im Laufe der letzten 5 Jahre, eine starke Auswanderung deutscher Kolonisten Rußlands in verschiedene andere Gegenden stattfindet, dürfte wohl allgemein bekannt sein. Tatsache ist aber auch, daß diese Auswanderungsbewegung langsam aber stetig zunimmt. Die Gründe, welche nun die Kolonisten zur Auswanderung bewegen, sind verschiedene, in der Hauptsache aber kann man sie wohl in folgendem Satze zusammenfassen: Da der Kampf ums Dasein sich für viele deutsche Kolonisten von Jahr zu Jahr schwieriger gestaltet, so sehen sich diese unter dem eisernen Druck der Not veranlaßt, nach Gegenden auszuwandern, in welchen sie günstigere Lebensbedingungen zu finden glauben. Eine solche Auswanderung findet hauptsächlich nach Nord-Amerika, Süd-Amerika, Deutschland und, wie wir sehen, vereinzelt auch nach Livland statt. Ich möchte Leute, welche von hier aus als Arbeiter in die Fremde ziehen, um sich eine neue Heimat zu suchen, in verschiedene Kategorien teilen: 1) Solche Leute, welche hier allgemein als Nichtstuer, Faulenzer und Tagediebe bekannt sind. Charakteristisch für jede Auswanderungsbewegung, also auch für unseren Fall, ist der Umstand, daß außer tüchtigen Leuten auch untaugliche Elemente aller Art sich genannter Bewegung anschließen. Der Faule und Nichtstuer besitzt gewöhnlich kein Hab und Gut, genießt auch in der Gemeinde keinen guten Ruf und ist, da er ja nichts zu verlieren hat, fast immer sofort zur Auswanderung bereit, sobald in seiner Gegend die Bewegung eingesetzt hat. Dieser Mann hofft in der Fremde durch irgend einen Zufall ein warmes Stellchen zu finden, wo es bei wenig Arbeit vielleicht guten Verdienst und ein angenehmes Leben gibt. Nimmt nun solch ein Mann eine Landarbeiterstelle an, so ist es klar, daß ihn in kurzer Zeit der Besitzer wegen Untauglichkeit entlassen wird, oder er selbst wird offen oder heimlich die Stellung, welche ihm natürlich viel zu anstrengend vorkommt, verlassen. Die meisten dieser Leute kehren dann gewöhnlich wieder in ihre alte Heimat zurück, um durch Schauergeschichten und ausgestandene erdichtete Leiden aller Art sich bei ihren zurückgebliebenen Landsleuten interessant zu machen. 2) Zur zweiten Kategorie möchte ich all diejenigen Arbeiter-Auswanderer rechnen, welche obwohl einem bestimmten Berufe angehörend, doch nicht eigentliche Landarbeiter sind, wie Handwerker, Fabrikarbeiter, wie z.b. Tuchweber, kurz, Fabrikarbeiter aller Art usw. Auch von diesen Leuten wandern viele aus und gelingt es ihnen, eine ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Stellung zu finden, so brauchen sie um ihre fernere Zukunft keine Sorgen mehr zu hegen. Leider geben sich aber viele dieser Leute, um nur rascher von hier fortzukommen und möglichst rasch irgend eine Stellung zu finden, fälschlicher Weise oft als Landarbeiter aus; werden sie nun dann in genannter Eigenschaft engagiert, so ist es kein Wunder, wenn sie sich auf die Dauer als unfähig und untauglich erweisen. Ein Mann kann z.b. ein sehr guter Tuchweber und doch ein sehr schlechter Landarbeiter sein. Ich habe kürzlich noch persönlich einen solchen Rückwanderer aus Livland gesprochen. Es hat ihm alles dort sehr gut gefallen und er gestand mir, daß man dort als Arbeiter rascher vorwärts kommen könne als hier, er hatte sich aber, obgleich er Tuchweber war, dort als Landarbeiter verdungen und da darf es einen wahrlich nicht Wunder nehmen, wenn es ihm zu schwer fiel, die ihm gänzlich ungewohnte Landarbeit zu leisten. 3) Zur dritten Kategorie zähle ich die eigentlichen Landarbeiter, welche z.b. hier auf den Gütern der polnischen und russischen Großgrundbesitzer als Tagelöhner und Jahresarbeiter beschäftigt und gleichfalls zur Auswanderung bereit sind, wenn es ihnen dadurch möglich ist, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Ein Teil von diesen eigentlichen Landarbeitern ist auch schon Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 211
212 in verschiedene Gegenden ausgewandert und haben sich diese Leute fast immer auf das beste bewährt weil sie eben am rechten Platze waren. Im Interesse eines jeden liegt es nun, falls er sich mit Kolonisten-Landarbeitern versorgen will, die nötigen Schritte zu tun, um zu verhindern, daß er an Stelle von tüchtigen Arbeitern untaugliche Elemente erhält, welche ihm statt rationelle Arbeit zu leisten, nur Kosten und Aerger bereiten. Düna-Zeitung 18. Januar 1908 Shitomir. Die Rechtlosigkeit deutscher Kolonisten und die chauvinistische Agrarbank. Der Rjetsch wird geschrieben: Die örtliche Abteilung der Bauernbank kauft von dem Fiskus Güter, die bereits von deutschen Kolonisten besiedelt worden sind. Diese Güter sollen an kernrussische Bauern aufgeteilt werden, während die deutschen, langjährigen Pächter, die ihr Vermögen in den Boden gesteckt haben, einfach verjagt werden. Auf diese Weise werden auf den vom Apanagendepartement gekauften Gütern nicht weniger als zehn wohlbewirtschaftete deutsche Kolonien vernichtet werden, und zwar wird das fortlaufend bis zum Jahr 1911 geschehen, wann die letzten Kontrakte erlöschen. Auf das Gesuch der Kolonisten, die Ländereien ihnen zu verkaufen, erfolgte von der Bauernbank der kurze Bescheid, daß die Ländereien nicht an sie verkauft werden könnten und daß sie sich daher nach anderen Wohnorten umschauen möchten. Es wäre durchaus notwendig, daß die deutschen Abgeordneten derartige Vorkommnisse in der Duma zur Sprache brächten. Düna-Zeitung 12. (25.) Februar 1908 Vom Daseinskampf des Deutschtums in Wolhynien schreibt man uns aus Wolhynien: Die Auswanderungsbewegung der deutschen Landbevölkerung Wolhyniens, welche vor etwa fünfzehn Jahren begann, nimmt immer größere Dimensionen an und hat im Laufe der letzten Jahre sogar zur Auflösung ganzer Kolonien geführt. Es sind nicht etwa unüberlegter Wagemut, Leichtsinn und Spekulationssucht oder gar der uralte germanische Wandertrieb, sondern vielmehr die von Jahr zu Jahr schwieriger werdenden Lebensbedingungen, welche den hiesigen Deutschen veranlassen, in die Fremde zu ziehen, um sich eine neue Heimat und eine bessere Zukunft für sich und seine Kinder zu erwerben. Die große Masse der deutschen Bauern Wolhyniens ist schon als russische Untertanen hierher gekommen und zwar aus dem benachbarten Polen eingewandert. Nur ein kleiner Teil von ihnen ist direkt aus Deutschland oder Oesterreich hierher gekommen. Als im Jahre 1832 der polnische Aufstand losbrach, da waren die Deutschen nicht zu bewegen mit den Aufständischen gemeinsame Sache zu machen, wurden dafür aber von dem fanatischen Haß der Polen verfolgt, die ihnen während des Aufstandes und den darauf folgenden Jahren das Leben dermaßen unerträglich machten, daß ein großer Teil auszuwandern beschloß. Viele von ihnen verloren zur Zeit des polnischen Aufstandes ihr ganzes Hab und Gut und waren infolge dessen um so eher bereit sich eine neue bessere Heimat zu suchen. - Seit jener Zeit also begann die Einwanderung der deutschen Kolonisten Polens nach Wolhynien, wo heute die Zahl der Deutschen etwa beträgt, die sich auf über 350 Ansiedelungen oder Kolonien verteilen. Der Großgrundbesitz in Wolhynien war damals, als die Einwanderung begann und ist es auch heute noch - ausschließlich in polnischen Händen, während die breite Masse der Landbevölkerung aus russischen Bauern besteht. Wolhynien selbst bot zur Zeit der deutschen Einwanderung ein recht trauriges Bild: Die Städte waren verwahrlost, klein und schmutzig, mit einer überwiegenden Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 212
213 jüdischen Bevölkerung, von einer höheren Industrie kaum eine Spur. Über das flache Land hin verstreut zahlreiche schmutzige in Armut verkommene russische Dörfer mit einer auf niedrigster Kulturstufe stehenden indolenten Bevölkerung. Aber auch die meisten Güter der hiesigen polnischen Großgrundbesitzer befanden sich damals in recht trauriger Verfassung: Die Besitzer verschuldet in den Händen der Juden, die Felder äußerst vernachlässigt, die ehemals so reichen Waldungen zerstört und an ihrer Stelle weite, öde Flächen von Stubbenland, Waldblößen und Sümpfen. Die Einwanderung von deutschen Kolonisten kam daher den polnischen Gutsbesitzern sehr gelegen. Sie schickten rührige Agenten nach Polen, welche durch fleißige Agitationsarbeit die Bewegung immer mehr in Fluß brachten. Der Kolonist aber, welcher hier ansäßig werden wollte, mußte nehmen, was sich ihm bot. Auf vielen Gütern lagen hier unbenutzt viele Tausende von Losstellen von Stubbenland-Waldblößen und Sümpfen, welche dem nicht rationell wirtschaftenden polnischen Gutsbesitzer keine Einnahmen brachten und von ihm als Unland (неудобная 3емля) betrachtet wurde. Dieses für ihn unbrauchbare Land wurde dann an die deutschen Kolonisten teils verkauft, teils in Zeitpacht, teils auch in Erbpacht vergeben - und nun begann die Arbeit der deutschen Kulturpioniere zum Segen des ganzen Landes. - Dort, wo sich früher weite, öde Strecken hinzogen, entstanden durch deutsche Zähigkeit und deutschen Fleiß blühende Ansiedlungen mit freundlichen sauberen Wohnungen umgeben von Gärten und in schöner Kultur stehenden Feldern und Wiesen - die sogenannten deutschen Kolonien! Der Einfluß, den die große Kulturarbeit der deutschen Kolonisten auf das ganze Land ausübte, war naturgemäß ein gewaltiger. Während die russischen Bauerndörfer, welche nicht in der Nähe deutscher Kolonien liegen, noch heute durchweg ein trauriges Bild von Schmutz, Verwahrlosung und Indolenz bieten, so daß sich dem Neuling beim Passieren dieser Dörfer unwillkürlich der Ausruf über die Lippen drängt: und hier können Menschen wohnen! - hat so manches russische Dorf, welches in der Nähe deutscher Kolonien liegt, ein ganz anderes Ansehen. Hier hat der intelligentere russische Bauer von seinen deutschen Nachbarn den Gebrauch eiserner Ackergeräte und sogar schon der komplizierten landwirtschaftlichen Maschinen erlernt, in der Bearbeitung seiner Felder ist er gleichfalls mehrfach dem Beispiel der Deutschen gefolgt, und hat es sogar zu einem gewissen Wohlstande gebracht. - Bis zum heutigen Tage hat der deutsche Kolonist sich aber auch stets seine teuersten Güter im fremden Lande unter einem fremden Volke zu bewahren und erhalten gewußt: das sind sein evangelischer Glaube und sein deutsches Volkstum. Der deutsche Kolonist Wolhyniens lebt als Landwirtschaft treibender Ackerbauer ausschließlich von den Erträgen seiner von ihm intensiv bebauten Scholle. Seine ganze Zukunft und Existenzfähigkeit, wie auch die seiner Familie, hängt von den Lebensbedingungen ab, unter denen er seinem Beruf nachgehen kann. Diese Lebensbedingungen waren die ersten 25 Jahre nach der Einwanderung nicht ungünstige. Als aber Mitte der sechziger Jahre des XIX. Jahrhunderts die verhängnisvollen Ausnahmegesetze für die Grenzmarkengebiete des Russischen Reiches in Kraft traten, da ging es auch mit dem Wohlstande des deutschen Kolonisten langsam aber unaufhaltsam bergab. Durch Allerhöchsten Ukas vom 28. Oktober 1867 war zwar allen russischen Untertanen evangelischlutherischer Konfession in Wolhynien ausdrücklich das Recht zugestanden, jederzeit beliebig Grund und Boden als persönliches Eigentum zu erwerben, d.h. mit anderen Worten sie werden in Bezug auf Landerwerb mit der örtlichen russischen Bevölkerung als gleichberechtigt anerkannt, doch 19 Jahre später am 1. November des Jahres 1886 erfolgte ein einschränkendes Ausnahmegesetz, welches an sich ganz harmlos klang, für den deutschen Kolonisten aber einen schweren Schlag bedeutete. Durch dieses neue Gesetz wurde jeder deutsche Kolonist, der Grund und Boden in Wolhynien erwerben wollte, verpflichtet einen Erlaubnisschein zu diesem Kaufe vom Gouverneur vorzustellen, Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 213
214 ohne welchen Schein keine Korroboration des Kaufkontraktes stattfinden durfte. Da der Gouverneur in dieser Angelegenheit zugleich die erste und letzte Instanz war - so folgt daraus, daß die Sache bei einer Weigerung von Seiten des Gouverneurs aussichtslos, weil inappellabel war. Die Kolonisten sahen dieses Ausnahmegesetz anfangs leider als eine leicht zu erledigende Formalität an. Sie waren fest davon überzeugt, daß es ihnen als ruhigen, fleißigen und kaisertreuen Untertanen jederzeit leicht gelingen würde den Erlaubnisschein zu erlangen. Wie bisher schlossen sie daher auch weiter Vorkontrakte über Erwerb von Ländereien mit den örtlichen polnischen Gutsbesitzern ab, dabei die Hälfte oder gar auch die volle Summe des Kaufpreises entrichtend. Als aber nun über kurz oder lang zum Abschluß des offiziellen Kaufkontraktes beim Notarius geschritten werden sollte, verlangte dieser natürlich den Erlaubnisschein vom Gouverneur und da erst stellte es sich zur Verzweiflung der Kolonisten heraus, daß trotz aller angewandten Mühen und Kosten eine solche Erlaubnis ohne Motivierung der Gründe in den allermeisten Fällen überhaupt nicht erteilt wurde. Am schlimmsten dran aber waren diejenigen, welche auf Grund des Vorkontraktes schon den ganzen Kaufpreis für das von ihnen erworbene Land gezahlt hatten, denn abgesehen davon, daß sie gleich den andern exmittiert wurden, mußten sie nach 1684 des Zivilgesetzbuches eine hohe Strafe dafür zahlen, daß sie unbewegliches Eigentum ohne Zahlung der Stempelsteuer erworben hatten. Die polnischen Gutsbesitzer machten natürlich ein gutes Geschäft. Verkauften sie doch bald nach der Exmittierung der unglücklichen Kolonisten das jetzt wieder frei gewordene Land an andere Käufer, behielten aber das von den Kolonisten gezahlte Geld zurück. Viele Gutsbesitzer - klingt es nicht wie Hohn! - machten den von ihrem Eigentum vertriebenen Leuten den Vorschlag, das von ihnen doch schon einmal gekaufte Land - zu pachten, worauf denn auch manche eingingen, weil sie nicht die Möglichkeit hatten, ohne großen Zeit- und Geldverlust gleich eine neue Wirtschaft zu finden. - Durch Allerhöchst bestätigten Beschluß des Ministerkomitees vom 18. März 1895 wurde freilich formell für die Kolonisten-Landkäufer die Situation erleichtert, da alle Personen ausländischen Ursprungs (иностранные поселенцы), welche schon seit dem 13. März 1895 in Wolhynien ansässig geworden waren, eines Erlaubnisscheins zum Landkaufe vom Generalgouverneur nicht bedürfen. Schließlich wurde noch durch Allerhöchsten Befehl vom 1. Mai 1905 die Verordnung erlassen, daß Personen, die sich zur ev.-luth. Kirche bekennen, überhaupt keine Erlaubnisscheine zum Landankaufe vorzustellen haben. Leider aber ist der Erlass vom 13. März 1855 formell noch immer nicht aufgehoben. Infolgedessen fordern die polnischen und russischen Notare beim Abschluß neuer Kaufverträge im Wolhynischen Gouvernement noch heute von den ev.-luth. Käufern die Nachweise, daß die Leute schon seit dem 14. März 1855 in Wolhynien ansässig sind. Diese Nachweise sind aber bei den hier im Lande obwaltenden Verhältnissen so schwer zu erbringen, daß auch heute noch unseren hier lebenden Deutschen der Abschluß eines rechtskräftigen Kaufaktes auf Land fast zur Unmöglichkeit gemacht wird. - Ein schwerer Schlag hat soeben diejenigen deutschen Kolonien getroffen, welche durch langjährige Pachtverträge gesichert auf kaiserlichen Apanagenländereien gegründet waren. Im Jahre 1907 wurde diesen Leuten mitgeteilt, daß sämtliche Apanagenländereien des Gouvernements Wolhynien der Bauernagrarbank zur Aufteilung an die örtliche landlose Bevölkerung übergeben worden seien. Die Pachtverträge einer ganzen Reihe von Kolonien laufen in diesem und den darauffolgenden Jahren ab. Die Bauernagrarbank aber hat den deutschen Kolonisten erklärt: daß sie ihnen kein Geld zum Landkaufe leihen würde und außer-dem nach Ablauf der Pachtzeit das Land an russische Bauern aufteilen würde. Durch diese Maßregeln werden in Wolhynien eine große Anzahl blühender deutscher Kolonien der Vernichtung preisgegeben, und wieder heißt es für eine große Anzahl unserer deutschen Stammesbrüder: Du mußt fort von hier, greife wieder zum Wanderstabe und suche Dir in der Ferne eine neue bessere Heimat, aus welcher Dich niemand mehr vertreiben kann. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 214
215 Düna-Zeitung 7. Oktober 1908 Minsk. Ansiedlung deutscher Kolonisten gewünscht. Die Landkommission der Kreisstadt Owrutsch in Wolhynien bietet den Deutschen Gelegenheit, sich mit Hilfe der Bauernbank im Gouvernement Minsk Land zu erwerben. Der "Odess. Ztg." entnehmen wir den Text der Aufforderung, aus der zu ersehen ist, daß landlose deutsche Kolonisten, die die russische Untertangschaft besitzen, m i t H i l f e d e r B a u e r n a g r a r b a n k abgeteilte Höfe (хуторскіе участки) auf den Gütern Merliny und Lochwa des Mosirsker Kreises zu folgenden Bedingungen kaufen können: Waldparzellen bei Erlaß der Arrende vorläufig auf drei Jahre und abgeteilte Höfe bei einer Arrende auf 55 ½ Jahre unter Verabfolgung von Darlehen im Wert von 95 % des Wertes bei jährlicher Verzinsung mit 4 ½ %. Man weiß also offenbar den kulturellen Wert der deutschen Kolonisten hier zu schätzen! Rigasche Zeitung 29. November 1910 Ein Brief aus Wolhynien. In Anlaß des K o l o n i s t e n g e s e t z e s sehr eindringliche Sprache redende Schreiben: erhält die Pet. Ztg. folgendes schlichte, aber eine Die deutschen Kolonisten in Wolhynien, vorwiegend preußischer und württembergischer Abstammung, sind Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in Kongreß-Polen eingewandert, als es unter preußischer Verwaltung stand; sie wurden bei der letzten Teilung Polens russische Untertanen. Durch Drangsalierung seitens der Polen in den Aufstandsjahren 1831 und 1863 wurden sie zur Auswanderung nach Wolhynien veranlaßt. Ueber hundert Jahre sind die deutschen Kolonisten nach Einverleibung Polens in das Russische Reich treue Untertanen des russischen Staates und haben in dieser Zeit auf allen Schlachtfeldern Rußlands für Kaiser und Reich geblutet, sich nie um Politik gekümmert und sind stets loyale Untertanen gewesen. Der Vorwurf des Herrn Ministerpräsidenten im Gesetzprojekt über doppelte Untertanschaft seitens der Kolonisten ist ganz unbegründet; die Kolonisten fühlen sich nur als Untertanen des Russischen Reichs, und falls wirklich die deutsche Regierung ein Gesetz über doppelte Untertanschaft erlassen, so ist dieses den Kolonisten vollständig unbekannt, da sie mit dem Auslande in keiner Verbindung stehen. Kolonisten, Untertanen fremder Staaten, sind in Wolhynien sehr vereinzelt, und es würde die Beschränkung dieser in ihren Rechten von den nichteingewanderten Kolonisten anerkannt werden. Daß die deutschen Kolonisten in der Kultur höher stehend, zudem arbeitsam und vorwiegend nüchtern sind, kann ihnen doch unmöglich vom Herrn Ministerpräsidenten zum Vorwurf gemacht werden. Unzweifelhaft hat die indigene Bevölkerung aus dem Beispiele der Kolonisten großen Nutzen gezogen, wie der massenweise Uebergang der russischen Bauern Wolhyniens zu F o r m w i r t s c h a f t e n und zu geregelter Wirtshaftsweise beweist; auch wird ein Ausgleich der höheren Kultur in Bälde eintreten. Aus den erteilten Genehmigungen zum Landkauf im Jahre 1909, die der Herr Generalgouverneuer von Kiew, Podolien und Wolhynien erteilt hat, auf das Anwachsen des deutschen Grundbesitzes zu schließen, ist nicht richtig. Bis zum Jahre 1906 wurde fast jede Bitte um Landerwerb von seiten des Herrn Generalgouverneurs den deutschen Kolonisten abgeschlagen, nach dieser Zeit jedoch wurde jedem Bittsteller um Landwerwerb seine Bitte gewährt. Nun bemühte sich fast jeder Kolonist um die Erlaubnis zum Landkauf, zum Teil um Privatverträge zu korroborieren, ein kleiner Bruchteil vielleicht zum Neuerwerb, die größte Masse der Erlaubniserteilungen ist jedoch gar nicht realisiert worden, Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 215
216 worüber Beweise leicht zu liefern sind. Der Landzuwachs der deutschen Kolonisten im Jahre 1909 kann nur duch statistischen Ausweis der notariellen Kaufabschlüsse nachgewiesen werden. Nach der letzten Volkszählung im Jahre 1897 hat kein Zuzug von deutschen Kolonisten stattgefunden, dagegen aber eine s t a r k e A b w a n d e r u n g, die den natürlichen Zuwachs mehr wie aufwiegt. Die Daten von 1897 über russische Untertanen in Wolhynien, die die deutsche Sprache als ihre Muttersprache bezeichneten, sind für die Gegenwart eher zu hoch als zu niedrig bemessen. Wenn vom ganzen außerstädtischen Lande 9 % in den Händen der deutschen Kolonisten sein sollte, so müßte nach den Daten von 1897 jede Seele 5 Dessjatin Land besitzen, während in Wirklichkeit im Durchschnitt kaum 5 Dessjatin auf eine Familie, zu 5 Seelen gerechnet, kommen. Rigasche Zeitung 12. September 1913 Deutsches Reich. Erhöhte Staatsmittel zur Förderung der Rückwanderung. Wir lesen in der "Tgl. Rdsch.": Wie wir hören, sind Erwägungen im Gange, die sich mit einer Förderung der Rückwanderung deutscher Elemente i n g r o ß e m M a ß s t a b e befassen, zu welchem Zwecke erhöhte Staatsmittel angesetzt werden müßten. Mit Rücksicht auf die immer bedenklicher werdende Entwicklung der L a n d a r b e i t e r f r a g e und im Hinblick auf die zunehmend günstigen Ergebnisse der Rückwanderung erweist es sich als unbedingt notwendig, daß sich die Regierung in einem weit höheren Maße als bisher bemüht, eine Rückwanderung der deutschen Elemente im großen herbeizuführen. Tatsächlich würde der Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderung bei entsprechender vermehrter Unterstützung wohl in der Lage sein, n o c h v i e l e T a u s e n d e v o n F a m i l i e n n a c h D e u t s c h l a n d z u b r i n g e n, wobei erleichternd ins Gewicht fällt, daß ein großer Teil der Rückwanderer durchaus nicht arm ist. Die rückwandererfrage ist auch d a d u r c h j e t z t b e s o n d e r s b r e n n e n d g e w o r - d e n, weil die rein deutschen Elemente, die namentlich an der Wolga. in Wolhynien angesiedelt sind, von der russischen Regierung abgeschoben werden und die verschiedensten, zum Teil mit Erfolg gekrönten Bestrebungen bestehen, sie nach B r a s i l i en, A r g e n t i n i e n, K a n a d a u n d S i b i r i e n a b z u l e i t e n. Dann durfte die Frage der R e g e l u n g d e r D e c k u n g d e s L a n d b e d a r f s d e r a n s i e d l u n g s l u s t i g e n R ü c k w a n d e r e r einer Prüfung zu unterziehen sein. Ein Teil der Deutschen ist durch den Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer bereits in Deutschland untergekommen, was auch zum Teil in den Ansiedlungsprovinzen geschehen ist, und erfreulicherweise bemühen sich jetzt immer immer mehr Landwirtschaftskammern um die Ansiedlung. So auch von den nicht-östlichen Provinzen Schleswig- Holstein und Westfalen. Wenn auch nicht alle Elemente, die unter den Rückwanderern sich befinden, als wertvoll anzusprechen sind, so ist doch die große Mehrzahl von ihnen durchaus brauchbar und zum Teil ganz vortrefflich. Als ein besonders bedenklicher Mißstand hat sich leider geltend gemacht, daß die S c h i f f f a h r t s g e s e l l s c h a f t e n die Rückwanderer in das Ausland bringen, und daß es auf Grund des Auswanderergesetzes nicht möglich ist, zu erreichen, daß die von den Schiffahrtsgesellschaften "gekauften" Rückwanderer in Deutschland bleiben. Rigasche Zeitung 14. Februar 1915 Nach dem Gesetz über die Liquidierung des deutschen Grundbesitzes müssen in Wolhynien über Dessjätinen Land versteigert werden. Freihändig haben die Kolonisten bereits gegen 2000 Dessj. veräußert. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 216
217 Rigasche Zeitung 18. Juli 1915 Shitomir. In den ersten Tagen des Juli hat die A u s s i e d e l u n g d e r d e u t s c h e n K o l o n i s t e n begonnen. Aus den Kreisen Rowno, Kowel u.a. sind bereits über 150 Partien abgeschoben worden. Die großen deutschen Kolonien Kamenka, Feodorowka, Bojarka, Kaisersdorf u.a. bieten den Anblick von Jahrmärkten: der gesamte Besitzstand wird ausgeführt Vieh, Hausrat, Getreide, Maschinen; das meiste wird von den Landschaften aufgekauft. Der Schlußtermin der Evakuierung ist der 20. Juli. Rigasche Zeitung 30. Juli 1915 Tula deutsche Kolonisten aus dem Gouvernement Wolhynien sind in diesen Tagen wieder über Tula nach Ost-Sibirien gereist. Nach genannten Daten sind bisher über Tula Kolonisten gekommen. Rigasche Zeitung 6. August 1915 Kiew. 3. August. In den Kreisen Owrutsch und Nowograd-Wolhynsk sind die örtlichen Behörden, nach der "Rußl. Sslowo", daran gegangen, die g a l i z i s c h e n F l ü c h t l i n g e a u f d e n L ä n d e r e i e n d e r a u s g e s i e d e l t e n d e u t s c h e n K o l o n i s t e n unterzubringen. Libausche Zeitung 28. September 1915 Ueberflüssige Menschen Ein stimmungsvolles Bild der russischen Evakuierung, die jetzt auf riesige Gebiete Westrußlands sich erstreckt, gibt ein Korrespondent des Moskauer Rußkoje Slowo aus Ufa in einem Artikel unter dem Titel Ueberflüssige Menschen. Die Welle der Flüchtlinge - schreibt der Korrespondent des erwähnten Blattes - hat ganz Rußland überschwemmt, hat den Ural erreicht und fließt weiter. Aus den Zeitungen weiß ich, in welchen Zuständen sich die Flüchtlinge in Moskau befinden schrecklich zu lesen! - und dennoch sage ich, daß deren Moskauer Leben ein Paradies ist im Vergleich mit dem, was ich hier, in Ufa, sehe. In Moskau haben sie ein Dach über dem Kopf, Brot und, was das Wichtigste ist, das Bewußtsein, daß es jemanden gibt, der sich ihrer annimmt. Hier aber haben sie folgendes: Auf den Reservegeleisen der Eisenbahnstation Ufa, weit vom Bahnhof entfernt, stehen lange Züge mit Flüchtlingen. Neben jedem wird nasse, doch nicht gewaschene Wäsche getrocknet. Ueber und unter den Wagen laufen Kinder umher. Drinnen sind auf einem Haufen Leute und Sachen zusammengeschlendert. Die Kleidung ist elend und zerrissen. Gehe von einem Wagen in den anderen, beginne ein Gespräch - Russisch sprechen und verstehen nicht alle. Viele Polen, auch Litauer, Weißruthenen und Ukrainer sind hier vertreten. Nein, russische Sprache hört man gar nicht, einige sprechen irgendwelche nie gehörte Dialekte. Frage einen: er schweigt. Sein Nachbar erklärt, daß er keine fremde Sprache versteht. Welche spricht er denn? Nur Wolhynisch! Es gibt deren hier einen ganzen Wagen, aus Wolhynien. Wohin fahren sie denn? Die Antwort lautet bei allen genau so: Wir wissen es selbst nicht! Man läßt uns fahren, immer weiter, aber wohin wissen wir nicht. Und wie lange fahren sie! Bereits vier Wochen Es ist uns gewiß egal, sie Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 217
218 mögen uns schleppen, aber sie könnten wenigstens sagen wohin? Ein anderer unterbricht: Man sagte, nach Sibirien. Es ist uns gleichgültig. Jedenfalls dem Tode näher! Ich frage, ob sie heute schon gegessen haben? Sie antworteten mir alle gleichzeitig: Nichts haben wir gegessen seit Samara. Wir warten Der Zug von Samara bis Ufa geht aber mehr als vierundzwanzig Stunden Mit Hunger, Unreinlichkeit und Platzmangel fahren mit den Flüchtlingen gewiß auch Krankheiten. Zu jedem Wagen frage ich: Gibt es Kranke? Und fast in jedem zeigt jemand mit einem ermatteten Blick auf seine liegenden Reisegefährten. Und war bei ihnen ein Arzt? Verneinend winken sie mit den Köpfen. In einem anderen Wagen erblicke ich mehrere Kranke mit gelber Haut in Krämpfen, Uebergeben, Krämpfe - Art der Krankheit, Cholera, ist klar. In einem Wagen zwischen den Sachen liegt eine Frau am Boden. Ihr Gesicht ist mit einem Tuche bedeckt. Das Gespräch ist kurz: Krank? Tot. Seit wann? Noch in der Früh. Ich sehe auf die Uhr: es ist 4 vorbei. Sind noch Tote in den Zügen? Viele. Es kommen die Vertreter des kriegsindustriellen Komitees. Sie tun aber nichts. In den Zügen unter den Flüchtlingen gibt es viele Handwerker. Die Komitees aber klagen über Mangel an Arbeitskräften. Es schien, als ob der Zug der Station der Ewigkeit entgegenfuhr, wo alle diese das letzte Mal umsteigen werden Libausche Zeitung 7. Januar 1916 Eine neuerliche Verfügung des russischen Ministers des Innern ordnet die Verschickung der an der Bahnstrecke Rowno-Berditschew-Antonowska angesiedelten deutschen Kolonisten nach Sibirien an. Die Zahl der hiervon betroffenen Personen beträgt Libausche Zeitung 24. Januar 1916 ( ) Vor dem Kriege besaß Pinsk etwa Einwohner, gegenwärtig zählt die Stadt etwa Einwohner. Wohl wanderten in den letzten Tagen der russischen Herrschaft manche der Wohlhabenden aus, dagegen haben aber große Flüchtlingsscharen aus Polen und Wolhynien hier Zuflucht gefunden, so daß die Bevölkerung sich noch bedeutend vergrößert hat. Obwohl die russische Front an manchen Stellen nur 4 Kilometer entfernt ist und russische Flieger fast täglich die Stadt umkreisen, pulsiert das städtische Leben ununterbrochen weiter. ( ) Libausche Zeitung 4. Februar 1916 Die Zahl der russischen Flüchtlinge (Auszug) In mehreren europäischen Gouvernements, darunter Kiew, wo auf den Dörfern Scharen von Flüchtlingen leben, in Wolhynien, wo Flüchtlinge, die in den Wäldern hausen, öffentliche Unterstützung erhalten, und in Riga, wo Flüchtlinge geblieben sind, hat keine Zählung stattgefunden, ebensowenig im Kaukasus und in Sibirien. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 218
219 Libausche Zeitung 26. Februar 1916 ( ) Aus dem Gouvernement Wolhynien wurden bisher insgesamt deutsche Kolonisten in die Gouvernements Astrachan und Orenburg ausgewiesen. Die enteignete Landfläche wird auf Deßjatinen geschätzt. Die Wiederbesiedelung dieser Landflächen durch die Bauernbanken scheint inzwischen noch nicht möglich gewesen zu sein. Aus den Klagen der russischen Zeitungen geht hervor, daß der Verkauf des enteigneten Bodens allzu langsam von statten geht. Darum sollen nun alle möglichen neuen Erleichterungen geschaffen werden, um den Boden in die Hände der echt russischen Bauernbevölkerung zu bringen und vielleicht auch die Scharen der aus dem Kriegsgebiet evakuierten Flüchtlinge, soweit sie noch nicht zu Grunde gegangen oder nach Sibirien verschleppt sind, auf den geräumten Bauerngütern anzusiedeln. ( ) Uebrigens hat sich der berüchtigte lettische Dumaabgeordnete Goldmann veranlaßt gesehen, in einem Telegramm an den Minister des Innern Beschwerde zu führen, daß das Enteignungsgesetz in Wolhynien auch auf die dort angesiedelten lettischen Kolonisten angewandt werde. Die Ortsbehörden machen zwischen deutschen und lettischen Kolonisten keinen Unterschied. Infolgedessen bedroht die Enteignung und der bereits begonnene Verkauf des Inventars nach den Worten des Herrn Goldmann, auch die lettischen Wirtschaften (!) mit dem vollkommenen Ruin. Auf Veranlassung des Reichsratsmitglieds Beljajeff wird die Enteignung in Wolhynien mit besonderer Schnelligkeit betrieben. Nach Shitomir und Umgebung wurden 46 Mann als Liquidatoren abgesandt, die den Befehl hatten, am 10. Februar ihre Arbeit zu beginnen. Zum 17., 27. und 28. Februar haben sich dort fünfzehn Begleitmannschaften einzufinden, um die enteigneten Deutschen auf der Eisenbahn bis Orenburg und Astrachan zu begleiten. Dieser Liquidationskommission stehen 40 Schreiber zur Verfügung. ( ) Libausche Zeitung 29. Februar 1916 Die deutschen Kolonisten. Wieder sind, wie die russischen Zeitungen melden, allein aus vier Kreisen Wolhyniens d e u t s c h e K o l o n i s t e n n a c h A s t r a c h a n u n d O r e n b u r g v e r s c h i c k t worden. Die ihnen gehörigen Dessjatinen Land werden sequestriert und den russischen F l ü c h t l i n g e n übergeben. Libausche Zeitung 6. März 1916 Deutsche Not in Rußland (Originalbericht der Libauschen Zeitung ) Das Elend der unzähligen, nach Sibirien ausgesiedelten deutschen Kolonisten, denen mit der Brutalität und Willkür des Asiaten alles Hab und Gut genommen wird nur weil sie Deutsche sind, muß ganz grenzenlos sein. Jedenfallst liest man die russischen Berichte über diese gewalttätige Evakuation voller Grauen. Bezeichnend ist in diesem Sinne folgende Notiz der Russk Siswo : Infolge des Umstandes, daß die zahllosen Züge mit deutschen Kolonisten, die aus dem südlichen und südwestlichen Rußland nach Sibirien transportiert werden, die Bahnstrecken allerorten sperren und tagelang auf den Stationen liegen bleiben, hat das Verkehrsministerium der Verwaltung der Südwestbahnen vorgeschrieben dafür zu sorgen, daß den Kolonisten weitere Wagen und Züge zur Verfügung gestellt werden. Laut Berichten des Ministeriums liegen gegenwärtig gegen deutsche Kolonisten auf den Bahnstrecken in ungeheizten Zügen ohne weiter zu kommen. Es soll dafür gesorgt werden, daß auf den Stationen warmes Wasser und Brot in genügender Menge für die Kolonisten vorrätig ist und auch sanitäre Hilfe stets zur Hand ist. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 219
220 Es muß an dieser Stelle wiederum betont werden, daß es sich hinsichtlich dieser Unglücklichen nicht um eine feindliche Bevölkerung, sondern um schuldlose russische Untertanen handelt und daß fast jede dieser in die Ungewißheit hinausgetriebenen deutschen Familien Angehörige im russischen Heere stehen hat Libausche Zeitung 10. April 1916 Aus Stockholm wird der Frankf. Ztg. gedrahtet: aus W o l h y n i e n a u s g e w i e - s e n e d e u t s c h e K o l o n i s t e n sind jetzt in der Richtung nach Orenburg im Ural unterwegs. Nach der Nowoje Wremja wurden bisher 275 lutherische Schulen in Wolhynien geschlossen. Die verlassenen Güter werden auf Anordnung des Befehlshabers der Südwestfront zwangsweise mit Flüchtlingen besiedelt, zunächst mit solchen, die noch Vieh besitzen. Den in den Gouvernements Moskau, Minsk und Wolhynien vertriebenen Flüchtlingen, die fortfahren, die Arbeit zu verweigern, soll die staatliche Unterstützung entzogen werden. Libausche Zeitung 9. August 1916 Moskowskija Wjedomosti schreiben: Mit den wolhynischen deutschen Kolonisten ist der Oberkommandierende der Südwestfront ausgezeichnet verfahren. Sie sind aus dem Gouvernement ausgesiedelt und ihr Land sequestriert (! Die Red. der Lib.Ztg. ). Das Landwirtschaftsministerium hat darauf schon an Flüchtlinge angesiedelt. Das ist der einzig richtige und gerechte Entschluß, dessen Nachahmung in den anderen Gebieten man nicht stören sollte. (Wieder ein Schandblatt mehr zur Geschichte der Verfolgung des Deutschtums in Rußland. Die Red.) Libausche Zeitung 13. September 1917 Agrarunruhen in Wolhynien. Berlin, 12. September (Privat). Die Deutsche Tageszeitung meldet aus Stockholm vom 11. September: Nach einer Meldung der Rjetsch haben die Agrarunruhen im Gouvernement Wolhynien einen erschreckenden Umfang angenommen. In vielen Ortschaften sind die Anlagen der Zuckerfabriken vernichtet und die Rübenfelder zerstört worden. Die Bevölkerung hat die in den Fabriken aufgestapelten Brennmaterialien geraubt, so daß die Betriebe mit der diesjährigen Zuckerkampagne nicht beginnen können. Auf dem Lande widersetzen sich die Bauern der Einführung des Getreidemonopols und liefern die beschlagnahmten Getreidevorräte nicht ab. Libausche Zeitung 18. April 1918 Die deutschen Bauernsiedlungen in Rußland. Die Zusatzverträge zu den Friedensverträgen sowohl mit der ukrainischen Volksrepublik wie mit Rußland enthalten unter der Bezeichnung Fürsorge für Rückwanderer mehrere Bestimmungen, die darauf gerichtet sind, den in Rußland lebenden Bauern die Rückkehr in das alte Vaterland ohne wirtschaftliche Nachteile zu ermöglichen. Diese Bestimmungen verdienen ein besonders warmes Interesse. Denn es handelt sich um rund zwei Millionen deutsche Bauern, gute Deutsche, die in den 100 bis 150 Jahren, die sie in den verschiedenen Gebieten Rußlands zugebracht haben, ihr Deutschtum wohl bewahrt und von Geschlecht zu Geschlecht weiter vererbt haben. Sie gehören in ihrer Tüchtigkeit und Arbeitsamkeit zu den wertvollsten Stützen des russischen Wirtschaftslebens. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 220
221 Und doch hat man, nachdem man bereits in den letzten Jahrzehnten ihre Rechte immer stärker beschränkt hatte, in den meisten Teilen Rußlands seit dem Ausbruch des Krieges sich nicht gescheut, ihnen rücksichtslos ihr Hab und Gut zu rauben und sie zu Bettlern zu machen. Dies gilt in erster Linie für die Deutschen in Wolhynien, die mindestens Köpfe zählen, aber auch von den deutschen Kolonisten in Polen, Bessarabien, in den Gouvernements Cherson, Jekaterinoslaw, in Taurien, im Dongebiet und im Kaukasus. Eine gute Zahl Besitzungen in den genannten Gebieten und ebenso die ausgedehnten Kolonien im Wolgagebiet und in Sibirien sind aber erfreulicherweise den deutschen Ansiedlern bisher erhalten geblieben. Das traurige Schicksal, das die meisten deutschen Bauern in Rußland infolge des Krieges erlitten haben und das wir nun wieder gut zu machen bestrebt sind, erscheint als eine um so schmachvollere Ungerechtigkeit, als alle diese Deutschen einst von den Russen ins Land gerufen worden sind, um die ungeheuren Ebenen ihres Reiches zu bevölkern und urbar zu machen und sie höheren wirtschaftlichen und kulturellen Zuständen entgegenzuführen. Katharina II. hat besonders zu den Ansiedlungen an der Wolga und in Wolhynien und Südrußland den Grund gelegt. Auch hat sie deutsche Bauern nach Livland, wo ja schon ein halbes Jahrtausend früher deutsche Ritter, deutsche Kaufleute und Geistliche heimisch geworden waren, und in die Gegend von St. Petersburg gerufen. Alle diese Einwandererfamilien haben sich im Laufe der Zeit stark vermehrt und ausgedehnt, und überall sind aus wenigen Dutzend Dörfern viele Hunderte geworden. Zu beiden Seiten der Wolga, in der Gegend der Stadt Saratow, also im östlichen Gebiet des Europäischen Rußland, wohnten vor dem Kriege auf einem Raum etwa in der Größe des Königreichs Sachsen rund deutsche Bauern, und darüber hinaus hatten sich deutsche Kolonien bis nach Sibirien und Mittelasien hinein ausgebreitet. Die Kolonien in Wolhynien vergrößerten sich stark, als zu den ursprünglich aus der Gegend um Frankfurt am Main eingewanderten Bauern neue deutsche Kolonisten hinzuzogen, die bis dahin in Polen gelebt hatten und durch die polnischen Revolutionen von 1830 und 1863 zum Weiterwandern veranlaßt wurden.( ) Allen deutschen Kolonisten gemeinsam ist, daß sie in bewundernswerter Weise deutsche Sprache, deutsche Art und Sitte sich im Laufe des langen Lebens in der Fremde voll bewahrt haben. Das deutsche Volkstum ist als kostbarstes Erbgut jedem neuen Geschlecht übermittelt worden, und es ist das einigende Band, das alle die weit verstreuten Kolonien untereinander und mit der alten Heimat verknüpft. In Kirche und Schule, aber auch in Volksfesten, Volksliedern und -spielen pflanzt es sich fort. Deutsch ist nicht nur die Arbeitstüchtigkeit dieser Bauern, kraft deren sie sich weit über die wirtschaftlichen Zustände ihrer russischen Nachbarn erhoben haben, sondern auch ihre Frömmigkeit. Das alles wird ihnen zustatten kommen, wenn sie nun wieder näheren Anschluß an die deutsche Heimat finden werden. Nachdem in den Kriegsjahren unzählige der deutschen Ansiedler unverschuldet verschleppt, vertrieben und zu Bettlern gemacht worden sind, wird ihr Drang um so lebhafter sein, sich dem Schutze des Deutschen Reiches anzuvertrauen, und um so größer ihre Befriedigung darüber, wenn sie aus den Friedensverträgen sehen, daß ihr deutsches Vaterland ihrer nicht vergessen hat und ihnen diesen Schutz gern gewährt. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 221
222 Rigasche Zeitung 19. April 1918 Die Deutschen Kolonisten. Kiew, 16. April. Nach einer Meldung der Kiewer Zeitung Kiefskaja Myssl hat der ukrainische Landwirtschaftsminister entschieden, daß die deutschen Kolonisten, die im Jahr 1915 infolge der russischen Kriegsgesetze aus Wolhynien vertrieben wurden, ihr Inventar, Eigentum und Land aufgrund des provisorischen Landesgesetzes zurück erhalten können. Rigasche Zeitung 2. Mai 1918 Die deutschen Rückwanderer aus Wolhynien Königsberg, 1. Mai. Man schreibt der Hart. Ztg. : Im vorletzten Sommer verstärkte sich die Rückwanderung deutscher Bauern aus Wolhynien sehr erheblich. Fast alle Rückwanderer hatten den Wunsch, in O s t p r e u ß e n angesiedelt zu werden; die Höhe der Baukosten, die eine wirtschaftliche Ansiedlung undurchführbar macht, hat die Verwirklichung dieses Wunsches einstweilen verhindert. Der größte Teil der Rückwanderer hat infolgedessen Beschäftigung als Landarbeiter gefunden und damit zur Linderung der Arbeiternot beigetragen. Insgesamt haben in Ostpreußen rund wolhynische Rückwanderer Aufnahme gefunden. Die mit ihnen gemachten Erfahrungen sind allgemein als günstig zu bezeichnen; die Eingewöhnung in unsere Verhältnisse hat gute Fortschritte gemacht, was um so erfreulicher ist, als der weitaus größte Teil der Rückwanderer niemals in abhängiger Stellung gewesen ist. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß nach Beendigung des Krieges, auch wenn die Ansiedlungstätigkeit wieder aufgenommen ist, ein erheblicher Bruchteil für die Landarbeiterschaft erhalten bleibt. Rigasche Zeitung 27. Mai 1918 Berlin, 18. Mai. Es wird der Tägl. Rdsch. geschrieben: Schleswig-Holstein nimmt zum zweiten Male von Kriege betroffene o b d a c h l o s e A u s w a n d e r e r auf. Die vor dem r u s - s i s c h e n E i n b r u c h i n O s t p r e u ß e n geflohenen Bewohner des Landes, die mit ihrem Viehbestand und sonstigen Habseligkeiten hauptsächlich in der schleswig-holsteinischen Landwirtschaft ein Unterkommen fanden, haben ihre Zufluchtstätte meistens wieder verlassen. Nun sind d e u t s c h e K o l o n i s t e n a u s R u ß l a n d in S c h l e s w i g - H o l s t e i n a n- g e k o m m e n, die bei Kriegsausbruch in W o l h y n i e n wohnten und ins Innere Rußlands und nach Sibirien verbannt wurden. Die Revolution hatte sie frei gemacht, doch fanden sie ihre Wohnstätten von anderen Russen beschlagnahmt und standen völlig mittellos da. Ein großer Teil dieser Rückwanderer hat in Schleswig-Holstein eine neue Heimat gefunden, zumeist sind sie in der Landwirtschaft untergebracht worden. Die Männer, die von der Verbannung verschont bleiben, aber zwangsweise ins russische Heer eingestellt wurden, also gegen uns im Felde standen, tragen russische Uniformen und Abzeichen. Schleswig-Holstein hat also eine Menge russisches Militär im Lande, allerdings in ganz anderer Erscheinung, als sich die Entente eine Okkupation von ihnen gewünscht hatte. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 222
223 Rigasche Zeitung 7. Dezember 1918 Königsberg i.pr. Die Rückwandererfürsorgestelle Kowil warnt dringend die deutsch-russischen Rückwanderer (Wolhynier) vor der Heimkehr in die Ukraine. Die Unsicherheit durch Banden sei dort groß und es mangele an Wagen. Jeder, der zurückzieht, tue es auf eigene Gefahr. Rigasche Rundschau 27. Juli 1925 Deutsche Rußlandflüchtlinge. Das Zentralkomitee in Berlin. Auswanderer in Amerika und Afrika Von unserem pp.-korrespondenten, Berlin, im Juli. Unter den Bestimmungen des F r i e d e n s v o n B r e s t - L i t o w s k war auch eine, die die ungehinderte Rückwanderung deutschstämmiger russischer Untertanen garantierte. Für diese Leute wurde das schöne Wort Reemigranten geprägt. Deutschland ist wohl damals von der Idee ausgegangen, die an ein kontinentales Klima gewöhnten südrussischen Kolonisten nach Friedensschluß in Südwestafrika anzusiedeln. Es kam anders. Deutschland verlor sämtliche Kolonien, hatte aber in den Jahren 1918 und 1919 etwa D e u t s c h e a u s R u ß l a n d aufgenommen, besonders viele aus Wolhynien, aber auch aus allen anderen Teilen Rußlands. Diese Rückwanderer fanden großenteils auf den Landgütern in Ostdeutschland, die ja immer auf Wanderarbeiter angewiesen sind, Beschäftigung. Schwieriger war die Unterbringung derjenigen, die keine Landarbeiter waren. Und auch die anderen, die als Arbeiter ihr Brot verdienten, konnten sich nicht an die hiesigen Verhältnisse gewöhnen. Vor allem war ihnen bei den hohen Bodenpreisen und der unerläßlichen intensiven Bewirtschaftung der Erwerb eigenen Grund und Bodens in Deutschland fast unmöglich gemacht. Das aber ist das Ziel jedes Kolonisten. - Es ist daher verständlich, wenn diese Reemigranten sich wieder danach sehnen, irgendwohin auszuwandern, wo primitivere Verhältnisse für den einfachen Mann bessere Möglichkeiten zum Fortkommen bieten. Alle diese Tendenzen finden ihren Sammelpunkt im Z e n t r a l k o m i t e e der Deutschen aus Rußland, an dessen Spitze Pastor S c h l e u n i n g, selbst aus Südrußland gebürtig, steht. Diesem Berliner Zentralkomitee sind neun verschiedene Vereine der aus verschiedenen Teilen Rußlands geflüchteten Deutschen angeschlossen. Das Zentralkomitee gibt eine Monatsschrift heraus: Deutsches Leben in Rußland, die den Flüchtlingen Nachrichten aus der alten Heimat vermittelt. Doch gehen auch zirka Exemplare nach Sowjetrußland, wo ja das deutsche Zeitungswesen völlig darniederliegt. Ferner steht das Zentralkomitee in Verbindung mit der Sowjetvertretung und den für Auswanderung in Betracht kommenden deutschen Reichsbehörden. Schließlich vermittelt das Komitee Geldsendungen und gibt den Vereinsmitgliedern Auskünfte in Kreditangelegenheiten und über Auswanderungsmöglichkeiten. - Auf letzteres möchte ich näher eingehen. Von den Flüchtlingen aus Sowjetrußland sind noch Kolonisten, einschließlich Frauen und Kinder, in Deutschland, die übrigen sind wieder abgewandert. Nach Rußland sind so wenige zurückgekehrt, daß man überhaupt von einer Rückkehr in die Heimat kaum reden kann. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind dort zu ungünstig. Das Hauptgebiet der Auswanderung ist K a n a d a, und zwar die drei Provinzen: Manitoba, Saskatschewan und Alberta mit den Städten Winnipeg, Saskantown und Edmonton, ferner der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 223
224 Unionsstaat Nord-Dakota. Während für Reichsdeutsche noch starke Beschränkungen bestehen, ist die Einwanderung staatenloser Kolonisten nicht nur frei, sondern wird sogar gefördert. Dies geschieht hauptsächlich durch die Lutheran immigration Board of Canada. Unverheiratete Arbeiter oder solche, die ihre Familie zurücklassen, erhalten das Reisegeld vorgeschossen, wofür sie sich als farmhelps (Farmhelfer) für ein Jahr verpflichten. Diesen Vorschuß können sie mit einem Halbjahreslohn abarbeiten. Da Pferde, Vieh und alles Wirtschaftsinventar außerordentlich billig ist, (eine Milchkuh kostet 20 Dollar, der Arbeiter bekommt aber einen Monatslohn bei freiem Leben Dollar) so kann er sich bald selbständig machen, zunächst als Halbkörner, und seine Familie nachkommen lassen. Auf diese Weise hat das lutherische Einwanderungsbüro im Jahre 1924 zirka 1000 Mann befördert und will in diesem Jahre 2500 Kolonisten aus Deutschland kommen lassen, die bei deutschen Farmern untergebracht werden. Die Praxis hat nämlich erwiesen, daß die Mittelwirtschaften mit zwei bis sechs Knechten das rentabelste sind und daß man eben ohne Lohnarbeiter in diesen Breiten nicht auskommen kann. Die Auswanderung deutscher Kolonisten aus Rußland nach Kanada hat schon vor 30 Jahren begonnen. Man schätzt ihre Zahl mit den dort geborenen Kindern (inkl. Nord-Dakota) auf bis S e e l e n. Viele von ihnen sind durch die günstigen Verhältnisse während des Krieges zu großem Wohlstand gelangt. Anderen Ländern gegenüber hat Kanada den Vorzug, daß es als weizenbauendes Land den Kolonisten weniger fremdartig ist, als Länder mit Reis- und Baumwollproduktion. Die Konkurrenz Farbiger fällt fort. Die Kälte und Einsamkeit im Winter auf den streu gelegenen Farmen ist leichter zu ertragen als die Hitze des Südens und der Lohn wird bei den primitiven Verhältnissen nicht so schnell verzehrt wie in dichter bevölkerten Gegenden (Brasilien, Argentinien). Während die Bevölkerung in Ostkanada zur Hälfte Franzosen, zur Hälfte Engländer sind und in Britisch Columbia am Stillen Ozean nur Engländer siedeln, beträgt die angelsächsische Bevölkerung der für die Auswanderung bestimmten Provinzen nur 60 Prozent, während 40 Prozent aus Deutschen, Skandinaviern und Kleinrussen sich zusammensetzt, als Leuten, die an Rasse und Kultur einander nahe stehen. Das bringt nun freilich auch die Gefahr schneller E n t n a t i o n a l i s i e r u n g, denn das Englische ist leicht zu erlernen und bildet das Ferment zwischen den verschiedenen Volksstämmen, die sich dort schnell heimisch und als Kanadier fühlen. Das Klima ist viel rauher als in Deutschland und Lettland und gleicht dem von Sibirien. Neben der Auswanderung nach Kanada verdient die nach M e x i k o Beachtung. Hier haben im vorigen Jahr die Rußlanddeutschen zwei große Güter (über 9000 Hektar) gekauft und mit 70 Familien besiedelt. Weiterer steht bevor. Bei dieser Ansiedlung handelt es sich nur um kapitalkräftige Leute, die zugleich ausdauernde Arbeiter sind. Bei diesen Bedingungen läßt sich auf dem guten Boden in schönem Klima auch guter Erfolg prophezeien. Die Verhältnisse liegen dort insofern günstig, als die Landarbeiter in großen Mengen in die Städte ziehen, wo die schnell wachsende Industrie größere Löhne bietet. Daher ist der Uebergang von dem bisher üblichen extensiven Großbetrieb zur Farmerwirtschaft nach amerikanischem Muster eine Politik, die von der Regierung unterstützt wird; und da der Mexikaner zu intensiver Wirtschaft keine Lust hat, so hat der europäische und kanadische Kolonist hier beste Entwicklungsmöglichkeit. Die mexikanische Kolonisation wird finanziert und betrieben durch die Genossenschaft N u e v a W o l h y n i a, die mit dem Berliner Zentralkomitee in engster Fühlung steht. Der Name deutet schon darauf hin, daß es hauptsächlich Kolonisten aus Wolhynien sind. die hier neben den schon bestehenden Menonitenkolonien die Siedelung betreiben. ( ) Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 224
225 Rigasche Rundschau 5. März 1926 Deutschrussen. Deutsche Kolonisten und polnische Saisonarbeiter in Deutschland. von Carlo von Kügelgen, Berlin [ ] Am 25. Februar verließen 110 Familien rußlanddeutscher Kolonisten, etwa 600 Köpfe, Hamburg mit dem Dampfer General Belgrano der Hugo-Stinnes-Linie, um sich als Arbeiter auf den Kaffeepflanzungen in B r a s i l i e n eine eigene Scholle zu erarbeiten. Die vor mehr als Jahresfrist in Berlin gegründete Arbeitsgemeinschaft deutscher Kolonisten aus der Ukraine und Polen hat mit der gleichfalls von rußlanddeutschen Kolonisten ins Leben gerufenen Wirtschaftsgenossenschaft Heimataufbau die geordnete Uebersiedlung der rußlanddeutschen Kolonisten in die Hand genommen, soweit sie in Deutschland weder Land, noch entsprechende Arbeit zu erhalten vermögen. Es handelt sich hier um echtdeutsche Bauern von altem Schlage, die mit ihren Frauen und zahlreichen Kindern die deutsche Stammesheimat verlassen, in der sie a u s R u ß l a n d v e r t r i e b e n, eine bleibende Stätte zu finden gehofft hatten. Am Tage vor ihrer Abreise ging durch die deutsche Presse die Mitteilung des Internationalen Arbeitsamtes aus Genf, daß die deutsche und die polnische Regierung ein Abkommen über die Einwanderungsbedingungen für die polnischen Saisonarbeiter nach Deutschland für das Jahr 1926 abgeschlossen hätten, und zwar sind die Arbeitsbedingungen für die Polen insofern verbessert worden, als die ausländischen Landarbeiter die gleichen Entschädigungen bei Arbeitsunfall zu erhalten haben, wie die einheimischen. Man steht vor folgender Tatsache: D e u t s c h e B a u e r n, seit dem 18. Jahrhundert als deutsche Pioniere in Südrußland, besonders in Wolhynien, bewährt, müssen schwer enttäuscht Deutschland verlassen, obgleich sie seit 1915 der deutschen Landwirtschaft in schwerster Zeit große Dienste geleistet haben und ihnen die Ansiedlung in Deutschland in Aussicht gestellt worden ist. Sie m ü s s e n D e u t s c h l a n d v e r l a s s e n, nachdem sie hier ihr Inventar seinerzeit verschleudert haben, um auf Landarbeiterstellen untergebracht zu werden, ohne daß ihnen für die in Rußland zurückgelassenen Sachen der in Aussicht gestellte Ersatz, ohne daß ihre Lieferungen für die deutschen Besatzungstruppen bezahlt worden wären. Die Arbeitskräfte, die die rußlanddeutschen Rückwanderer 1918 der ostdeutschen Landwirtschaft stellten, sind mittlerweile auf zusammengeschmolzen. Die Arbeitsgemeinschaft der Kolonistenvereine hat vergeblich letzten Sommer in einer Eingabe an die deutsche Reichsregierung auf dieses wertvolle Siedlermaterial für die Grenzsiedlung im Osten hingewiesen und die Ansiedlung von zunächst 1000, oder bei sorgfältigster Auswahl 500 Familien, die noch im Besitze von 1000 bis 4000 Mark sind, angeregt. Der grundbuchlich sicherzustellende Kredit von 6000 bis Mark je Familie, der erforderlich war, um diesen landlosen deutschen Bauern die Ansiedlung in Deutschland zu ermöglichen, ist augenscheinlich nicht aufzubringen gewesen. Dagegen ist die Einstellung p o l n i s c h e r S a i s o n a r b e i t e r in die ostdeutsche Landwirtschaft von im Jahre 1924 auf im letzten Jahre gestiegen. Wie einer der besten Kenner dieser Verhältnisse, Hugo Klemke, in der Märznummer der Deutschen Post aus dem Osten schreibt, sind es nicht nur Großgrundbesitzer, sondern auch mittlere und kleine Güter, ja selbst Bauern, die eifrig danach streben, polnische Knechte zu bekommen. Diese dringen nicht nur in den Familienkreis der deutschen Bauern ein, sondern besetzen in hohem Grade die verfügbaren Arbeiterwohnungen. Das zeigte sich in schmerzlicher Weise, als es galt. die aus Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 225
226 Polen vertriebenen Optanten unterzubringen. Tausende von Wohnungen waren in Deutschland durch polnische Arbeiter besetzt. Die geringen kulturellen Ansprüche der Polen lassen sie vielfach als die erwünschten bequemen Instfamilien erscheinen. Die russlanddeutschen Rückwanderer stellen freilich höhere Ansprüche an Kultur, Sonntagsruhe, Schulversorgung usw. und wollen als deutsche Bauern behandelt sein. Auf jenen Gütern, wo ihnen ein gewisses Verständnis entgegengebracht wurde, haben sie sich als tüchtige Arbeiter glänzend bewährt. Vielfach aber wurde und werden sie als eine Art Russen, D e u t s c h r u s s e n behandelt, es wird auf ihre Religiösität keine Rücksicht genommen, und ihnen der Aufenthalt in Deutschland zur Qual gemacht. Daher der unstillbare Aus-wanderungstrieb. Um diese in ungeordneter Weise mit fremden Schiffen und auf Betreiben unsolider Agenten vor sich gehende A u s w a n d e r u n g in geordnete Wege zu leiten und die deutschen Ostbauern als Deutsche zu erhalten, hat die Kolonistengenossenschaft Heimataufbau zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft die Uebersiedlung in die Hand genommen. 50 Familien mit etwas Kapital konnten auf 2 Gütern in Mexiko geschlossen angesiedelt werden. Vertrauensmänner gingen gleichfalls nach Kanada, nach Deutsch-Südwest-Afrika. Junge Kolonisten konnten in Kanada untergebracht werden. Für unvermögende Familien erwies sich als der einzige Ausweg die Arbeit in K a f f e e p f l a n z u n g e n i n B r a s i l i e n, da die brasilianische Regierung für Bauernfamilien mit 3 Arbeitskräften freie Ueberfahrt gewährt. Wie die Deutsche Post aus dem Osten, das von Adolf Eichler und Carlo von Kügelgen als Organ der genannten Kolonistenorganisationen Deutschlands herausgegebene Monatsblatt (Verlag Heimataufbaugenossenschaft GmbH, Berlin NW, Schloß Bellevue), die Mitteilung über die Auswanderungsmöglichkeiten brachte, war das Echo innerhalb der in Deutschland ansässigen Ostkolonisten außerordentlich. (Es gibt augenblicklich wohl noch rund O s t k o l o n i s t e n i n D e u t s c h l a n d, davon deutsche Wolhynier und Deutsche aus Kongreß- Polen.) Hunderte von Briefen liefen aus Ostpreußen, Schlesien und sonstigen Wohnsitzen der deutschen Kolonisten ein. Rührende Dankesschreiben, bewegliche Klagen über die schlimmen Lebensverhältnisse in Deutschland. Was ist das für ein Leben her in Deutschland, wo man Bibel und Kirche vergessen muß? schreibt ein Wolhynier. Wir erarbeiten uns nicht einmal unser täglich Brot, klagt ein anderer, helfen Sie uns doch, Sollen wir denn wirklich als Sklaven in Deutschland sterben? schreibt ein dritter. Ein Schwarzmeerkolonist schreibt: Ihre Zeitschrift habe ich am Christabend erhalten. Ich habe daraus ersehen, daß der alte Gott noch lebt und uns aus dem Elend hier herausführen will. Und ein Wolhynier der gute Nachrichten von seinem schon nach Brasilien ausgewanderten Bruder erhalten hat, schreibt: Unseren treuen Führern lege ich hiermit noch die Bitte ans Herz, wenn es möglich ist, eine Rettung für uns zu finden, denn wir gehen doch hier alle zugrunde. Die große Arbeitslosigkeit. auch ohne uns Ausländer gibt es hier so viele arme Menschen, denen wir noch das Stückchen Brot wegnehmen. Wir werden allerorts scheel angesehen und gefragt, ob wir nicht auswandern wollten. Der Vorsitzende des Vereins der deutschen Wolhynier, Pastor Fr. Rink, hielt kurz vor der Einschiffung im Hamburger Hafen den hinausziehenden Landsleuten eine Ansprache, in der vieles gesagt wurde, was selbst in den jetzigen schweren Zeiten erschütternd wirkte. Ihr habt Hab und Gut in der alten Heimat verloren, sagte er, vertrauensvoll kamt Ihr in das Land unserer Väter zurück; Ihr habt hier das Letzte verloren, und jede Hoffnung auf Hilfe und eine eigene Scholle in Deutschland ist geschwunden. Er schloß mit der Mahnung: In der Fremde sei Euer Erstes, für Kirche und Schule zu sorgen, wie es unsere Väter in Rußland gehalten haben. Im Namen der Auswanderer antwortete der Dunajewzer Kolonist Reetz, der als Vertrauensmann schon in Brasilien gewesen ist und diesen Transport leitet, mit den Worten des Dankes. Er versprach, über den in der Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 226
227 Stammesheimat erlittenen Kränkungen nicht zu vergessen, daß wir Deutsche sind und fest und treu zum Deutschtum halten wollen. Allen Freunden und Landsleuten ein herzliches Lebewohl und unserem Stammlande Deutschland unsere Wünsche zum Wiederaufbau, zu neuer Blüte und Stärke. Das sind keine Phrasen. Wer diese urdeutschen Gestalten mit ihren Frauen und Kindern gesehen und sie in ihrem altertümlichen Deutsch hat miteinander reden hören, wer ihre ehrenvolle Geschichte, ihr eisernes Festhalten an Väterart und Sitte, an Glauben und Volkstum kennt, der weiß, daß diese deutschen Kolonisten auch in Brasilien Deutsche bleiben werden, wenn sie nur einigermaßen geschlossen sitzen. Man vergesse nicht, daß es in Brasilien schon deutsche Ostkolonisten gibt, Wolhynier, Wolgadeutsche und Deutsche aus Kongreßpolen. Ja, die deutschen Ostkolonisten in einer Zahl von rund Köpfen sind schon ein nicht unwesentliches Element im Deutschtum der Neuen Welt. Solange Deutschland noch zu schwach und in Erfüllung seiner nationalen Pflichten zu ohnmächtig ist, um so wertvolle deutsche Bauernelemente der Heimat zu erhalten, solange jahraus, jahrein die dem Deutschtum feindlichen polnischen Volkselemente Deutsche verdrängen dürfen, bleibt uns nichts anderes übrig, als den Hinausziehenden die Erfüllung ihres Lebenstraumes zu wünschen, als freie deutsche Bauern die eigene Scholle zu bearbeiten. Rigasche Rundschau 28. Mai 1927 Ohne Heimatrecht. Eine Kundgebung der Staatenlosen in Berlin Von C. von Kügelgen, Berlin (Auszug) Die Staatenlosigkeit ist wohl eine der merkwürdigsten Folgeerscheinungen des Weltkrieges. Vor dem Kriege war Staatenlosigkeit eine Ausnahmeerscheiung. Alle Staaten erkannten den Wert ihrer Bürger, auch wenn diese sich um ihre Staatsangehörigkeit nicht kümmerten, an und schützten sie. Nur das gänzlich unnationale deutsche Gesetz sah den Verlust der Staatsangehörigkeit vor, wenn der Deutsche im Ausland im Laufe von zehn Jahren es versäumt hatte, sich in die Matrikel seines Konsulats eintragen zu lassen. Auch das wurde kurz vor dem Kriege umgemacht. Dieser hat nun Hunderttausende Bürger verschiedener Staaten gewaltsam aus ihrem einstigen Vaterlande hinausgeworfen und der Staatsangehörigkeit beraubt. Allen vor Augen liegt das Schicksal der r u s s i s c h e n E m i- g r a n t e n in Deutschland, Frankreich, den Balkanstaaten, Lettland, Finnland und auch sonst in geringerer Zahl in den meisten Ländern Europas, in China und der Neuen Welt. Zu diesen Massen staatenloser Kriegsflüchtlinge kommen dank dem herrschenden Recht immer neue Staatenlose hinzu. Eine Deutsche oder Französin, die einen russischen Staatenlosen heiratet, verliert gleichfalls ihre Staatszugehörigkeit. ( ) Die große Kundgebung des in Berlin gegründeten V e r b a n d e s d e r S t a a t e n l o s e n, die kürzlich in der Stadthalle stattfand, hatte weite Kreise angelockt. ( ) Hierauf sprach A d o l f E i c h l e r, der bekannte Vorkämpfer des Deutschtums in Polen. In knappen Zügen entwarf er ein Bild von den unermeßlichen Kulturleistungen der d e u t s c h e n K o l o n i s t e n i n R u ß - l a n d u n d P o l e n. Vielfach sind sie es, die der Landschaft dank ihrem hundertjährigen Fleiß das jetzige Antlitz gegeben haben. Er schilderte die Verfolgungen, denen diese Deutschen in Rußland und Russisch-Polen schon lange vor dem Weltkriege ausgesetzt waren. Das Martyrium, das nach Ausbruch des Krieges für sie begann, ist bekannt deutsche Kolonisten aus Kongreßpolen, mehr als deutsch-wolhynische Bauern wurden nach Innerrußland und Zentralasien verschickt. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 227
228 Aus eigener Anschauung schilderte der Redner die erschütternden Bilder, die er 1918 bei der Rückkehr der zusammengeschmolzenen Familien an den geplünderten Stätten ihrer einstigen Tätigkeit gesehen hatte. Während die deutschen Kolonisten in Kongreßpolen sich mit zäher Energie wieder langsam emporarbeiteten, müssen ihre Stammesgenossen in P o l n i s c h - W o l h y n i e n noch heute die volle Schwere eines Daseins als entrechtete Staatenlose leiden. Sie saßen vor dem Kriege meist auf sogen. Pachtgütern, die sie selbst aus jungfräulichem Urwald geschaffen hatten. Die 800 blühenden Kolonien Wolhyniens mit einer Bevölkerungszahl von Köpfen waren das Resultat eigenster Arbeit ohne äußere Hilfe. Während des Weltkrieges war auch Wolhynien Kampfplatz. Im Sommer 1915 wurden sämtliche Kolonisten des noch russischen Teiles nach Südostrußland verbannt. Im westlichen Wolhynien schickten die vorrückenden deutschen Truppen die Kolonisten hinter die deutsche Front. Sie wurden auf Gütern in Ostdeutschland untergebracht. Von diesen zogen später manche wieder in die Heimat. Die Zahl der Zurückgebliebenen beträgt heute noch Köpfe. Von diesen ist nur ein Teil eingebürgert und angesiedelt. Die meisten haben die Hoffnung auf eine versprochene Ansiedlung, ebenso wie auf die Rückkehr in die alte Heimat verloren und wollen sich nach Südamerika wenden. Diese Kolonisten sind zum größten Teil staatenlos. Viel schlimmer ist aber das Schicksal der deutschen Kolonisten Wolhyniens, die im R i g a e r F r i e d e n s v e r t r a g Polen zugefallen sind. Es sind das fünf Kirchspiele mit einer Bevölkerung von Köpfen. Sie sind völlig entrechtet und werden von den Behörden vom ererbten Besitz vertrieben. Wo dies auf Grund anfechtbarer Verordnungen nicht möglich ist, mach man ihnen ihre Staatsangehörigkeit streitig. Ein G e h e i m e r l a ß d e s p o l n i s c h e n I n n e n m i n i - s t e r i u m s ordnete an, daß den Kolonisten die Bescheinigung der polnischen Staatsbürgerschaft zu verweigern sei, wenn sie in den Kriegsjahren in Rußland oder Deutschland waren. So wurden schuldlose Menschen zu Staatenlosen gemacht, um ihres Eigentums beraubt zu werden. Herr Adolf Eichler ließ Bilder von einer deutschen Ansiedlung herumgehen, in der der Gutsbesitzer den Kolonisten, um seine Kosten zu decken, die Häuser hat abbrechen lassen. In kleinen Nothütten sitzen sie mit ihren zahlreichen Kindern auf dem Boden ihrer Väter. Adolf Eichler, dem als Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen aus Rußland und Polen das Schicksal dieser Unglücklichen am Herzen liegt, wandte sich an die Versammlung mit der Bitte, für die allgemeinen Menschenrechte auch in Südostpolen einzutreten, damit menschliche Gesittung dem grausamen Kampf ein Ende mache, den polnische Behörden gegen eigene Staatsbürger führen. ( ) Rigasche Rundschau 13. Dezember 1927 (Auszug) Rußlanddeutsche in Deutschland und Amerika. Die D e u t s c h e P o s t a u s d e m O s t e n, herausgegeben, von Adolf E i c h l e r, dem deutschen Vorkämpfer in Polen, und Carlo von K ü g e l g e n, dem einstigen Chefredakteur der St. Petersburger Zeitung, hat ihren zweiten Jahrgang abgeschlossen, für dessen zahlreichen Inhalt ein Verzeichnis, dem Dezemberheft beigelt, Zeugnis ablegt. Dieses Heft bringt die Abbildung der Adresse und Ehrengabe der A r b e i t s g e m e i n s c h a f t d e r D e u t s c h e n a u s R u ß - l a n d u n d P o l e n an den deutschen Reichspräsidenten v. H i n d e n b u r g, eine Sammlung von 150 Bildern aus dem Leben der deutschen Kolonisten Altrußlands, und dessen freundliche Antwort mit dem Wunsch weiterer Erfolge in den Arbeiten und Bestrebungen für das Wohl der ehemaligen Rußlanddeutschen und deren Eingliederung in das deutsche Wirtschaftsleben. Für deren Ansielung - die erdrückende Mehrheit der rund R u ß l a n d - D e u t s c h e n i n D e u t s c h l a n d, vornehmlich Wolhynier, stehen unter dem Schutz der Arbeitsgemeinschaft hat sich in ihr die H e i m a t - A u f b a u - W i r t s c h a f t s g e n o s s e n s c h a f t gebildet. Sie Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 228
229 sucht auch die leicht entartende, wilde Auswanderung der schollesuchenden Kolonisten in geregelten Strom zu lenken. In der n e u e n W e l t g i b t e s s c h o n e t w a r u ß l a n d d e u t s c h e K o l o n i s t e n, während in Rußland nur etwa nachgeblieben sind, deren Sehnen immer noch vielfach auf Auswanderung steht. Der Vorsitzende der Heimat- Aufbau-Genossenschaft und Arbeitsgemeinschaft Adolf Eichler, befindet sich zurzeit auf einer Inspektionsreise i n B r a s i l i e n, wo er im besonderen die von der Heimat-Aufbau- Genossenschaft in geschlossenen Gruppen angesiedelten Kolonisten besucht. Einen ersten Reisebrief von ihm mit Bildern bringt das Dezemberheft. ( ) Rigasche Rundschau 22. September 1928 Am 3. Juni wurde in der Kolonie Bacharejewka im Gouvernement Kaluga ein neues Bethaus von Probst A. Althausen eingeweiht. Bacharejewka bildet den Mittelpunkt einer Gruppe von ungefähr hundert Einzelgehöften der Wolhynier, die sich von 15 Jahren im Kalugaschen Gouvernement niedergelassen haben. Riga am Sonntag 22. Januar 1933 Polen will deutsche Flüchtlinge an Sowjetrußland ausliefern! Zusammen mit Pastor Georg Rendar gelang es im Herbst 1931 zwei jungen Kantoren, Friedrich und Ruben Remann, auf höchst abenteuerliche und lebensgefährliche Weise aus dem Sowjetgebiet zu entfliehen, wo ihnen die Gefahr der Verbannung nach Sibirien drohte. Im polnischen Grenzgebiet wurden sie nicht nur von den deutschen Glaubensbrüdern, sondern zunächst auch von den polnischen Behörden freundlich aufgenommen. Der Starost von Rowno erteilte ihnen bis zum 31. Dezember 1932 Aufenthaltsgenehmigung. Zur weiteren Ausbildung wollten die deutschen Sowjetflüchtlinge in die Diakonissenanstalt in Zinsdorf gehen. Während die wolhynischen Behörden gegen ihren Aufenthalt in Polen nichts einzuwenden gehabt hatten, verweigerte ihn der Starost von Schubin. In größter Bestürzung reichten, wie das Posener Tageblatt berichtet, die deutschen Flüchtlinge, die diese Entscheidung fast nicht für möglich halten wollten, sofort ein Gesuch an die Wojewodschaft in Posen ein. Aber schon am 2. Januar erschien ein Oberwachtmeister aus Schubin in Zinsdorf und erklärte, daß sie am nächsten Tage Polen verlassen müßten. täten sie es nicht freiwillig, dann würden sie polizeilich nach Sowjetrußland zurückgebracht. Verzweifelt warten nun die Flüchtlinge auf die endgültige Entscheidung aus Posen. Libausche Zeitung 21. Augusst 1937 Sklavenarbeit in sowjetrussischen Bergwerken (Auszug) Wenn man die Reden hört, die die sowjetrussischen Vertreter im Internationalen Arbeitsamt gelegentlich halten, dann müßte man meinen, daß Sowjetrußland tatsächlich jenes Paradies des Arbeiters ist, als das es die Moskauer Propaganda schildert. So hat kürzlich der Sowjetmann Markus im Internationalen Arbeitsamt verlangt, daß die Schutzgesetze für die Bergarbeiter verbessert und die Arbeitszeit verkürzt werde: er hat seine Forderungen mit Hinweisen auf die in Rußland geübte Praxis begründet. Auch andere Sowjetvertreter in der gleichen Genfer Institution haben in der letzten Zeit bei verschiedenen Gelegenheiten Reden gehalten, in denen die Lage des Arbeiters in Sowjetrußland verherrlicht wurde. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 229
230 Wie es in Sowjetrußland wirklich aussieht, daß es dort gerade in den Bergwerken wahre Sklaven gibt, das erfährt man gelegentlich durch Berichte, die aus nichtrussischen Quellen stammen und die wirkliche Lage des Arbeiters schildern. Ein solcher Bericht liegt aus Moskau von Anfangs Juli dieses Jahres vor und gibt ein Bild der geradezu unglaublichen Verhältnisse, unter denen Arbeiter in Sowjetrußland arbeiten müssen. Diesem Bericht zufolge sind Ende Mai und Anfang Juni dieses Jahres von der Sowjetregierung Tausende von deutsch- und polnischstämmigen Bewohnern der an der polnisch-sowjetischen Grenze gelegenen Bezirke ausgewiesen und als sogenannte Uebersiedler in Massentransporten nach Kasakstan abgeschoben worden. Allein aus den Ortschaften Jarunj und Nowograd-Wolynsk wurden etwa Deutsche und Polen in die Gegend von Karaganda verbannt. In den letzten Jahren wurden immer neue Massentransporte mit Vertriebenen nach Karaganda befördert und von dort ins Innere des Landes getrieben. ( ) Die Lebensbedingungen sind sehr schwer. Auf jeden Menschen kommen 1 ½ bis 3 qm Wohnfläche. Nur 3 Prozent der Bevölkerung wohnt in Steinhäusern, 13 Prozent in Holzbaracken, 72 Prozent in Baracken aus Lehmziegeln und 7 Prozent, also nahezu Menschen, in regelrechten Erdhöhlen. An Kleidern und Schuhen herrscht äußerster Mangel. Rigasche Rundschau 11. November 1939 Volkstum im Osten 1) Unter obiger Ueberschrift bringt der B.B. einen Aufsatz zur Repatriierung der Volksdeutschen aus dem früheren polnischen Staatsgebiet. Im Nachstehenden geben wir ungekürzt den Artikel, der uns weitestes Interesse abnötigt. Die weittragende Vereinbarung über die deutsch-russische Umsiedlung, die in diesen Tagen zwischen den beiden Großmächten getroffen wurde, ist ein neuer Beweis für die freundschaftliche und konstruktive Politik Deutschlands und Sowjetrußlands. Ueber alle theoretisierenden und künstlichen staatsrechtlichen Konstruktionen hinweg versuchen die beiden Staaten im Osten Europas eine neue Ordnung anzustreben und als Teilprogramm dieses riesenhaften Wollens die örtlichen Grenzgebiete in ethnographischer Beziehung zu bereinigen: Die Ukrainer, Weißrussen, Russen und Ruthenen, die im Interessenbereich des Deutschen Reiches auf dem Gebiet des früheren polnischen Staates wohnen, haben von nun an das Recht, aus ihren Wohnsitzen auszuwandern und in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken überzusiedeln. Die Deutschen aus Weißrußland und den westlichen Gebieten der Ukraine kehren, wenn sie wollen, in das Großdeutsche Reich zurück, aus dem sie einst gekommen sind. Schon vor langen Zeiten, im ausgehenden Mittelalter, sind die ersten Bürger, Handwerker, Kaufleute und Bauern aus Deutschland ausgewandert und haben sich in den unendlichen Weiten der russischen Landschaft eine neue Arbeits- und Heimstätte geschaffen; aber die nachfolgenden Jahrhunderte gingen hart und vielfach erbarmungslos über sie hinweg, so daß die Spuren aus der frühesten Einwanderungsperiode in der Gegenwart nur noch gering sind. Die deutschen Menschen, die heute in den östlichen Grenzgebieten wohnen, sind durchweg Einwanderer aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Bauern, Pächter und Arbeiter. Aber wer kennt im einzelnen ihr fernes Schicksal? So hörte man und hört man viele fragen. Ohne die verschiedenen Kolonisationszüge und die vielen zerstreuten Splitter deutschen Volkstums in den östlichen Grenzgebieten Weißrußlands und der Ukraine genauestens zu verfolgen, greifen wir nur zwei große, geschlossene Siedlungsräume heraus: W o l h y n i e n u n d O s t g a l i z i e n. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 230
231 Aber sie allein schon umschließen einen Begriff, einen Begriff von schicksalhafter Bedeutung; denn die Wolhyniendeutschen sind ein ganz besonderer Menschenschlag, den Rasse und formende Umwelt so gestaltet haben, wie sie heute sind. Seit ihrer Einwanderung, die zum ersten Mal kurz nach den polnischen Teilungen und zum zweiten Mal nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland (1861) erfolgte, sind die wolhynischen Siedler aus Galizien, Schlesien und Kongreßpolen arme, anspruchslose Menschen geblieben. Im Gegensatz zu den Wolgadeutschen, die von Katharina II. angeworben wurden, mußten die Kolonisten in Wolhynien von vornherein auf jedes verbriefte Sonderrecht verzichten und in härtester, mühseligster Arbeit das Sumpf- und Waldland um Luzk urbar machen, häufig ohne Dank und ohne Lohn. Wie oft wurden sie nicht nach schweren Rodungsarbeiten von den polnischen Großgrundbesitzern um alle Früchte ihres entsagungsvollen Lebens gebracht und obendrein noch von den sie beherrschenden Regierungen kulturell und wirtschaftlich - in besonders schmerzlicher Erinnerung ist allen noch die gewaltsame Evakuierung während des Weltkrieges - fühlbar getroffen! Die Misere der eigenen Scholle lenkte daher oft ihre Blicke in die Welt hinaus, um sich irgendwo eine neue Heimat zu suchen. Aber ob die Wolhyniendeutschen in der Heimat blieben oder ob sie nach Kurland, Bosnien, Westkanada oder den Vereinigten Staaten auswanderten, sie sind überall die gleichen bescheidenen Kolonisten geblieben, denen die Glücksgöttin nur selten in ihrem Dasein zugelächelt hat, Menschen mit einem mystischen Hang zu einer besseren Welt. Das Deutschtum in Galizien ist andere Wege gegangen. Andere Wege vor allem deshalb, weil es bis zum Vertrag von St. Germain im Verbande des Habsburger Reiches lebte: Gerufen von Joseph II., strömten nach der Einverleibung Galiziens in den österreichischen Staat (1772) viele Sudetendeutsche, Schlesier, Pfälzer und andere südwestdeutsche Kolonisten in das ukrainisch besiedelte Ostgalizien und gründeten auf dem kargen Boden der Waldkarpaten Dörfer und kleinere Siedlungen; das damals unerschlossene Gebiet östlich des San gab ihnen reiche Entwicklungsmöglichkeiten. Aber auf die Dauer verstand es die Wiener Regierung nicht, diesen vorgeschobenen Posten deutschen Volkstums volkspolitisch und wirtschaftlich so zu stärken und zu verteidigen, wie es eine zielklare und konsequente Kolonisationsarbeit verlangt hätte. Kurz vor der Jahrhundertwende setzte daher auch hier ebenso wie in Wolhynien eine stärkere Abwanderung nach Uebersee ein. Was die Galiziendeutschen aber auf dem holzreichen Rodungsland Rotreußens seit der josephinischen Neusiedlung geschaffen haben, ist eine deutsche Pionierleistung, die sich würdig an die mittelalterliche Kolonisationsarbeit im Osten reiht. Man wird sie ebensowenig vergessen, wie die schicksalsschweren Jahrzehnte der Wolhyniendeutschen oder die stolzen Kulturdenkmäler der Baltendeutschen auch wenn jetzt die äußersten Grenzwachen des Deutschtums eingezogen werden. An sie alle erging der Ruf der Heimat; denn das größere Gesetz des neuen Reiches gebietet eine neue Ausrichtung. (Dr. Hans Hohenstein) 1) Hinweis: Dieser Aufsatz wird hier in Kenntnis der politischen Brisanz als historisches Zeitdokument wiedergegeben: Er steht ganz im Zeichen der der nationalsozialistischen Volkstumspropaganda; der Autor gehört - wie die einleitenden Sätze zu vermuten geben zum Kreis der Architekten des Regimes für Pläne einer ethnischen Bereinigung im angeblich reichsdeutschen Interesse. Rigasche Rundschau 25. November 1939 Deutsche aus Wolhynien im Kreise Thorn angesiedelt Im Landkreis Thorn wurden, nach einer Meldung des Danziger Vorposten jetzt auch die ersten wolhynischen Bauern angesiedelt. In drei Ortschaften des Landkreises sind insgesamt 350 Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 231
232 Wolhyniendeutsche aus dem ehemals östlichen Polen angesiedelt worden. Es handelt sich vorwiegend um Siedler, die seit 150 bis 200 Jahren auf wolhynischer Scholle gesessen haben und nun nach Generationen wieder ins Reich zurückgekehrt sind. Deutsche Zeitung im Ostland 14. November 1941 Neun Brüder vor Moskau. Wolhyniendeutsche Bauernsöhne an der Front Inhaltsauszug: Bericht über neun Brüder, Söhne wolhyniendeutscher Siedler, z.t. geboren während der Verbannung in Sibirien, kehrten von dort zurück in die Herkunftskolonie Zelena (Shitomir). Der Besitz umfasste von ursprünglich 70 Morgen nur noch 12 und reichte nicht zur Existenzsicherung, so dass die Brüder sich zunächst als Holzfäller verdingen mussten. Später verließen sie Wolhynien in Richtung Deutschland. Vier von ihnen wurden Melker, Treckerführer und Vorarbeiter. Zwei wanderten zeitweise nach Argentinien aus, einen verschlug es nach Bayern. Einige der Brüder schlossen sich schon früh der SA an, gingen 1939 als Wehrmachtssoldaten mit in den Polenkrieg sind alle neun Brüder als Frontsoldaten in derselben Einheit vor Moskau. Sie erhalten Auszeichnungen und für die Zeit nach dem Krieg mit Neubauernscheinen ein Anrecht auf einen eigenen Betrieb. Deutsche Zeitung im Ostland 3. Dezember 1941 Volksgesundheit im Wartheland. Posen, 2. Dezember. Auf einer Arbeitstagung sämtlicher Amtsärzte des Reichsgaues Wartheland in Posen wurde die Landesgruppe der Wissenschaftlichen Gesellschaft der deutschen Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens ins Leben gerufen. Damit ist ein erster Abschnitt auf dem Wege der Durchführung eines umfassenden volksgesundheitlichen Programms im Wartheland erreicht. DZ. Die bis zur Erreichung dieses Abschnittes vollbrachten Leistungen im Wartheland verdienen eine umso höhere Bewertung, als die deutsche Verwaltung bei der Eingliederung der Ostgaue auch auf volksgesundheitlichem Gebiete als polnische Hinterlassenschaft Verhältnisse vorfand, unter denen oft die primitivsten in anderen Ländern längst selbstverständlichen Einrichtungen noch unbekannt war. Polen war das einzige Land in Europa, in dem auf Einwohner nur 3,7 - in der ehemaligen Wojewodschaft Wolhynien sogar nur 1,6 - Ärzte entfielen und in dem die Zahl der Krankenhausbetten schon im Jahre 1936 von Deutschland prozentual um das Fünffache überboten wurde. Unter diesen Umständen lag das Schwergewicht der Bemühungen auf volksgesundheitlichem Gebiete von vornherein auf den vorbeugenden und vorsorgenden Maßnahmen. So wurden z.b. seit dem 1. Januar 1941 in 562 Mütterberatungsstellen über Säuglingsuntersuchungen durchgeführt, und von den deutschen Schulkindern im Wartheland jugendärztlich untersucht. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 232
233 Feldzeitung 6. Januar 1942 Posen: Wolhynische Pelze wieder auf grossem Treck. Auch im Reichsgau Wartheland hat der Aufruf zur Woll- und Pelzsammlung einen starken Widerhall gefunden. Aus allen Kreisen liegen Meldungen vor, nach denen der Eingang von Woll- und Pelzsachen ungemein stark ist. Wie ein Mann haben die U m s i e d l e r a u s W o l h y- n i e n u n d G a l i z i e n den Aufruf beantwortet, indem sie die schweren Pelze, die sie während ihres grossen Trecks in das Reich trugen, gespendet haben, so dass diese schweren Schaffelle sich nunmehr bereits auf dem zweiten Treck, diesmal an die Ostfront, befinden. ( ) Feldzeitung 30. März Kirchenbücher des Ostraumes vereinigt. Im Gausippenamt Posen sind jetzt bis Kirchenbücher aller Konfessionen des Warthegaues vereinigt worden. Auch die Kirchenbücher der deutschen Umsiedler aus Litauen, dem Baltikum dem Narewgebiet, aus Wolhynien und Galizien liegen künftig an der gleichen Stelle aus. Die Kirchenbücher der Umsiedler aus dem Buchenlande, der Dobrutscha und Bessarabien werden dagegen von der Landessippenstelle Danzig verwaltet. ( ) d. Wolhynien-Tschechen Rigasche Zeitung 30. Oktober 1869 Wolhynien. Seit einem Jahr, wo die ersten Auswanderer aus Böhmen sich im wolhynischen Gouvernement niederließen, nehmen die Auswanderungen von daher mit jedem Tage zu. So meldet der Kiewlänin und bemerkt, daß, wenn auch der größere Theil der Ansiedler katholisch ist, er doch vollkommene Bereitwilligkeit zeigt, in die Zahl russischer Bürger zu treten. Ueber den Umfang, in welchem die Uebersiedlung stattfindet, könne man aus nachstehenden Zahlen urteilen: Durch Vermittelung nur eines einzigen einflußreichen Auswanderers in ihrer Mitte, haben sich in dem Kreise Rowno und Dubno 379 böhmische Familien niedergelassen und 9170 Dessätinen Land für Rbl. gekauft. Ein anderer unter seinen Landsleuten einflußreicher Czeche, so fährt dann der Kiewlänin fort, hat uns die Mittheilung gemacht, daß er mit Czechen, die in den Jahren nach Amerika ausgewandert sind, in Schriftwechsel stehe. Diese - der Kiewlänin citirt die eigenen Worte jenes Gewährsmannes - erheben die Stimme zum gastfreundlichen Rußland, um Aufnahme in dessen Schooß bittend und werden, falls ihnen erleichterte Uebersiedelungsbedingungen gestellt werden, mit Freuden nach Rußland kommen als eingeborene Kinder der Mutter aller Slawen. Außerdem, so schreibt der Kiewlänin, haben ihren Wunsch, nach Rußland überzusiedeln, 2000 Bergleute geäußert, die in den böhmischen dem Fürsten Schwarzenberg gehörenden Silberbergwerken in Ratiborschitz und Bernstadt gearbeitet haben und gegenwärtig wegen Stillstand in der Bergwerksindustrie, aller Existenzmittel entbehren. Rigasche Zeitung 30. März 1870 Wolhynien, 27. März. Der Neuen Zeit entnehmen wir folgende Notizen über die Zunahme der czechischen Einwanderung in dem Gouvernement Wolhynien: die Zahl derselben beläuft sich auf ungefähr 2000 Personen, sie haben 14 Güter in einer Gesammtausdehnung von 8000 Dessätinen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 233
234 für die Summe von Rbl., welche baar ausgezahlt ist, gekauft. Diese Uebersiedler sind recht gebildet: einige von ihnen haben den Cursus auf höheren Schulanstalten beendet, beschäftigen sich aber gleich den übrigen mit dem Ackerbau, viele haben Handwerke erlernt. Sie zeichnen sich durch sehr große Arbeitsamkeit und strenge Rechtlichkeit aus. Dabei sind sie bereit, ohne irgend welche Erleichterungen von der Regierung zu verlangen, in die Unterthanschaft Rußlands zu treten, doch wünschen sie, daß ihnen die freie Religionsausübung garantiert werde. Sie halten sich - so schließt der Correspondent der obengenannten Zeitung seinen Bericht - für Katholiken, aber in Wirklichkeit sind sie Hussiten. Sie empfangen das heilige Abendmahl unter beiderlei Gestalt, ihre Liturgie wird in slawischer Sprache gehalten, ihre Geistlichen müssen durchaus verheirathet sein. Sie meiden die griechisch-orthodoxen Geistlichen nicht, obgleich sie sich nicht für Rechtgläubige halten. Wie bekannt, werden die Hussiten in Oesterreich verfolgt - bei uns sind sie sicher vor jeder Verfolgung. - Die Hussiten sind ein hochmoralisches Volk, wahrhafte Christen - und dabei in ihren Anfängen rein slawisch. Eine besondere Aufmerksamkeit müßte auf sie verwandt werden. In der slawischen Frage können sie eine wichtige Rolle spielen. so der Correspondent der Neuen Zeit. Rigasche Zeitung 13. Oktober 1870 Wolhynien. Der Kiewlänin bringt, wie wir dem Golos entnehmen, nachstehende Nachrichten über die Czechen, die sich hierselbst niedergelassen haben. Im Jahre 1869 nahm die Einwanderung von Czechen, die schon im vorhergehenden Jahre ihren Anfang genommen hatte, eine bedeutende Ausdehnung. Sie erstanden ganze Güterkomplexe käuflich von Polen und theilten dieselben unter sich je nach den Geldmitteln der einzelnen Familien. Die Abwickelung der Rechtsgeschäfte ward ihnen durch den zu ihnen abgesandten Beamten zu besonderen Aufträgen beim Generalgouverneur, Obrist Gresser, der sie mit den bestehenden Rechtsverhältnissen bekannt machen und vor der Gewissenlosigkeit der Verkäufer sicher stellen sollte. Desgleichen ward diesem Beamten der Auftrag ertheilt, über die Czechen die nöthigen Auskünfte zu sammeln. Nach dem von ihm zusammengestellten Berichte hatten die Czechen bei seiner Ankunft bereits 14 Güter in einer Gesammtausdehnung von Dessätinen, auf welchem Territorium sich 2000 Seelen beiderlei Geschlechts angesiedelt hatten, gekauft. Dieselben sind unter die Familien je nach den Mitteln derselben getheilt, jede Familie hat sich auf ihrer Parcelle gesondert angesiedelt. Zugleich haben sie in den einzelnen Gebieten Aelteste für die Gemeindeverwaltung gewählt, sowie den örtlichen Geistlichen um die einstweilige Leitung ihrer Angelegenheiten gebeten. Ihre Bitten bestanden in Nachstehendem: daß sie in die russische Unterthanschaft aufgenommen werden, daß ihnen die allgemeinen, der ländlichen Bevölkerung zustehenden persönlichen und Vermögensrechte verliehen werden, desgleichen die Gemeindeverwaltung, gemeinsame Schulen, in welchen ihre Kinder auch die russische Sprache lernen könnten, für sich und die Bauern, daß ihnen die volle Glaubensfreiheit gelassen und für die ersten Jahre Vergünstigungen in Betreff der Abgabenleistungen gewährt werden. Auf Vorstellung des Generalgouverneurs ward vom Ministercomité den 10. Juli 1870 eine Poloshenie bestätigt, nach welcher den Czechen das Gewünschte bewilligt wurde; sie sind von den Abgaben auf fünf Jahre und lebenslänglich von der Militairpflicht befreit, desgleichen ist ihnen volle Religionsfreiheit zugestanden. Zugleich ist entschieden, aus Böhmen Geistliche, welche zum Theil von der Regierung unterhalten werden, zu verschreiben. Als diese Entscheidung erfolgte, hatte die Einwanderung bereits bedeutend zugenommen: 50 Güter polnischer Besitzer in einer Gesammtausdehnung von Dessätinen waren für den Betrag von Rbl. in den Besitz der Einwanderer übergegangen. Am 24. September fand ihre feierliche Aufnahme in den russischen Unterthansverband statt. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 234
235 Rigasche Zeitung 31. Januar 1872 Wolhynien, 25. Januar. Gegenwärtig haben sich, wie der Reg. Anz. berichtet, in Wolhynien bereits über 7000 Czechen beiderlei Geschlechts, im rowenschen Kreise 4219 Dess. 400 Ssas.; im wladimirschen Kreise 3737 Dess Ssas., im lutzkschen Kreise 2112 Dess. 589 Ssas. und im ostrogschen Kreise 390 Dess. Summa Dess Ssas. Gegenwärtig erwerben die Czechen noch die Dörfer Guljtscha und Urwenka im ostrogschen Kreise, welche mehr denn 1000 Dess. Land messen. Die Ansiedelungen der Czechen bilden 4 Amtsbezirke: 1) den glinskschen im rowenschen Kreise, zu welchem die Czechen des ostrogschen Kreises zugezählt sind; 2) den dubenskschen; 3) den lutzkschen und 4) den kupitschewschen des wladimirschen Kreises. Die Vorsteher (старшины) und Dorfältesten (Starosten) werden nach bestehender Ordnung von den Gemeinden gewählt. Infolge einer Relation mit dem Curator des kiewschen Lehrbezirks werden bei den Czechen Schulen errichtet auf der Grundlage des am 26. Mai 1869 Allerhöchst bestätigten Statuts für Volksschulen, wobei den Czechen gestattet ist, mit den dortigen Bauernkindern gemeinsam den Unterricht zu genießen. Die Hauptbeschäftigung der Czechen ist der Ackerbau, doch sind unter ihnen viele Handwerker und zu Fabrikarbeiten fähige Leute. Libausche Zeitung 3. November 1873 Warschau. 8. November. Nach amtlicher Angabe sind im Jahre 1872 wieder 1340 Czechische Familien aus Böhmen nach Wolhynien eingewandert, welche zusammen 6746 Köpfe zählen und sich in der Umgegend der Städte Rowno und Wladimir als Ackerbauer angesiedelt haben. Die Ansiedler sind auf gewisse Zeit von der Militäraushebung befreit, dürfen innerhalb der Gemeinde ihre Muttersprache gebrauchen und katholische Kirchen und Schulen errichten. Rigasche Zeitung 19. Mai 1876 Wolhynien. Ueber die böhmischen Colonien im wolhynischen Gouvernement bringt die deutsche Mosk. Ztg. nachstehende Schilderung: Die böhmischen Colonien liegen hauptsächlich an der Kiew-Brester Bahn und bilden 4 Woloste mit ca. 30 Gemeinden, die ihre eigenen böhmischen Priester und Schullehrer haben und sich theils mit Ackerbau, theils mit Gewerben beschäftigen. Sie nennen sich Hussiten, ohne im strengeren Sinne des Wortes Anhänger des in Constanz verbrannten Johannes Hus zu sein, hat ja doch der 30jährige Krieg das protestantische Element in Böhmen so ziemlich von Grund aus vernichtet. Die Bedingung, ihre eigenen Priester mitzubringen, war ihnen von Seiten der russischen Behörden gestellt worden, da man fürchtete, sie möchten zu sehr dem Einfluß der polnisch-katholischen Priesterschaft unterliegen. Von einheitlicher religiöser Richtung und Leitung ist in diesen Colonien jedoch bis jetzt nicht die Rede; ihre Priester, sämmtlich verheiratet, sind weder Katholiken, noch Protestanten (Hussiten) und ihr theilweise schon wiederholt geäußerter Wunsch, zur orthodoxen Kirche überzutreten, hat beim heiligen Synod in Petersburg kein Entgegenkommen gefunden. So fehlt es in den Gemeindeschulen theils ganz an Religionsunterricht, theils wird er nach total verschiedenen Grundsätzen und Lehrbüchern ertheilt. Von einer Vermengung mit der zwar stamm- und sprachverwandten russischen Bevölkerung ist bis jetzt wenig zu bemerken. Im Anfange gab es Streitigkeiten um Weiderecht und Grund und Boden; die böhmischen Colonisten haben Stallfütterung und bebauen sämmtliche Grundstücke, die Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 235
236 russischen Nachbarn treiben ihr Vieh auf die Weide und verursachten den Colonisten manchen Schaden, indem das Vieh die Felder abweidete oder sonst beschädigte. Jetzt hat sich das nach und nach gebessert; aber eigentliche Annäherung hat dessen ungeachtet doch noch nicht stattgefunden. Die Böhmen sprechen czechisch, die Russen kleinrussisch, die Juden deutsch, die Gutsbesitzer und Verwalter polnisch und nur der Beamte spricht großrussisch; rechnet man dazu die Verschiedenheit im religiösen Bekenntnis, - einerseits Lostrennung von der katholischen, und andererseits Mangel an Anschluß an die orthodoxe Kirche - so wird man wohl begreifen, daß das eigentliche Bindemittel noch fehlt. Die Colonisten nennen sich jedoch gern czechische Russen und zählen gegenwärtig wohl schon gegen Seelen. Von industrieller Thätigkeit sind außer dem gewöhnlichen Gewerbe hauptsächlich Bierbrauerei und Müllerei vertreten, und es giebt verschiedene Dampfmühlen und Bierbrauereien. Letztere arbeiten stark und erfolgreich dem Branntweinconsum entgegen; in den böhmischen Colonien giebt es wohl auch Schänken, dieselben führen jedoch keinen Branntwein, sondern nur Bier, was mit der Zeit sicher nicht ohne wohlthätigen Einfluß auf die Nachbarschaft bleiben wird. In Folge fortdauernder starker Einwanderung aus Böhmen sind die Bodenpreise bedeutend gestiegen; während die ersten Einwanderer die Dessätine um 10 bis 15 Rbl. kauften, bezahlen die jetzigen schon 75 bis 80 Rbl. Das Land müssen sie vorzugsweise den Gutsbesitzern abkaufen, da der Bauer in Folge der Einrichtung, daß der Boden der Gemeinde, aber nicht dem Einzelnen gehört, sein Grundstück nicht losschlagen kann. Natürlich trägt dieser Umstand am meisten dazu bei, daß die beiden stammverwandten Nationalitäten sich nicht recht verschmelzen können; das Zusammenwohnen in den einzelnen Colonien hält das Gefühl der Sonderstellung lebhaft aufrecht, während der einzelne Czeche, sich in diesem oder jenem Dorfe mitten unter Russen niederlassend, viel leichter mit der specifisch russischen Bevölkerung sich verschmolzen hätte und in ihr aufgegangen wäre. Rigasche Zeitung 5. September 1886 Wolhynien. Mit jedem Tage macht sich die Strömung zur Orthodoxie unter den in Wolhynien angesiedelten Czechen mehr bemerklich. Die Zeitung Wolhyn weiß zu berichten, daß 50 czechische Familien in dem Dorfe Slawowo im Shitomirschen Kreise, vor Kurzem dem örtlichen Geistlichen den Wunsch mitgetheilt haben, zur rechtgläubigen Kirche überzutreten. Da aber in ihrem Dorfe sich keine Kirche befindet, suchen sie um Genehmigung nach, die dort befindliche Capelle zu einer Kirche umzugestalten. Die Zeitung glaubt, daß dieses Gesuch von Erfolg gekrönt werde und daß ihnen sogar gestattet werde, die Liturgie in der Kirche in czechischer Sprache abzuhalten, um so mehr, als in letzter Zeit die Liturgie des Heiligen Johann Slatoust schon in s Czechische übersetzt worden ist. Rigasche Zeitung 8. Oktober 1886 Unter den Czechen, welche im Rownoschen, Dubnoschen und Kremenetzschen Kreise des Wolhynischen Gouvernements leben, dauert der Kampf um die Errichtung einer eigenen Kirche Fort. Diejenigen derselben, welche sich unter dem Einfluß der Pastoren Kaschpar und Erdliszki befinden, neigen dem Protestantismus zu; andere aber, welche unter der Leitung des Geistlichen des Kirchendorfs Glinsk (im Rownoschen Kreise), Saßko, stehen, sind dem Gedanken nicht fremd, die Rechtgläubigkeit anzunehmen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 236
237 Düna-Zeitung 23. März 1888 Shitomir. Die Tschechen des Fleckens Slawowo, 60 an der Zahl, sind dem Wolyn zufolge zum griechisch-orthodoxen Glauben übergetreten. Der Priester Ivan Saski wird im Laufe dieser Woche ebenfalls den orthodoxen Glauben annehmen und werden zu diesem Behuf besondere Feierlichkeiten vorbereitet. Rigasche Zeitung 9. April 1888 Der Uebertritt der im Westgebiete angesiedelten Czechen zur Orthodoxie macht sehr schnelle Fortschritte. So nahmen am 20. März in Shitomir in der Erlöserkirche in Gegenwart des unlängst zur orthodoxen Kirche übergetretenen früheren czechischen Geistlichen Johann Sasko den orthodoxen Glauben an: der Sohn des Inhabers einer Bierbrauerei, des czechischen Kolonisten Oljschanki, der Pole Wätschesslaw, der örtliche Lehrer Anton Jansa und sein Weib Marja. Am 13. März traten gleichzeitig mit dem Priester Sasko 57 seiner früheren Gemeindeglieder in Glinska zur Orthodoxie über; am 25. März aber 88 Mann. In Ostrog nahmen 6 Czechen, im Lutzkischen Kreise 90 Czechen und in der Lutzkischen Kathedrale, wie die Zeitung Wolyn berichtet, noch 112 Czechen von den verschiedensten czechischen Ansiedelungen den orthodoxen Glauben an. Düna-Zeitung 27. Mai 1889 Wolhynien. Aus dem Gouvernement Wolhynien werden neue Uebertritte von Czechen zur orthodoxen Kirche gemeldet. Seit dem März d. J. haben allein in der Kirche zu Glinsk 26 Massenübertritte von Czechen stattgefunden. Libausche Zeitung 16. Dezember 1891 Im Jahre 1888 sind dem Rig. Tgbl. zufolge, zur orthodoxen Kirche im Ganzen Personen übergetreten, abgesehen noch von 5444 Tschechen in der Wolhynischen Eparchie. Von diesen Uebergetretenen waren Lutheraner 1660, römisch-katholische 981, griechisch-uniert 6, reformirte 41, armenischen Bekenntnisses 7, verschiedenen protestantischen Secten angehörige 91 ( ). e. Wolhyniendeutsche im Baltikum Düna-Zeitung 1. (14.) März 1907 Kurländische Gutsbesitzer suchen, wie aus Shitomir gemeldet wird, deutsche Kolonisten zu bewegen, nach Kurland überzusiedeln. Baron Manteuffel hat aus Wolhynien 23 Familien verschrieben, Baron Simolin 18, andere Gutsbesitzer im ganzen 48 Familien. ( ) Düna-Zeitung 14. Dezember 1907 Der Rishsk. Westn. hatte vor einigen Tagen, wie den Lesern erinnerlich sein wird, die Ansiedlung deutscher Kolonisten aus Wolhynien als Landarbeiter auf einigen Gütern in Kurland zum Anlaß genommen, wieder einmal sein Lügen- und Verläumdungsregister gegen die Deutschen zu Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 237
238 ziehen. Gegen dieses Verfahren hat sich nun auch ein russisches Blatt, der P r i b a l t. K r a j gewandt, welcher schreibt: Der Rishsk. Westn. hat die Kurländischen Gutsbesitzer dieser Tage fast des Staatsverrats beschuldigt: sie besiedeln Kurland mit preußischen Untertanen, die als Landarbeiter hergeholt werden mit Absichten, die dem Wohl des russischen Reiches feindlich sind. Das Mitauer deutsche Blatt Balt. Tagesz. widerlegt diese schwere Anschuldigung, indem es darauf verweist, daß die Kurländischen Gutsbesitzer keineswegs preußische Arbeiter verschreiben. Wir raten dem Rishsk. Westn., bevor er Sensationsartikel schreibt, die für die guten Beziehungen zwischen Russen und Fremdstämmigen schädlich sind, sich mit den nötigen kontrollierten f a k - t i s c h e n Daten zu versehen. Düna-Zeitung 16. (29.) Februar 1908 Dorpat. Deutsche Lehrlinge heranzuziehen und zu bilden hat sich die hiesige Ortsgruppe des Deutschen Vereins auch mit als Aufgabe gestellt. Wie aus dem Jahresbericht der Nordl. Ztg. zu ersehen, wurden im Laufe des 2. Halbjahres 1907 im ganzen 17 Deutsche, vorherrschend aus dem Gouvernement Wolhynien, veranlaßt, nach Dorpat überzusiedeln. Die Kosten werden durch Spenden, die zu dem Zweck an die Vereinskasse eingezahlt worden waren, gedeckt. Von den 17 Kolonisten fanden 7 deutsche Knaben im Alter von 12 bis 16 Jahren als Lehrlinge bei hiesigen deutschen Handwerkern und Kaufleuten (einer bei einem deutschen Kutscher auf dem Lande) gleich nach ihrer Ankunft ein geeignetes Unterkommen und zwar derart, daß sie beim Prinzipal wohnen und von diesem beköstigt, zum Teil auch bekleidet werden. Alle diese Lehrlinge besuchten die vom Vorstand begründeten Fortbildungskurse. Da aber eine größere Anzahl von Meistern nicht in der Lage ist, den Lehrlingen Logis zu gewähren, so wurde eine Fortsetzung der Ansiedlungsarbeit bis zur Begründung eines Lehrlingsheims aufgeschoben und durch den Vorstand ein Gesuch um Begründung eines solchen nebst einem Budgetvorschlag dem Verwaltungsrat eingesandt. Die Fortbildungskurse für deutsche Lehrlinge wurden ziemlich regelmäßig besucht. Relativ am weitesten vorgeschritten zeigten sich die Lehrlinge im Rechnen und es wird gelingen, in einem Jahreskursus die bürgerlichen Rechnungsarten mit ihnen durchzunehmen. In der deutschen Sprache ist wie in den anderen Lehrfächern ein Fortschritt zu verzeichnen, jedoch sind die Leistungen noch recht mittelmäßig. Die deutschen Lehrlinge aus Wolhynien sprechen das dort vorherrschende Judendeutsch, das schwerer auszurotten ist, als das Halbdeutsch der hier geborenen Lehrlinge. Letztere sind auch von der Verbesserungsbedürftigkeit ihrer Ausdrucksweise mehr überzeugt als erstere. Auf diesen Unterricht ist die meiste Mühe verwendet worden und da den Lehrlingen außer der Schule wenig Zeit zur Vorbereitung gelassen zu werden scheint, so muß das Hauptgewicht auf die Stunde gelegt werden. Es ist sehr zu wünschen, daß weitere Kreise der Dorpater Gesellschaft von der Notwendigkeit und dem Segen dieser Fortbildungskurse überzeugt und zur Teilnahme ermuntert werden. Düna-Zeitung 21. Mai (3. Juni) 1908 Zum Beginn des neuen landwirtschaftlichen Sommerhalbjahres in Kurland. (Auszug) Nachdem nun im Spätherbst des vorigen Jahres festgestellt worden war, daß sich zu Georgi dieses Jahres ein großer Ausfall an einheimischen Arbeitskräften ergeben müsse, waren die Großgrundbesitzer und Landwirte unserer Provinz - hauptsächlich in Unter- und Mittelkurland - gezwungen, r e c h t z e i t i g E r s a t z zu s c h a f f e n. Woher aber den Ersatz nehmen? Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 238
239 Manche dachten zuerst an litauische und russische Arbeiter, doch wollte man an einen ernstlichen Import dieser Leute nicht recht heran, es sprachen auch manche Gründe dagegen, wie z.b. die vielen Feiertage der fremden Bauern, ihre so sehr niedrige Kulturstufe und ihr Nichtbekanntsein mit der Handhabung moderner landwirtschaftlicher Geräte. ( ) Die russischen Arbeiter sind meist gute Erdarbeiter, eignen sich aber sonst für unserer Verhältnisse nicht, sie sollen außerdem nur als Sommerarbeiter - analog den Sachsengängern in Deutschland - zu uns kommen und zum Winter mit ihren Ersparnissen in die alte Heimat zurück. Da nun aber bereits im Laufe des Jahres 1907 auf diversen Gütern Kurlands V e r s u c h e m i t d e u t s c h e n K o l o n i s t e n - Arbeitern aus dem Innern des Reiches - gemacht worden und diese Versuche im allgemeinen zufriedenstellend verlaufen waren, so wurde denn auch für das nächste Jahr - diesmal von einer größeren Anzahl von Gütern - beschlossen, den deutschen Kolonisten-Arbeiter aus Rußland zu importieren, um mit ihm die entstandenen Lücken und freigewordenen landwirtschaftlichen Arbeiterstellen zu besetzen. ( ) Der baltische Gutsbesitzer und Landwirt verlangt heutzutage von seinen Arbeitern Eigenschaften, die früher als selbstverständlich vorhanden vorausgesetzt wurden und daher nicht besonders unterstrichen und betont zu werden brauchten. Die lettische Revolution aber hat uns derweil eines besseren belehrt: Wir verlangen heutzutage von unseren Leuten nicht nur Gewandtheit und Ausdauer, sowie Vertrautsein mit unserer Wirtschaftsweise, sondern wir fordern außerdem noch ausdrücklich eine Anzahl wertvoller anderer Eigenschaften, wie Treue und Gehorsam gegen die Obrigkeit und die Herrschaft, Religiosität, Arbeitswilligkeit und unter allen Umständen das Fernbleiben von Streiks und politisch-revolutionären Umtrieben aller Art. A l l e d i e s e l e t z t g e n a n n t e n E i g e n - s c h a f t e n a b e r b e s i t z t d e r d e u t s c h e K o l o n i s t i n h e r v o r r a g e n d e m M a ß e, der beste Beweis dafür ist die eben hinter uns liegende russische Revolution, an der sich die deutschen Kolonisten Rußlands in keiner Weise beteiligt haben, sondern sie haben im Gegenteil inmitten fremder revolutionärer Völkerschaften treu zu ihrem Herrn und Kaiser gehalten und waren für die Revolution einfach nicht zu haben. Die absolute politische Zuverlässigkeit des deutschen Kolonisten-Arbeiters, an der überhaupt nicht zu zweifeln ist, macht ihn schon deswegen allein zu einem wichtigen Faktor für die auf dem flachen Lande lebenden isolierten Deutschen. Wir kommen nun schließlich zu der Beantwortung der Frage: W i e h a b e n s i c h d i e d e u t s c h e n K o l o n i s t e n b i s h e r i n K u r l a n d e i n g e l e b t u n d w e l c h e v o n i h n e n e i g n e n s i c h a m b e s t e n f ü r u n s e r e V e r h ä l t n i s s e? Eins ist klar: Bei jeder Uebersiedlung von Arbeiterfamilien zum dauernden Aufenthalt aus einem Teil des Reichs in einen anderen, werden sich diejenigen Leute schneller akklimatisieren und einleben, deren ehemalige alte Heimat mit der neuen in klimatischer, agrarer, überhaupt in jeder Beziehung die größte Aehnlichkeit aufweist. Mit drei verschiedenen deutschen Volksgruppen aus dem Innern des Reiches hat man nun im Laufe des vergangenen Jahres in Kurland Versuche angestellt: mit Deutschen aus dem Wolgagebiet, aus Wolhynien und aus Polen. Da hat sich nun schon eines jedenfalls herausgestellt, die Deutschen des W o l g a g e b i e t e s kommen für uns vielleicht sonst, jedenfalls aber in der Eigenschaft als Landarbeiter g a r n i c h t oder h ö c h s t e n s a u s n a h m s w e i s e i n B e t r a c h t. Ihre Lebensgewohnheiten, Ansprüche, die Art der Ernährung, an die sie gewohnt sind, und vieles andere divergiert so sehr mit unsren Verhältnissen, daß ihre Verwendung, weil sie sich nicht bewährt haben, in unserer Landwirtschaft nicht zu empfehlen ist. Die allermeisten Kolonistenfamilien aus dem Wolgagebiete, die versuchsweise auf einigen Gütern unserer Provinz im Lauf des Jahres angesiedelt wurden haben auch schon Kurland wieder verlassen und sind in ihre alte Heimat zurückgekehrt. Anders und bedeutend günstiger sieht es mit den Deutschen aus W o l h y n i e n, Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 239
240 am besten aber mit den Deutschen aus P o l e n. Von diesen hat sich ein großer Teil als tüchtig erwiesen und als durchaus befähigt, die nicht mehr aufzutreibenden lettischen Arbeiter zu ersetzen. Dem Schreiber dieser Zeilen sind zwei große landwirtschaftliche Betriebe in Kurland bekannt, auf denen seit einem Jahr wolhynische und polnische Kolonisten gemeinsam mit lettischen Arbeitern im landwirtschaftlichen Betriebe gewirkt haben. Dabei hat es sich in praxi herausgestellt, daß d i e K o l o n i s t e n i n m a n c h e n A r b e i- t e n w i e z.b. W a l d a r b e i t e n, d e n L e t t e n s o g a r ü b e r l e g e n w a r e n, w ä h r e n d i n d e n r e i n l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n A r b e i t e n d i e m e i s t e n v o n i h n e n d e n L e t t e n n i c h t n a c h s t a n d e n. Fast alle wolhynischen Leute und sämtliche Leute aus Polen, die in stattlicher Anzahl auf genannten Gütern angesiedelt sind, haben sich auch zum nächsten Jahre verdungen und wollen dauernd in Kurland bleiben. Mit den lettischen Arbeitern des Gutes und der Nachbarschaft haben sie im besten Einvernehmen gelebt und es ist im Lauf des ganzen Jahres zwischen den deutschen und lettischen Arbeitern zu keinerlei Differenzen gekommen. Es sei auch an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß zwischen Polen und dem angrenzenden Wolhynien einerseits und Kurland andererseits die klimatischen und Bodenverhältnisse betreffend der Unterschied kein allzu großer ist. Eben dieser kleine Unterschied trägt nicht wenig dazu bei, daß sich die letztgenannten Leute rascher bei uns akklimatisieren, als die Wolgakolonisten. ( ) Errare humanum est - gewiß auch von uns sind bei Ansiedlung der deutschen Kolonisten anfangs viele Fehler gemacht worden, so daß auch Rückschläge mannigfacher Art nicht ausblieben, auch ein Teil der Eingewanderten gehörte nicht grade zum besten Material und mußte heim geschickt werden, respektive zog selber heim. Im großen und ganzen aber meinen wir, ist s c h o n h e u t e d e r B e w e i s e r b r a c h t, d a ß d e r w o l h y n i s c h e u n d p o l n i s c h e K o l o- n i s t s i c h b e i r i c h t i g e r V e r h a n d l u n g u n d A u s w a h l d u r c h a u s e i g n e n wird, in Zukunft d i e R o l l e d e s s t ä n- d i g e n l a n d w i r t s c h a f t- l i c h e n J a h r e s a r b e i t e r s a u f e i n e m T e i l u n s e r e r k u r l ä n d i s c h e n G r o ß g r u n d b e s i t z e z u s p i e l e n. Das schwerste ist auch hier der Anfang, hat sich aber der Arbeiterkolonist bei uns akklimatisiert, so brauchen wir für die nächste Arbeitergeneration nach menschlicher Berechnung keine Sorge mehr zu hegen. Düna-Zeitung 26. März (8. April) 1909 In Sachen der Anwerbung deutscher Kolonisten ins Werrosche wird der Nordlivl. Ztg. von einem daselbst ansässigen Landwirt mitgeteilt: Es ist Tatsache, daß von einer Gruppe von Großgrundbesitzern des Werroschen Kreises deutsche Kolonisten aus Wolhynien als Knechte angeworben worden und z.t. schon eingetroffen sind. Wenn aber estnische Blätter diesen Umstand benutzen, um den nationalen Haß gegen die deutschen Gutsbesitzer zu schüren, die herzlos genug wären, um ihrer nationalen Politik willen die estnischen Arbeiter durch deutsche zu verdrängen und brotlos zu machen, so ist dies durchaus ungerechtfertigt. Zu diesem Schritte haben vielmehr die estnischen Knechte selber die Gutsbesitzer gedrängt. Die Lage der Knechte im Werroschen Kreise ist keine schlechte. Sie erhalten im Durchschnitt pro Familie 50 Rbl. an barem Gelde, Deputat für 2 Menschen, freie Wohnung und Beheizung, Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 240
241 ½ Losstelle Gartenland und das Recht, eine Kuh auf dem Gutslande zu halten, was ungefähr im ganzen einer Gage von 250 Rbl. gleichkommt. Dazu haben sie reichlich Gelegenheit zu nach dem landesüblichen Tarif keineswegs schlecht bezahlten Akkordarbeiten. Die im Werroschen sehr starke Abwanderung in das Reichsinnere und nach dem Fernen Osten ist somit entschieden nicht auf Not zurückzuführen, zumal sich auch nicht wenige besonders gut gestellt Familien anführen ließen, die, von den glänzenden Vorspiegelungen der Agenten verlockt, ihr Hab und Gut zu Schleuderpreisen veräußert haben und ausgezogen sind, ihr Glück in der Ferne zu suchen. Diese Auswanderer zogen wiederum ihrerseits gern unbemittelte Angehörige aus der alten Heimat nach sich, um an ihnen in der neuen Heimat billige Arbeitskräfte zu haben. Es sind selbst Fälle vorgekommen, wo vom Auswanderungsfieber Ergriffene sich weigerten, bereits übernommenen Verpflichtungen nachzukommen, und die Gutsbesitzer zusehen konnten, woher sie sich Ersatz schafften. So ist es denn dahin gekommen, daß sich ein geradezu drückender Arbeitermangel im Werroschen Kreise fühlbar macht. Wie wenig das Angebot der Nachfrage nach Arbeitskräften entspricht, zeigte sich besonders im vorigen Herbst, wo auf vielen Gütern die Erntearbeiten nicht rasch genug zu Ende geführt werden konnten und der hereinbrechende Frost großen Schaden angerichtet hat: auf nicht wenigen Gütern sind großen Mengen von Kartoffeln eingefroren und befinden sich jetzt noch in der Erde. Diesen Arbeitermangel haben die zurückgebliebenen Knechte sich naturgemäß zunutze gemacht und suchen die Löhne nach Möglichkeit in die Höhe zu schrauben. Um nun diesem übermäßigen Bestreben eine gewisse Grenze zu ziehen, sind weite Kreise von Gutsbesitzern überein gekommen, in diesem Jahre höchstens eine Zulage von 10 Rbl. pro Familie zu gewähren. Da aber nicht selten viel größere Zulagen gefordert werden, sind in der Tat trotz großen Arbeitermangels manche Kontrakte nicht erneuert worden. Daß die deutschen Kolonisten jedoch nicht etwa als auf unlautere Weise ausgenutzte Lohndrücker ins Land gezogen werden, geht daraus hervor, daß sie dem Gutsherrn durchaus ebenso hoch zu stehen kommen, wie die bestbezahlten estnischen Knechtsfamilien. Sie leisten aber, nach den bisherigen Erfahrungen, auch entsprechend viel. Was die unsinnige Behauptung des Post. anbetrifft, die deutschen Gutsbesitzer verböten ihren armen estnischen Knechten, Kinder zu halten, so kann sich dies nur auf einen im Normalkontrakt vorgesehenen Punkt beziehen, der dem Gutsbesitzer das Recht einräumt, die Entfernung von arbeitsfähigen, aber zu keiner Arbeit aufgelegten Halbwüchslingen vom Gute zu verlangen. Diese jungen beschäftigungslosen Tunichtgute, die tags nicht arbeiten und nachts sich herumzutreiben lieben, allerhand Unfug anstiften und selbst vor Diebereien nicht zurückschrecken, waren stellenweise zu einer wahren Plage geworden. Wo arbeitsfähige Elemente sich nützlich machen wollen, werden sie stets mit Freuden geduldet werden, wo sie sich aber als direkt schädlich erweisen, müssen sie entfernt werden können. Diese Kontraktklausel ist auch vom Friedensrichter gelegentlich einer Klage als durchaus gesetzlich anerkannt worden. Somit haben die unmöglich schweren Bedingungen des Arbeitsmarktes und der drückende Arbeitermangel die Gutsbesitzer direkt gezwungen, sich nach auswärtigen Arbeitskräften umzusehen. Daß es dabei unerlaubt wäre, russische Untertanen deutscher Nationalität aus einem anderen Gouvernement als Arbeiter anzuwerben - zu dieser Behauptung kann sich nur jemand versteigen, der im Glauben befangen ist, daß das Baltikum ausschließlich den Esten und Letten gehört und jeder einer anderen Nationalität Angehörende ein Eindringling ist. Oder ist vielleicht der freundliche Wunsch, das Mißtrauen der gegenwärtig wieder ins nationalrussische Fahrwasser gedrängten Regierung auf die drohende Gefahr der Germanisierung des Baltikums zu lenken, der Anlaß zu dem Notschrei des Postimees gewesen? Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 241
242 Düna-Zeitung 23. April (6. Mai) 1909 Walkscher Kreis. Deutsche Kolonisten. Vom 23. April an werden, dem Dsimt. Wehstn. zufolge, mehrere Kolonisten aus Wolhynien in den Gütern Marienburg und Malup angesiedelt werden. Man erzählt, daß in Schwanenburg und anderen Orten Fälle von Heiraten zwischen den Ankömmlingen und den Indigenen vorgekommen seien. Ueber solche Fälle seien die Gutsbesitzer sehr froh, andere, so schreibt das lettische Blatt, prophezeien, daß die Nachkommenschaft solcher Paare sehr deutschfeindlich sein werde. Düna-Zeitung 8. April 1909 (Auszug) ( ) Bedingt durch den Arbeitermangel sind hier in den letzten Jahren die Arbeitslöhne so hoch gestiegen, daß jeder ordentliche Hofs- und Bauerknecht in der Lage ist, sich in kurzer Zeit einige hundert Rubel zu ersparen. Mit dieser Summe kann er sich in Sibirien, Wologda oder Ufa etc. selbständig machen, weil er für das Land fast nichts zu zahlen hat und nach Aufbau der Häuser von der Krone eine Subvention von etwa 165 Rubeln bekommt, wie die Leute selbst erzählen. Die Auswanderung findet statt, nicht weil es den Leuten hier unmöglich ist zu leben, wie die estnische Presse behauptet, sondern im Gegenteil, weil es allen fleißigen Arbeitern gut geht und sie das gewiß verständliche Bestreben haben, zu eigenem Besitze zu kommen. Um nur dem drückendsten Arbeitermangel abzuhelfen, sollen in diesem Frühjahre 50 Arbeiterfamilien aus Wolhynien, also Summa Summarum 200 Köpfe, geholt werden. Diese geringe Zahl von armen deutschen Arbeitern hat nun einen Teil der russischen und estnische Presse veranlaßt, wieder mal das Kapitol zu retten und sogar die sogenannten höheren Sphären sollen aufmerksam geworden sein. Wenn diese armen Leute Zeitungen läsen, sie müßten wirklich vor Stolz geschwollen sein. Jedem vernünftigen Menschen ist es klar, daß es für das gewaltige russische Reich ganz gleichgültig ist, ob einige Dutzend deutsche Arbeiter in Wolhynien, oder Livland, in Archangel oder in Kaluga wohnen und ihren Unterhalt finden. Rigasche Zeitung 15. September 1915 Eine Notwendigkeit. Uns wird geschrieben: Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, haben manche baltischen Gutsbesitzer infolge der andauernden Landflucht unserer heimischen Landbevölkerung, der Letten und Esten, und des dadurch hervorgerufenene empfindlichen Landarbeitermangels sich bekanntlich gezwungen gesehen, aus anderern Gouvernements einen Ersatz zu beziehen, um ihre Feldarbeiten nicht gänzlich einstellen zu müssen unddadurch vielleicht die Ostseeprovinzen in Hungergouvernements zu verwandeln. Da gab es Russen, Polen, Litauer und auch deutsche Kolonisten aus Wolhynien, die sich in der Revolutionszeit als besonders t r e u e russische Untertanen bewiesen haben. Und gerade aus diesem Grunde und weil ihnen in Wolhynien der Boden unter den Füßen weggenommen wird, hoffen nun manche Balten aus ihnen einen d a u e r n d e n Arbeiterstand auf ihren Gütern zu rekrutieren, da den russischen Arbeitern Nomadenblut und Feiertagslust zu sehr im Blut stecken, und Polen und Litauer sich doch immer wieder nach den heimischen Verhältnissen zurücksehnen, nach ihrer katholischen Kirche usw. Nun ist kürzlich in der Presse ein Artikel einer baltischen Landpflegeschwester erschienen, der in seiner weiblichen Beobachtung durch Skizzierung verschiedener typjischer kleiner Züge auch dem Fernstehenden so recht ein Bild entwirft von diesen Kolonisten aus Wolhynien. wer selbst mit ihnen zu tun gehabt, der weiß es nur zu genau: leicht hat man es mit ihnen wahrlich nicht. Und man Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 242
243 versteht dann den treffenden Ausspruch über sie nur zu gut: Das Beste an den Leuten sind die Kinder. Wenn man sich aber klar macht, daß es sich bei unserem Landarbeitermangel im Baltikum ja nicht um eine augenblickliche, vorübergehende Verlegenheit handelt, sondern, wie die Gründung der Werft in Reval und der Bau einer jeden neuen Fabrik uns alle Tage lehrt, um eine fortlaufende Erscheinung, so muß eben alles Mögliche getan werden, um so oder anders wieder eine d a u - e r n d a n s ä s s i g e, mit den örtlichen Verhältnissen und den immer komplizierter werdenden Bearbeitungsmethoden (Hackkultur etc.) vertrauten Arbeiterbevölkerung zu schaffen. Und wenn wir uns dies recht klar machen, so müssen wir eben die Alten unter den Kolonisten, die sich schwerlich viel ändern werden, verbrauchen und uns d i e J u n g e n s o h e r a n z i e h e n, wie es unsere Kultur- und Agrarverhältnisse verlangen. Wollen wir aber ernstlich uns zweckentsprechende Landarbeiter heranziehen, so muße man wohl schon m i t d e r E r z i e h u n g d e r K i n d e r f r ü h a n f a n g e n, denn die Mütter derselben stehen meist selbst auf einem derart niedrigen Kulturniveau, daß man von ihnen eine Heraufentwicklung der Kinder garnicht erwarten kann. Da werden nun manche wohl meinen: Ja, da muß man eben einen K o l o n i s t e n l e h r e r aus Wolhynien verschreiben, der wird das wohl am besten besorgen. Darauf möchte ich statt jeder Gegenäußerung hier einen Brief vorlegen, den solch ein aus Wolhynien verschriebener Kolonistenlehrer eigenhändig geschrieben, Das Original lautet buchstäblich: An Hochwürden dem Herrn: = Eure Hochehrwürden erlaube ich mir als Schul Lehrer (folgt der Name) den Hochehrwürden = dem Herrn an zu fragen ob Ehrwürden = dem Herrn ein Schul Lehrer nöhtig Wehre den ich habe Auf dem Gut (folgt der Name) beim Hochehrwürden Herrn mein Jahr Volendet nicht Volendet um des Dinstes willen sondern es wahren hirr Kolonisten und die sind von uns entflüchtet Also Kann unser Hochwürde Herr bei zwei Familien keinen Lehrer nicht halten so bin ich Willens um einen andern Dinst zu suchen. selbst bin ich Gebürtig in Wolinien und auch dort geschult und geexaminirt beim Pastor Meine Familie bin ich zwei Persohn und ein Kind (Datum, Unterschrift). Ein Kommentar dazu ist überflüssig. Aber auch dem Fernstehenden wird durch diesen Brief so recht ein Einblick gewährt in das Geistesleben der Kolonisten, es zeigt so deutlich ihre Kulturstufe, ihre naive Selbstzufriedenheit, ihre treuherzige Offenheit usw. Gewiss, es wird sicher auch gebildetere Lehrer in den Kolonien geben, aber werden die wirklich guten von dort in die unbekannte Ferne ziehen? Und dann sind doch wohl gerade die Lehrer in den Kolonien zum großen Teil daran schuld, daß die Leute dort so unglaublich zurückgeblieben sind. Mehr als man selbst hat, kann man aber doch auch anderen nicht geben. Aus alledem scheint mir deutlich hervorzugehen, w i e n o t w e n d i g w i r e b e n b a l- t i s c h e L e h r- und L a n d p f l e g e s c h w e s t e r n b r a u c h e n, wenn wir wirklich aus den Kolonisten mit der Zeit einen unserer Kultur entsprechenden Landarbeiterstand bilden willen. Und - Entwicklung der Bevölkerung zu einer höheren Kulturstufe, das war ja unsre historische Aufgabe seit 700 Jahren. Was wir an Letten und Esten in dieser Hinsicht getan, sollten wir das nicht auch an unseren neuen Landarbeitern, den Kolonisten leisten können? Mir scheint, hier liegt eine zwingende Notwendigkeit vor! v.w. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 243
244 Libausche Zeitung 6. November 1915 Katzdangen. Der Herrensitz des von den Russen nach Sibirien verbannten Hasenpothschen Kreismarschalls, Baron von Manteuffel, hatte bereits zur Zeit der lettischen Revolution schwer gelitten u. seit jener Zeit waren dort deutsche Kolonisten als Knechte angestellt, da keine Letten auf diesem Gute arbeiten wollten. Als beim Anrücken der Deutschen den hiesigen deutschen Kolonisten Verbannung nach Sibirien, oder im besten Falle Ausweisung nach dem Innern des Reiches drohte, flüchteten sie auf 70 zweispännigen Hafesfuhren mit Frauen und Kindern über Preekuln nach Deutschland. Aus der Katzdangenschen Gemeinde nahmen die Russen bei ihrem Rückzuge auch die wehrfähige männliche Bevölkerung, das Vieh und die Lebensmittelvorräte mit, so daß die zurückgebliebene Landbevölkerung bis zum Einbringen der neuen Ernte Mangel zu leiden hatte. In Katzdangen kam es auch zu Kämpfen zwischen den vordringenden Deutschen und den abziehenden Russen. Baltische Monatshefte (Auszug S ) 1 Grauen und Tod über Wolhynien Die Sonne sinkt. die Feldarbeit ist beendet. Die Kühe werden auf dem Hof von Ludwig Liefke 2 gerade heimgetrieben. Das Wohnhaus, der Stall, die Scheune und die Nebengebäude verraten, dass ein guter Baumeister, der Hofesbesitzer selbst, sie gebaut hat. Wohnhaus und Stall haben gut gemauerte Fundamente. Die Wände des Hauses sind mit gefügten Brettern verkleidet; das Herz freut sich, wenn man in den Stall kommt. Er ist sauber gehalten. Das ganze Anwesen zeigt, dass es mit Liebe und guter Zimmermannskunst errichtet worden ist. Der Hofeswirt arbeitet in seiner Werkstube an Wagenrädern. Sie werden aus Eichenholz gemacht. Es ist eine große Kunst, gute Wagenräder zu machen. Einige sind fertig, und man sieht es ihnen an, dass sie lange halten werden, denn es ist sorgfältige Arbeit. Der Wirt ist ein älterer Mann, der viel von der Welt gesehen hat; er ist Baumeister, Tischler, Böttcher und zugleich Landwirt. Wir rauchen eins an, gehen dann ins Wohnzimmer. Die Möbel sind gute Handwerksarbeit. Alles ist sauber und ordentlich. Nach dem Essen erzählt der Wirt von dem Schicksal der Wolhynier im Weltkriege: Es war im Sommer Der Weizen stand schnittreif auf den Feldern. Die Ernte versprach gut zu werden. Im Juni und Juli stürmten deutsche Truppen unter Hindenburg und Mackensen die polnischen Festungen. Schon im Frühjahr waren an Deutsche aus Kongresspolen nach dem Osten verschickt worden. Auch in den deutschen wolhynischen Dörfern begann man von Verschickung zu sprechen. Jedes laute deutsche Wort auf der Straße war verboten und stand unter Strafe. Da haben sich viele Deutsche auf den Märkten und auf der Straße plattdeutsch unterhalten. Die Russen kannten das Platt nicht und hielten es für Englisch. Die Gerüchte einer Verschickung liefen von Dorf zu Dorf. 1 Anmerkung: aus einer Sammlung von Zeitzeugenberichten Von der Art und Herkunft der Winterfelder Kolonisten von Roland Gross 2 Anmerkung: im Vorspann des Artikels ist erwähnt, dass der Großvater von Ludwig Liefke 1830 aus der Gegend um Stettin nach Kongresspolen eingewandert ist, der Vater wiederum hat ein deutsche Weberin geheiratet und ist mit ihr nach Wolhynien ausgewandert. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 244
245 Eines Tages ging die Schreckenskunde durch die Dörfer: Verbannung aller Deutschen nach Sibirien! Befehl von der Regierung. Am 20. Juli müssen alle aufbrechen! Hilfe gab es keine. Bitten waren aussichtslos. Zur Vorbereitung hatten viele nur paar Tage Zeit, doch manche nur paar Stunden. Die Ernte, Haus, Hof, Vieh, die Heimat, alles musste im Stich gelassen werden, alles wurde ein Raub der russischen und polnischen Nachbarn. Durch Etappe wurden wir 3 von Dorf zu Dorf gefahren. Aufladen, abladen ein ewiges Wandern. Durch die Rokitnosümpfe, durch endlose Kiefernwälder, durch sandige, öde Gegenden ging der Zug. Konnten einige nicht weiter, schlugen die Kosaken sie mit der Nagaika (Lederpeitsche) blutig. Die Wagen ächzten und polterten durch die Gruben und über die Wurzeln der riesigen Kiefern. Kinder fielen aus den Wagen. Die Räder gingen dann über sie hinweg und zermalmten ihre Körper. Ungezählte Menschen starben. Unsere Toten haben wir in den Dörfern begraben. Angstrufe, Schreie der Kranken und Sterbenden, das Gebrüll der Zugochsen und das endlose Rattern der Räder begleitete als Musik den Elendszug. Wir kamen durch ödes Sandland, wo nur Buchweizen gedieh. Brot aus Spreu und Buchweizen war unsere Nahrung. Ein deutscher Gutsbesitzer, dessen schönes Gut wir durchzogen, speiste uns und gab uns gutes Essen auf den Weg. Weiter ging der Zug durch Sturm und Regen, durch glühende Sonne. Ein Menschenleben war keinen Kopeken wert. Schließlich kamen wir in Minsk (ca. 400 km) an. Dort wurden wir auf kleine Schiffe verladen und fuhren auf dem Flusse stromab, bis wir auf den Dnjepr gelangten. Dann verlud man uns in Viehwagen und weiter rollten wir auf der Bahn bis Charkow (ca. 750 km). Hier gab es 2 ½ Tage Aufenthalt. Unzählige Deutsche alles Vertriebene waren unterwegs. Das Essen war furchtbar schlecht, viele starben. Und weiter gings über Saratow, Samara, Orenburg nach Ufa (ca km). Vor Ufa gab es Suppe, die roch ekelhaft. Viele aßen trotz des Ekels; ich aber nicht, das rettete mir das Leben. Bald wanden sich die Menschen vor Schmerzen. ein furchtbares Schneiden riss in den Gedärmen. Viele sind gleich gestorben. Ich aber blieb gesund. Die Gesunden wurden dann in bessere Waggons gepfercht. Die Fahrt ging weiter über den Ural nach Asien hinein über Tscheljabinsk nach Kustanai in die Steppe (ca.600 km). Vom Zuge aus sahen wir aneinandergekettete Sträflinge bei der Zwangsarbeit, von Soldaten mit blanker Waffe bewacht. In Kustanai hatten wir längeren Aufenthalt. Dort ging es uns anfangs ganz gut. Das Essen war billig. Aber eines Tages wurde uns Speck geliefert, der war alt. Die Menschen aßen davon; bald schrien sie vor Schmerzen. Die rote Ruhr brach aus und raffte die Menschen massenweise dahin. In paar Wochen sind über 1500 deutsche Vertriebene gestorben. Die Leichen wurden in Gruben geworfen, mit Kalk übergossen und verschafft. Den Toten wurde später von einem Pastor ein Denkmal gesetzt, ein Denkmal für über 1500 unschuldig Gestorbene, die evangelischen Glaubens und deutschen Volkstums gewesen waren; das war ihr Verbrechen. Dann wurde ich mit anderen per Etappe weiter nach Sibirien bis nach Omsk (ca km) verschickt. Im ganzen hatten wir eine Strecke von über fünftausend Kilometern zurückgelegt. Damals entstand das L i e d d e r V e r b a n n t e n Aus Wolhynien sind gezogen die Verjagten arm und reich; Keinem ging der Weg auf Rosen. Alle waren sie jetzt gleich. 3 Der Hofbesitzer Liefke war bereits im Frühjahr 1915 von Winterfelde nach Wolhynien verschickt worden und erlebte somit auch die zweite Verschickung nach Sibirien. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 245
246 Dienstag früh am zwanz gsten Juli grade zu der Erntezeit, Mussten durch die Trübsalshölle alle arm und reiche Leut. Angespannt und schwer beladen stand der Wagen vor der Tür. Manchen Sachen, o wie schade! blieben ja noch liegen hier. Vorwärts ging s durch Sturm und Wetter auf Befehl der Obrigkeit. Keiner fand jetzt einen Retter, er ihn aus der Not befreit. So ging s vorwärts durch die Wälder, über Hügel, Berg und Tal, Auch durch Städte und durch Felder und durch Dörfer ohne Zahl. Auf dem Strom und mit den Pferden führen wir in einem Kahn, Und auf Fuhren mancher Arten und zuletzt auf Eisenbahn. Auf den langen Trübsalswegen kam der Tod, hielt gleichen Schritt. Kleine Kinder, alte Leute, Jugendblüten nahm er mit. Es ist gar nicht zu beschreiben diese große Trübsalszeit Jeden drückt das schwere Leiden: ach! wann endet doch dies Leid? Was vergangen und geschehen hat ein jeder schon gefühlt. Aber wie s uns noch wird gehen, ist vor allen noch verhüllt. Aber dies ist uns versichert, dass es geht nach Gottes Rat, Und er ist der rechte Richter, der noch nie gefehlet hat. Drum getrost in trüben Stunden, geht s auch gleich durch schweres Leid, Darum, damit hat gefunden mancher seine Seligkeit. Gott führt seine lieben Kinder oft durch schweres Herzeleid, Damit doch die frechen Sünder denken an die Seligkeit. T a u s e n d s e c h s h u n d e r t K i l o m e t e r z u F u ß! Aus Samara und anderen Städten schrieb ich vier Briefe in die Heimat nach Winterfelde. Keine Antwort kam. Die Sorge um Frau und Kinder, die in Winterfelde zurückgeblieben waren, ließ mich nicht los. Ich machte mich von Omsk auf, um zu Fuß nach Tscheljabinsk und weiter ins europäische Rußland zu kommen. Es war im Herbst 1916, als ich aufbrach. Vier Wochen wanderte ich durch die Steppe. Kirgisen, Tscherkessen, Tataren und Kalmücken leben da. Die Kirgisen waren die besten. Sie gaben mir Essen und Trinken. Ihr Getränk, das sie in Ledersäcken halten, besteht aus gegorener Kamels- und Pferdemilch; es schmeckte scheusslich. Sie nennen es Kisch-Misch. Holz gibt es in der Steppe nicht. Zum Brennen verwendet man gekneteten Kamelsmist, der in Ziegelform getrocknet wird. Darin backen sie das Brot. Das sieht wohl schön aus, hat aber einen schlechten Beigeschmack nach Düngerasche. Die Kirgisen nahmen mich auch für die Nacht auf. Die Tataren, ein schlimmes Volk, sagten zu mir nur immer: dalsche, dalsche! (weiter!). Denn sie hatten Angst; sie nahmen mich nie auf. Russisch verstanden sie kaum. Ich habe mich durch Zeichen verständigt. Die Kalmücken sind ein schmutziges Volk. Sie beißen die Läuse mit den Zähnen. Tag und Nacht bin ich gelaufen. Die Dörfer lagen oft Werst auseinander. So musste ich oft auf nacktem Boden schlafen. Einmal schlief ich unter einer Brücke. Wie ich aufwachte, merkte ich, dass ein Bein steif war. Ich riss mich aus dem Schlaf und kroch ein Stück weiter. Es ging nicht mehr. Nach vieler Mühe und unter großen Schmerzen schleppte ich mich weiter. Seit jener Zeit leide ich am Rheumatismus. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 246
247 Dann versuchte ich, ohne Fahrkarte auf der Bahn zu fahren. Dies war gefährlich. Denn wurde ich entdeckt. so ging es mir schlecht. Dass ich ein Deutscher war, durfte keiner wissen; dann hätte man mich wieder tief nach Sibirien geschickt. Entdeckten mich die Natschalniken (Beamten), so behandelten sie mich schlimmer als ein Stück Vieh. Bist dur ein Germanez (Deutscher)? fragten sie. Wenn du es bist, verfluchter, fort nach Sibirien! Doch ich verstand das Russische gut. Einmal kriegten sie mich fest und führten mich ab zum Gefängnis. Versprichst du es, nie mehr ohne Karte zu fahren, so lassen wir dich frei! sagten sie. Das konnte ich ihnen nicht versprechen. So führten sie mich zum Gefängnis. Dort aber liessen sie mich los. Sie wollten mir nur einen Schreck einjagen. Wer kann die Schrecken dieser Wanderung beschreiben. Oft war ich tagelang ohne Essen. Betteln musste ich. Die Kleider waren zerlumpt. Nach vier Wochen Wanderung langte ich in Tscheljabinsk (ca. 820 km) an. Mit der Bahn ohne Karte, zu Fuß und auf Wagen, die mich mitnahmen, zog ich weiter, bis ich über den Ural ins Gouvernement Ufa kam. Einmal traf ich dort deutsche Mennoniten; das waren gute Menschen. Sie lebten in Erdwohnungen. Denn Holz gab es nicht. Die Zimmer waren ordentlich und sauber. Wände und Dielen waren mit Teppichen bedeckt. Innen blitzte und schimmerte es nur so. Die Leute gaben mir zu essen und ließen mich auf einem Strohsack im Zimmer schlafen. Ein starker Husten quälte mich. Im Einschlafen hörte ich sie sagen: Der wird nicht mehr lange leben, der muss sterben. Aber ich lebe noch heute, jene sind vielleicht längst von den Bolschewiken ermordet worden. Als ich am anderen Morgen aufbrach, gaben sie mir einen Rubel und Wegzehrung mit. Nach langer Zeit konnte ich mir auch etwas Tabak kaufen. Hunderte von Werst bin ich gewandert. Man griff mich auf, aber ich entkam. Ich wanderte immer längs den Eisenbahnschienen. Gefährlich war es an den Brücken. Im Gouvernement Ufa langte ich an einer Eisenbahnbrücke an. Auf ihr stand ein Posten. Ich bitte ihn flehentlich, mich herüberzulassen. Er stösst mich weg. Schließlich laufe ich zurück in die Niederung. Geld habe ich nicht, zurück gehe ich nicht, denke ich. Es war verflucht kalt und eine dunkle Nacht. Am Rande war der Fluss zugefroren. Aber in der Mitte war er offen. Schwarz schoss der Strom dahin. Da hatte ich doch Angst. Die Füße schmerzten, ich setzte mich hin und schlummerte. Doch es wurde zu kalt. Ich schleiche mich an die Bude des Postens heran. Der schläft. Also hinüber! Ich stolpere und schlage hin auf die Schienen klick, klack tönt es. Der Posten erwacht und schreit: Stoi! Ich schieße beim dritten Male. Ich werfe mich hin. Die Kugeln pfeifen. Fünf Schuss schießt er hinüber. Ich bleibe liegen. Der Posten holt die Laterne, wohl um meine Leiche zu holen. Da bin ich hinübergelaufen, da haben die Füße nicht mehr geschmerzt. Gerettet war ich. Der Russe suchte noch. Er hat wohl gemeint, meine Leiche sei in den Fluss gefallen. Denn die Brücke war ja nicht gedielt. Ich wanderte weiter und kam nach fünfwochenlangem Marsch in Samara an. (die Strecke Omsk Samara beträgt ungefähr 1600 km). Dort nahm ich Arbeit an. Später fuhr ich nach Saratow in die Wolgakolonie, ich hoffte dort vielleicht jemand aus Winterfelde zu finden, der mit etwas über meiner Frau und Kinder Schicksal erzählen könnte. Und richtig: Eine Frau, die aus Winterfelde ins Wolgagebiet geflohen war, erzählte, daß meine Frau und die Kinder nach Irschi geflüchtet sind. Wie dann meine Briefe sie erreichten und sie nach Pokrowsk kamen, wo ich Arbeit fand, ist eine lange Geschichte. Ich arbeitete dann unter Gefahren zwei Jahre als Pole in Pokrowsk. Meine Papiere waren auf der langen Fußreise in der Tasche zu Pulver zerrieben. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 247
248 Wie ich dann im Jahre 1918 nach Wolhynien und von dort nach Winterfelde zurückkehrte, davon könnte ich noch lange erzählen. Die Bolschewikenzeit in Winterfelde brachte noch Schrecken genug. Aber Gott hat uns behütet. Libausche Zeitung 31. März 1919 (Auszug) Verwundetenliste. Im Kriegslazarett im Emigrantenhaus befinden sich: vom 2. Btl. Malmede: 1. Kompagnie Zimmermann: ( ) Rudolf Siebert aus Wolhynien ( ) Libausche Zeitung 24. Juli 1920 Die deutschen Kolonisten in Lettland. Uns wird geschrieben: Deutsche Kolonien bestehen seit 1913 auf Gütern des Hasenpothschen Kreises Perbonen, Puhnen, Post-, Alt- und Krussat-Drogen und Nemes. Die aus Wolhynien stammenden deutschen Kolonisten waren russische Unterthanen und beschäftigen sich ausschließlich mit der Landwirtschaft als Pächter auf den unter ihnen parzellierten Gütern. Sie wohnen noch immer in den ursprünglich für sie zeitweilig eingerichteten Räumen, da der inzwischen ausgebrochene Krieg ihnen die Möglichkeit nahm, eigene Wirtschaftsgebäude zu erbauen. Die Kolonisten besitzen eigene Schulen in Perbonen, Punen und Nemes. Die wenigen, nach dem 1. August 1915 eingetroffenen Kolonisten verkaufen ihre Wirthschaftsgeräte und rüsten sich zur Abreise. Am Kriege gegen die Bolschewisten beteiligten sich die im wehrfähigen Alter stehenden Kolonisten als Freiwillige im lettländischen Heere. Die Kolonisten haben um ihre Aufnahme in den lettländischen Staatsverband nachgesucht. Die Ländereien der Kolonisten werden jetzt von Regierungslandvermessern vermessen, wobei darauf gesehen wird, daß die Grundstücke unter 60 Losstellen durch Zuteilungen vergrößert werden. Das Verhältnis zwischen den deutschen Kolonisten und den Letten ist sehr gut und wird durch gegenseitige Heiraten oft befestigt. Rigasche Rundschau 2. März 1921 Landbesitz und Staatsangehörigkeit. Das Gesetz des Volksrats hat leider nur eine sehr unvollkommene Lösung des Problems der Staatszugehörigkeit der Bewohner Lettlands gebracht. Ganz besonders leiden darunter die deutschen Bauern, die sogenannten Kolonisten, die seit 10 und mehr Jahren im Lande leben, zu ihrer alten Heimat Wolhynien keinerlei Beziehungen mehr haben, aber nach dem Gesetz noch nicht die lettländische Staatsangehörigkeit erworben haben. Nun drohte diesen Unglücklichen der Zusammenbruch und der Verlust ihres in schwerer Arbeit erworbenen Besitzes. Auf diese Gefahr hatten seinerzeit die Abgeordneten Schiemann und v. Fircks in der Agrarkommmission aufmerksam gemacht und es wurde ihnen einstimmig zugesagt, daß die Interessen der zur Aufnahme berechtigten Bewohner gewahrt werden sollten. Trotzdem herrschte bisher, wie sich die deutschen Abgeordneten auf ihrer Reise durch Kurland überzeugen konnten, eine völlige Unklarheit und die deutschen Kleinpächter und Kleingrundbesitzer waren in höchst bedrängter Lage. Die deutschen Abgeordneten sind in dieser Richtung vorstellig geworden und zur temporären Regelung der Frage ist nunmehr nachstehende Verordnung des Landwirtschaftsministers erschienen: Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 248
249 I n v i e l e n l e t t l ä n d i s c h e n G r e n z g e b i e t e n wird Land von ausländischen Staatsangehörigen bewirtschaftet, die Gesuche um Aufnahme in den lettländischen Staatsverband eingereicht, aber noch keine Antwort erhalten haben. Sie besitzen vollständiges landwirtschaftliches Inventar. Damit die erwähnten, eventuellen zukünfigen lettländischen Bürger während der Zeit der Entscheidung der Aufnahmefrage nicht der Rechte auf Land verlustig gingen, die sie nach der Aufnahme in die Staatsangehörigkeit besitzen würden, weist das Zentral-Landeinrichtungskomitee darauf hin, daß alle Ausländer, die diesbezügliche Gesuche eingereicht haben, bis zum Erhalt einer ablehnenden Antwort das Recht haben, Landstücke, die sie auf Grund des Agrargesetzes und der Instruktion Nr. 5 erwerben, respektive pachten dürfen, wenn sie lettländische Bürger wären, auch fernerhin behalten, resp. aufs neue pachten können. Riga, 28. Februar 1921 Vorsitzender der Landeinrichtungskommission Z e l m i n s c h Rigasche Zeitung 15. August 1924 Kolonisten. Unter der Ueberschrift W a r u m n e n n t m a n u n s e r e d e u t s c h e n L a n d l e u t e K o l o n i s t e n? veröffentlicht Pastor Vi k t o r L i c h t e n s t e i n [ ] - Goldingen - im Mitauer Wochenblatt D e u t s c h e r B o t e einen längeren Aufsatz, in dem er u.a. schreibt: Vor 17 Jahren kamen die ersten Vortrupps deutscher Bauern aus Wolhynien und Polen in unserer Heimat. Wenige ahnten damals, daß diese Leute, die mit hellen Augen Wald und Feld prüften und mit knappen Worten ihr starkes Interesse an Kirche und Schule bezeugten, bald ihre Sippe nach sich ziehen würden, um hier eine neue Heimat zu finden. Als nun aber die Sippe kam, wurde das Fragen laut: Wer sind die Leute? Tracht, Sprache, Sitte, landwirtschaftliche Gepflogenheit hatten mancherlei Fremdartiges. Wer sind sie? - Werden sie heimisch werden? - Vereinzelt kamen etliche Landarbeiter von der Wolga oder aus Bessarabien. Sie kamen aus den anderthalb Jahrhunderte alten Kolonien. Die brachten den Namen Kolonisten mit. Die deutschen Bauern aus Wolhynien und Polen, die hier heimisch wurden, während jene verschwanden, nannten sich nicht Kolonisten. Dennoch breitete sich diese Benennung hurtig aus, ohne daß man viel fragte: Trifft der Name auch zu? Wir baltischen Deutschen haben die Neigung noch nicht aufgegeben, Fremdwörter gedankenlos zu brauchen, trotz aller Mahnungen der Zeit, wirklich deutsch zu werden auch in der Sprache. Und so verschieden war der Tonfall mit welchem der Name Kolonist gebraucht wurde während der 17 Jahre, je nach Gunst oder Ungunst der Zeit ( ) Nun ja, die Polacken, die nannten sie wohl Kolonisten, aber das waren sie doch nicht. Das ist doch wieder der geschichtliche Sinn: die bevölkerte Mutter-Kolonie sendet ihre Siedelung und gründete so unter fremden Namen ihre Tochterkolonien - aber Kolonisten wollen diese Siedler trotzdem ebensowenig heißen, wie wir baltische Deutsche hier ja so heißen wollen, - weil wir hier uns nicht als fremde Eindringlinge fühlen, sondern hier beheimatet sind. ( ) Die Letten werden Ihnen gewiß diesen Namen nicht geben, wenn man sie darauf aufmerksam macht, was das Wort Kolonist bedeutet. Sie sind doch hierhier nicht gekommen, um die Wildnis aufzupflügen. Darüber wird doch jeder Lette lachen, daß man Lettland eine Wildnis nennt. Er wird aber sehr böse sein, wenn man ihm sagt: diese deutschen Bauern meinen, sie hätten aus einer in aller Weisheit und Wirtschaft fortgeschrittenen Mutter-Kolonie hier eine Kolonie zu gründen, um zu zeigen, wie man recht wirtschaften soll. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 249
250 Libausche Zeitung 16. Mai 1925 Die einzige deutsche Kolonie in Estland. Von den Einwohnern Estlands werden etwa Deutsche sein, ganz genau ist die Zahl der Deutschen noch nicht festgestellt. Von diesen leben in Reval 7000, in der Universitätsstadt Dorpat 4000 und der Rest verteilt sich auf die kleinen Städte Pernau, Fellin, Arensburg u.a. Die Landbevölkerung deutscher Zunge ist in Estland, ebenso wie in Lettland, auf ein Minimum zurückgegangen. Die einzige halbwegs geschlossene deutsche Bauernsiedlung in Estland bildet die Kolonie Mustel bei der Kreisstadt Werro. In Mustel leben 220 deutsche Bauern, die im Jahre 1912 aus Polen und Wolhynien kamen, ein Gemisch von Platt und Schwäbisch sprechen, durchweg evangelischlutherisch sind und wirtschaftlich neuerdings erfreuliche Fortschritte machen. Ihre kirchliche Leitung hat ein Pastor-Adjunkt übernommen, der in kaum zwei Jahren auch schon viel zur Erweckung ihres völkischen Bewusstseins beigetragen hat. Von den 220 Kolonisten sind nur 22 Hofbesitzer. Die Kinderzahl ist bedeutend, durchschnittlich vier bis fünf Köpfe pro Familie. Die Kolonistenschule Mustel zählt 42 Schüler und wird in diesem Herbst ihr eigenes Gebäude beziehen, das zugleich Bethaus der Kolonie werden soll. Rigasche Rundschau 31. Juli 1926 Deutsche Bauern in Estland. (Auszug) Es ist eigentlich nie von den deutschen Kolonisten in Estland die Rede gewesen, und nur wenige mögen es in der russischen Zeit dort gewesen sein, denen es bekannt war, daß es in ihrer engeren Heimat auch deutsche Bauern gibt. Tatsächlich mußte denn die einzige deutsche Kolonie im Lande, die kurz vor Ausbruch des Weltkrieges auf dem Gute Sommerpahlen im Werroschen begründet worden war, in der estnischen Zeit erst von dem Deutschtum des Landes entdeckt werden. Mit um so größerer Liebe und Sorgfalt wir diese deutsche Bauernsiedlung dafür jetzt von zuständiger Seite gehegt und gepflegt. Der ehemalige Besitzer von Sommerpahlen hat die Kolonisten, die er sich fast ausschließlich aus Wolhynien holte, weitblickend nicht zu Pächtern, sondern zu Eigentümern gemacht. So haben denn die deutschen Bauern, die fast durchweg auf schönen Gesinden sitzen, durch die Agrarreform nicht gelitten, ihr Besitz ist ihnen erhalten geblieben und, nach der Ueberwindung einiger Schwierigkeiten, von der estnischen Regierung anerkannt worden. Die deutschen Höfe, einige zwanzig an der Zahl, liegen sämtlich in einem festumgrenzten Gebiet und bilden so gewissermaßen eine abgeschlossene Insel. Recht stattlich schauen sie aus. Wohnhaus und Nebengebäude, massig und solide gebaut, sind in allerbestem Stande, nicht zu vergleichen mit den Hütten und Kiffen, in denen unsere kurländischen Kolonisten enggedrängt ihr Unterkommen suchen müssen. Ganz besonders angenehm fällt die blitzblanke Sauberkeit in Hof und Stuben auf; vor dem Wohnhause breitet sich ein mit viel Mühe angelegtes, sichtlich mit Liebe gepflegtes Gärtchen, dessen knallbunte Blumen dem angenehmen Bilde freudigen Farbenreiz verleihen. Alles Dinge, die man bei uns in Kurland im harten Kampf um den täglichen Bissen Brot schon längst vergessen hat und die doch so sehr zu einer rechten deutschen Bauernsiedlung gehören! Auch die Leute selbst entsprechen in ihrer selbstbewußten Behäbigkeit auch weit mehr der Vorstellung, die man sich im allgemeinen von dem deutschen Bauern zu machen pflegt, als ihre von der Not der Zeitläufte weit härter mitgenommenen einstigen Landsleute, die heute um Hasenpoth Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 250
251 und Goldingen siedeln. Zufriedenheit und Dankbarkeit lacht aus ihren Augen, spricht aus ihren Reden. Noch ehe die deutsche Siedelung von dem Deutschtum des Landes entdeckt wurde, hatte die estnische Kreissschulverwaltung in loyaler Erfüllung ihrer gesetzlich festgelegten Pflichten für eine Schule mit muttersprachlichem Unterricht gesorgt. Auf diesen ersten guten Anfängen ist dann dank der Fürsorge der Deutschen Schulhilfe, des estländischen Elternverbandes, umsichtig und zweckentsprechend weitergebaut worden. Heute erhebt sich recht im Zentrum der Kolonie ein ansehnliches Bet- und Schulhaus, in dem ein junger Pfarrer und eine Lehrerin die Alten und die Jungen geistlich und geistig betreuen. Allsonntäglich werden Gottesdienste abgehalten, und den Winter über ist die Schule von etwa fünfzig Kindern besucht, von denen die entfernter lebenden im Internat ein Unterkommen finden. Das Pastorat daneben steht gerade im Bau. ( ) Rigasche Rundschau 29. Dezember 1938 Dem Gedächtnis eines Kameraden. Am 16. Dezember 1938 starb unser Kamerad der Bauer Karl Schönrock in Reedve. Wir kennen ihn seit vielen Jahren als Mittler der städtischen und landlichen Jugend. Immer hat er uns geholfen, wenn es galt ein Treffen auf dem Lande zustande zu bringen. Bei Sonnenwendfeiern, Sportlagern, Landdienstlagern erwies er auf seinem Hof kameradschaftlichen Beistand. Von seinem Glauben an die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen den landischen Menschen und Städtern konnte ihn keiner abbringen. Als Kolonist aus Wolhynien kam er in unsere Heimat und als bodenständiger Bauer, tüchtig im Beruf und in Treue an seinem Volk hängend, lebt er in unserer Erinnerung bei der Jugend und den alten Kameraden weiter. Rigasche Rundschau 18. März 1939 Was wissen Sie über die Siedlungskraft unserer deutschen Bauern in Kurseme? Kurz vor dem Weltkriege kamen sie aus Wolhynien, rodeten die Felder und legten ihre Höfe an. Heute haben wir Familien darunter, wo nach 30 Jahren die Söhne und Nachfahren e i n e s Einwanderers auf 6 und 10 Höfen sitzen. Besuchen Sie die Ausstellung Familie, Sippe, Volk vom März, die Ihnen diese Siedlungszähigkeit vor Augen führt. Anhang "Wolhynien" in der US-amerikanischen deutschsprachigen Presse Der Deutsche Correspondent des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts Warschau, 8. Okt. In den südwestlichen Gouvernements Kiew, Wolhynien und Podolien ist seit dem Aufstande von die polnische Sprache in Folge der zu ihrer Beschränkung erlassenen Regierungsmaßregeln aus dem von ihr früher beherrschten öffentlichen Leben gänzlich Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 251
252 verschwunden. Nicht bloß im amtlichen Verkehr mit den Staats- und Communalbehörden, sondern auch in den Privatvereinen, in allen Fabrikanstalten, in den Eisenbahn-Büreaus, auf den Bahnhöfen und selbst in den Handels-Comptoirs und Kaufläden bedient man sich allgemein und ausschließlich der russischen Sprache, in der auch die Handels- und Kassenbücher geführt werden. Man hat es früher kaum für möglich gehalten, daß es der Regierung in dem kurzen Zeitraum von zehn Jahren gelingen würde, dem mit dem polnischen Element stark versetzten Lande einen so hervortretenden russischen Charakter aufzuprägen. Der General-Gouverneur in Kiew, Fürst Dondukow-Korsakow, hat neuerdings eine Verfügung erlassen, durch welche den Juden in den südwestlichen Gouvernements* die Ansiedlung auf dem Lande und die Haltung von Dorfschänken streng verboten wird. Dieses die Existenz einer großen Zahl jüdischer Familien vernichtende Verbot, das jedenfalls auch in Lithauen wieder erneuert worden ist, datirt schon vom Jahre 1833; es hat aber trotz zehnmaliger Erneuerung nie zu allgemeiner und dauernder Ausführung gebracht werden können, weil die Bestechung sich wirksamer erwies, als das Gesetz. Auch diesmal wird die Erneuerung des Verbots schwerlich die beabsichtigte Wirkung haben. *Anm.: Für die Gouvernements der rechtsufrigen Seite des Dnjepr - Wolhynien, Kiew und Podolien - war in der Zeit des Zaren Alexander II. der Sammelbegriff "Südwestgebiet" üblich. (vgl Christoph Schmidt "Ständerecht und Standeswechsel in Russland " Wiesbaden 1994,, Seite 101) Der Deutsche Correspondent Die im Gouvernement Wolhynien gelegene Kreisstadt R o w n o ist am 30. vorigen Monats total niedergebrannt. Sämmtliche Kirchen und Amtsgebäude, welche zuerst zu brennen anfingen, sind eingeäschert. Ueber 5000 Familien befinden sich ohne Obdach und Nahrung. Ueberall herrscht die größte Noth und Bestürzung. Der Brand wurde an mehreren Stellen gelegt. Tags zuvor fand man in der Stadt anonyme Drohbriefe. Der Nordstern "Russisches Reich" Petersburg, 24. April. Der "Kr. Ztg." zufolge befinden sich gegenwärtig im Gouvernement Warschau 61 Niederlassungen mit rein deutscher Bevölkerung und 506 Ansiedlungen mit gemischter deutsch-polnischer Bevölkerung. Die Zahl der deutschen Ansiedler beläuft sich auf Der Werth ihres Wirthschaftsbetriebes soll sich auf etwa 8 Mill. R. S. stellen. Die deutschen Niederlassungen zeichnen sich in jeder Hinsicht zu ihrem Vortheile aus. Man findet dort alles Erforderliche; gute Gebäude, reichliches Inventar, Canäle, Brunnen usw. Der Morgen Land wird mit 200 bis 400 Rubel Silber bezahlt. Dieser günstigen Lage ungeachtet, sieht ein Teil der Colonisten durch das Anwachsen der Bevölkerung sich veranlaßt, in weniger bewohnte Gegenden zu übersiedeln, und zwar meist nach dem Gouvernement Wolhynien, wo die Bodenverhältnisse sehr gute sind, während sich die Preise erheblich niedriger stellen als in Polen. Hermanner Volksblatt In der Provinz Wolhynien wüthet der Hungertyphus. In manchen Orten sterben die Leute so massenhaft, daß die gesunden Bewohner nicht mehr zur Beerdigung der Toden ausreichen und daß Sträflinge aus den Zuchthäusern dabei helfen müssen. Der Fortschritt (Neu Ulm, Minnesota) 9. Mai 1895 St. Petersburg, 3. Mai. - Eine Depesche aus Dubno im Gouvernement Wolhynien bringt die Nachricht, daß die Hälfte der Stadt durch eine Feuersbrunst zerstört worden ist. Dubno hat etwa 7000 Einwohner, zahlreiche Kirchen und ein griechisches Kloster. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 252
253 Scranton Wochenblatt Die Frau des Contre-Admirals Dubassow kaufte die gegen Einwohner zählende Stadt Starokonstantinow mit 3100 Desjätinen Landes für Rubel. Vorbesitzerin war die Fürstin Abamelek. In Wolhynien befinden sich die meisten kleineren Orte noch im Besitze von Großgrundbesitzern. Der Deutsche Correspondent C h o l e r a i n W o l h y n i e n. Die "Times" erhält folgende Depesche aus Wien: "Die 'Abendpost' berichtet, daß die Cholera in erschreckender Weise im Gouvernerment Wolhynien, Rußland, um sich greife. Fast jede Ortschaft wäre von der Seuche heimgesucht. Die Landbewohner suchten in den Wäldern Zuflucht und die Todten würden ohne Begräbnisfeierlichkeiten in Massengräbern verbrannt. Am heftigsten grassire die Seuche in Semrow." Nebraska Staatsanzeiger Offiziellen Meldungen zufolge sind in den letzten beiden Wochen des Monats September in der Provinz Wolhynien 4429 neue Cholerafälle, darunter 1901 mit tödtlichem Ausgang, vorgekommen. Der Fortschritt (Neu Ulm, Minnesota) St. Petersburg, 4. Jan. Zwischen dem 8. und 14. Dezember v. J. sind im Gouvernement Wolhynien 30 Cholerafälle vorgekommen, von denen 15 tödtlichen Verlauf hatten. Deutscher Herold Libau. In der ersten Hälfte dieses Jahres, d. h. vom 1. Januar bis zum 1. Juli d. J., wanderten über Libau, wie die "Lib. Zeitung" zu berichten weiß, im ganzen Personen aus. Von diesen Auswanderern entfallen auf ( ) Wolhynien 4911 ( ). Deutscher Herold W o l h y n i e n. Die Rückwanderung deutscher Kolonisten aus dem südlichen Rußland, besonders aus dem Gouv. Wolhynien, hat auch im letzten Monat Juni, wie der "Pet. Ztg." aus Berlin gemeldet wird, angehalten. Vom 1. bis 30. Juni sind wieder 320 deutsche Kolonistenfamilien aus Rußland im preußischen Staatsgebiet zur Anmeldung gelangt. Wochenblatt Clevelands Wertvolle Forstgebiete. Wolhynien, eine der holzreichsten Gegenden der Welt. Die Tatsache der Besetzung der Sumpfgebiete von Wolhynien ist für die deutschen Holzindustrien von ganz besonderem Interesse. Denn Wolhynien ist eines der holzreichsten Gebiete der Welt, und seine Forste spielen dementsprechend im internationalen Holzhandel eine hervorragende Rolle. Ueber den gewaltigen Umfang der Waldgebiete Wolhyniens werden in einer Fachzeitschrift nähere Angaben gemacht. " 2 ½ Millionen Hektar umfaßt dieser Sumpfboden; mehr als 1 Million Hektar enthalten davon Holzbestände. Dem deutschen Markt wurden gewaltige Mengen meist unbearbeiteter Roherlen aus den Sümpfen von Rokitno zugeführt. Erst in den letzten Jahren entstanden verschiedene Sägewerke, welche, nach deutschem Muster organisiert, die Erlen zu Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 253
254 Brettern und Bohlen zersägten und dann gebrauchsfertig mit der Eisenbahn nach Deutschland versandten. Von überragender Bedeutung war allerdings der Rohholzhandel, mit dem sich zahlreiche russische und deutsche Handelshäuser befassen. Die wolhynische, auch "Pinsker" Erle, nach dem größten Ort dieses Sumpfgebietes genannt, wurde in erster Reihe von den deutschen Schälfabriken, die das Rohholz für die Zigarrenkistenfabrikanten herrichten, erworben. Außer den wertvollen Roherlen entstammen den Wäldern Wolhyniens sehr starke Eichen, die zwar an Wildheit nicht an die Eichen von Thüringen oder gar vom Spessart heranreichen, sich indessen doch vermöge ihrer Reinheit und Geradheit viele Freunde am deutschen Holzmarkte erwarben. Der Wert der alljährlich aus den Wälder Wolhyniens nach Deutschland gelangten rohen und gesägten Eichen und Erlen wird auf mehr als 20 Millionen Rubel geschätzt." Doch der Holzexport Wolhyniens beschränkte sich keineswegs nur auf Deutschland. "Das Sumpfund Kanalnetz und die Eisenbahnwagen trugen das wertvolle Holz hinüber nach Kiew und Odessa; dort wurde es in Schiffe umgeladen und dann den Holzverbrauchern in der ganzen Welt zugeführt. Darum spielten die Städte Kiew und Odessa von jeher als Mittelpunkte des südrussischen Export- Holzhandels eine wichtige Rolle. Es gibt in Rußland kein zweites Gouvernement, das für den Laubholzhandel der Welt so wichtig ist wie Wolhynien. Diese Bedeutung wird noch durch die außerordentlich günstige geographische Lage, die gleichzeitig den Flößerei- und Seeverkehr gestattet, wesentlich gefördert. Die deutschen Holzindustriellen können das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, daß sie die Pioniere der Holzausfuhr Wolhyniens gewesen sind." Der Deutsche Correspondent Der Zusammenbruch der russischen Offensive in Wolhynien. Bestürzter Rückzug. Reiche Beute. In dem wiedereroberten Luck. K. u. k. Kriegspressehauptquartier, 6. Oktober. Zwischen Zaborol und Luck befindet sich ein großer Friedhof mit einer russischen Kirche. Hier ruhen nebeneinander ohne Unterschied Russen und Deutsche. Bis hierher drangen die Russen über den Styr bei ihrer letzten Offensive vor und bauten den Kirchhof zu einem starken Stützpunkt aus, entschlossen, den Ort bis zum Aeußersten zu vertheidigen. Das Gebiet hier am Westufer war ursprünglich nur Sumpf. Erst die fleißigen Hände der deutschen Kolonisten verwandelten es stellenweise in blühendes Kulturland. Am 27. September erzwangen die Verbündeten nördlich von Luck den Styrübergang beiderseits von Rozycze. Auf ihrem Nordflügel von einer Umklammerung bedroht, traten die dem Raum Minsk-Lida-Wilna entzogenen und in den wolhynischen Festungsraum zum Zwecke des Durchbruch-Vorstoßes und der Besitzergreifung der Bahn Lemberg Brody geworfenen russischen Heeres-massen den Rückzug an. Zuerst räumte kampflos und eilig das Centrum den als Stützpunkt ausgebauten Friedhof. Dann folgte der Rückzug des Nordflügels. Die Räumung der Stadt Rozycze erfolgte mit solcher Hast, daß die Russen sogar von ihrer Gewohnheit, das Bahnhofsgebäude niederzubrennen, Abstand nahmen und blos das Kesselhaus und die Eisenbahnbrücke von Rozycze, deren Träger nun im Wasser liegen, sprengten. Sonst ist die Stadt, die eine bedeutende Etappenstation darstellt, gänzlich unversehrt und unsere Truppen fanden hier reichliche Vorräthe vor. So wurden allein in dem Keller einer Apotheke fünfzig Ballen Baumwolle gefunden. In einer Drogerie erbeuteten unsere Truppen große Mengen von französischen Schönheitsmitteln, Parfums und Puder. Die russischen Offiziere lebten hier in Gesellschaft von Damen, die dringend solcher Artikel benöthigten. auch Nahrungsmittel sind hier wie überall in Fülle von der fliehenden Bevölkerung zurückgelassen worden. Die zurückgebliebenen Einwohner sind zumeist Juden. Hervorragend zeichnete sich in Rozycze eine Eisenbahner-Compagnie aus, die unter dem heftigsten Feuer der russischen Nachhuten die Bahngeleise auf unsere Spurweite umnagelten. Jetzt geht die Eisenbahn schon von Kowel bis Rozycze. Auch unsere Arbeiterkolonnen, die aus militärisch kaum Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 254
255 ausgebildeten Leuten bestehen, leisteten Erstaunliches. Wir fanden auch Mengen von Heu, Hafer und Weizen als herrenloses Gut vor. Die Dreschmaschinen sind jetzt schon wieder in Thätigkeit. Ueber den Styr bei Luck führt eine feste Kriegsbrücke. Als unsere Truppen sich zurückzogen, hielten die Russen diese Brücke besetzt. Wir mußten auf Kähnen auf das andere Ufer übersetzen. Als die Russen jetzt flüchteten, versuchten sie die Holzbrücke zu verbrennen, doch mißlang ihr Versuch infolge der Eile des Rückzuges. In Luck wurden die Wiedereroberer mit Jubel begrüßt. Auch hier hatten die Russen ihr Vernichtungswerk nicht beenden können. Nur einige Häuser liegen im Schutt. so eilig hatten es die Russen mit ihrem Rückzug, daß nur ein Soldat zurückblieb. Es ist der einzige Gefangene von Luck. Von Luck führt ostwärts die Straße nach Rowno. Zur rechten Hand liegt fruchtbares Land, nördlich dagegen erstrecken sich die Ausläufer der Rokitnosümpfe. Ringsum liegt Sumpf und Mischwald. Der Boden ist mit elenden Kiefern, Birken und kleinen Waldparzellen bestanden, zwischen denen versprengt die einzelnen Kolonistenhäuser hervorleuchten. Die deutschen Bewohner haben hier stark sächsisch-schwäbischen Einschlag. alle haben im russischen Heere gedient, alle aber sind sich ihres Deutschthums bewußt. An den Häusern kleben vergilbte Zettel mit der russischen Inschrift: Trink nicht von diesem Wasser, ein Zeichen, daß früher die Gegend verseucht war. Jetzt sind nur einzelne Typhusfälle zu verzeichnen. Abseits der Hauptverkehrsader zwischen dem Styr und dem Horyn trifft man auf Muschikdörfer. Sie gleichen einander auf ein Haar. Kein Wegweiser hülft hier dem Wanderer. Die veralteten russischen Generalstabskarten, die von der kartographischen Unwissenheit des Autors zeugen, sind unbrauchbar. Nur Windmühlen ermöglichen halbwegs eine Orientirung. Die von den Russen vertriebenen Kolonisten und Juden, die sich in den Wäldern verborgen gehalten hatten, kehren jetzt heim. Aber die ganze Landschaft bietet ein grauen-erregendes Bild trostloser Verlassenheit und Leere, das sich bis zur Stadt Dubno erstreckt. Unsere Heeresleitung hat nun durch öffentlichen Anschlag die Bewohner versichert, daß sie nicht von ihrem Eigenthum verjagt werden und daß dieses geschont werden wird. Die Russen sind jetzt auf der ganzen Front im Rückzuge und jeder neue Offensivversuch erscheint ausgeschlossen. Auch die Bahnlinie Sarny Rowno ist von unseren Truppen gesperrt. Tägliches Cincinnatier Volksblatt Wolhynien. Gesellschaftsbild und Bevölkerung. 83 Prozent Analphabeten. Die russische Willkürherrschaft. Ueber Wolhynien, von dem in den Heeresberichten der Verbündeten täglich die Rede ist, über das Gebiet, in dem jetzt die russische Offensive erlahmte, ist in deutscher Sprache kaum eine einigermaßen eingehende Arbeit erschienen. Man muss russische und ukrainische Quellen aufsuchen, um einiges Nähere über dieses Quadratkilometer umfassende und 3 ¾ Millionen Einwohner zählende Gouvernement zu erfahren. Aus den russischen und ukrainischen Spezialforschungen hat Stefan Rudnyskyj die folgenden, im Ukrainischen Correspondenzblatt veröffentlichten Angaben gesammelt. Wolhynien ist kein physisch-geographisch einheitliches Gebiet. es besteht aus zwei heterogenen Gebieten: aus der eigentlich wolhynischen Plattenlandschaft im Süden und aus der polissischen Ebenenlandschaft im Norden. Der polissische Landschaftstypus mit Wäldern uns Sümpfen herrscht im Nordern der Linie Cholm Kyjiw vor und dringt in breiten Flußthälern buchtartig in die Plattenlandschaft in einige Abschnitte geteilt. Die Plattenoberfläche des eigentlichen Wolhyniens ist überall, den äußersten Süden ausgenommen, ein echtes Erosionshügelland mit flachen Böschungen und voll Geländewellen, welche das Land von Nordwesten nach Südosten durchziehen. Das malerische Hügelland von Dubno erreicht 340 Meter, der zerrissene Plattensteilrand bei Kremjazj 404 Meter Höhe. Das typische Landschaftsbild Wolhyniens's zeigt uns flachgewellte Ackerflächen, von waldbedeckten Hügeln umsäumt, breite, flache Flußthäler mit sanften Gehängen Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 255
256 und versumpften Thalböden. Die Bodendecke ist nur im äußersten Süden schwarzerdig, sonst herrscht Lehm- und Sandboden vor, der jedoch stellenweise sehr fruchtbar ist. Die Flüsse Wolhyniens: Turija, Stochod, Styr und Ikwa, Horynj und Sslutsch, Abortj, Uz, Teterew sind wasserreich und flößbar, önnten auch, wenn Kultur in's Land kommt, zu wichtigen Schiffahrtsstraßen ausgestaltet werden. Das Klima ist mild (Jahresmittel 7,5 Grad), Niederschlag circa 550 Millimeter), die Pflanzendecke üppig bedeckte der Wald 26,5 Prozent der Gesammtoberfläche. Die Bevölkerung Wolhyniens ( , 57,4 pro Quadrat-Kilometer) sitzt am dichtesten im Süden auf Schwarzerde- und Lößboden. Im Norden wird erst in den letzten Jahrzehnten in Folge Parzellierung des Großgrundbesitzes die Bevölkerungsdichte etwas größer. Den autochthonen Grundstock der Bevölkerung Wolhyniens bilden die Ukrainer ( , d.h. 70,1 Prozent). Wolhynien liegt vollständig innerhalb der Grenzen des ukrainischen National- Territoriums. In den meisten Kreisen Wolhyniens übersteigt der Prozentsatz der Ukrainer 80 Prozent. Es ist mithin ohne Weiteres ersichtlich, daß Wolhynien ein ukrainisches Land ist, in welchem die fremden Elemente nur kleine Sprachinseln bilden oder zerstreut wohnen. Der gesammte Bauernstand Wolhyniens ist ukrainisch mit wenigen Ausnahmen, ebenso der meist ackerbauende Kleinbürgerstand der Städtchen und Vorstädte größerer Ortschaften. Außerdem ist die niedere Geistlichkeit und die Unterschicht des Bauernstandes ukrainisch durch Herkunft, theilweise auch durch Nationalbewußtsein. Unter den Nationen nehmen die Juden ( , 13,2 Proz.) die erste Stelle ein. An Stelle des unter polnischer Herrschaft verdrängten ukrainischen Bürgerthums in die Städte Wolhyniens eingedrungen, bilden die Juden die absolute oder relative Mehrheit der Bevölkerung in allen Städten Wolhyniens mit Ausnahme von Kremjaneczj, wo die Ukrainer am zahlreichsten sind. In Zyomir bilden die Juden 42 Prozent der Bevölkerung, In Riwne 56 Prozent, in kleinen Städten noch mehr. Die Polen Wolhyniens ( , 6,2 Prozent) sind nur zum kleinsten Theile echte Polen oder Nachkommen solcher, die aus Polen in Wolhynien eingewandert sind. Die überwiegende Anzahl der Polen Wolhyniens sind polonisierte Ukrainer, Litauer, Deutsche u.s.w., welche zur Zeit der polnischen Herrschaft über Wolhynien (16. bis 18. Jahrhundert) ihre Nationalität verlassen haben, um zur Staatsnation überzutreten. Die gesammte polnische Aristokratie Wolhyniens ist ukrainischen oder litauischen Ursprungs, ebenso der Hochadel. Der bäuerliche Kleinadel (Zlachta jasicankowa), welcher einen bedeutenden Theil der Polen Wolhyniesn ausmacht, ist ukrainischen Ursprungs, gebraucht auch heute zum großen Theil das Ukrainische als Umgangssprache und nennt sich Polen nur deswegen, um nicht mit den ukrainischen Bauern verwechselt zu werden, wogegen sich das adelige Bewußtsein heftig sträubt. Aus diesem Bauernadel und den wenigen Kleinbürgern polnischer Nationalität rekrutirt sich die zahlreiche Klasse der Angestellten der Großgrundbesitzer. Die Deutschen ( , 5,7 Proz.) sind erst seit Ende des 18. Jahrhunderts in's Land gekommen, aber ihre Einwanderung im größeren Ausmaße erfolgte erst nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und nach dem polnischen Aufstande 1863, als die große Krise für den Großgrundbesitz eingetreten ist. Ihre Anzahl ist besonders in den Kreisen Zytomir (47.000), Nowhorod wolynskyj (38.000), Luzk (30.000), Riwne (24.000), Wolodymyr wolynskyj (15.000), Dubno (6.000) beträchtlich. Es sind zu vier Fünfteln ackerbauende Kolonisten, nur 20 Prozent bethätigt sich in Industrie und Handel. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 256
257 Bereits im Jahre 1885 waren Desjatin in deutschen Händen. es sind viele deutsche Sprachinseln entstanden, die viel bedeutendeer als die polnischen sind. Die Russen ( , 3,7 Prozent) sind auch nur zum geringen Theile echte eingewanderte Russen, sonst nur russifizierte Ukrainer, Polen, Deutsche u.s.w. Diesen "Russen" gehört annähernd die Hälfte des Großgrundbesitzes an, außerdem sind die meisten höheren Beamten, Geistlichen, Militärs, viele Kaufleute und Gewerbetreibende russischer Nationalität. Dieses kleine Häuflein verleiht mit Hülfte der russischen Sprache, welche in Amt, Schule, Kirche alleinige Stellung hat, dem Lande die äußerlich russische Tünche. Sie ist jedoch sehr dünn aufgetragen und lückenhaft. Die Tschechen (27.000, 0.9 Proz.) sind nach 1861 eingewandert und haben Ackerbaukolonien in den Kreisen Dubno (10.000), Riwne (4000), Luzk (4000), Ostroh (2000) gegründet. Die Tschechen sind zu drei Vierteln ackerbautreibende Kolonisten, die bis 1885 bereits Desjatin Boden besaßen. 25 Prozent beschäftigen sich mit Industrie und Handel. Die russische Herrschaft brachte für Wolhynien keine Vortheile. Der Bauer blieb zunächst leibeigen und der Willkür der Gutsherren, nach der Emanzipation der Willkür der Beamten und einer fortschreitenden Pauperisirung ausgeliefert. Für den Fortschritt der materiellen Kultur war die russische Herrschaft kaum günstiger, als die frühere polnische; die Ausnützung der Naturschätze blieb auf einer sehr niederen Stufe, die Städte waren nach wie vor keine echten Kulturcentren, wurden lediglich administrative Mittelpunkte mit einigem Kleinhandel, Pflanzstätten der Unkultur und Demoralisation. Die Schule mit der allein zulässigen unverständlichen russischen Unterrichtssprache hat Wolhynien dahin gebracht, daß es unter seinen Bewohnern 83 Prozent Analphabeten zählt! Und trotzdem, Wolhynien ist doch kein armes Land. Es ist an Natur-Hülfsquellen sehr reich und hat eine sehr bildungsfähige Bevölkerung. In mehr als einem Jahrhundert konnte das Land trotz seiner früheren Verwahrlosung doch zu einiger Blüthe gebracht werden!. Scranton Wochenblatt W o l h y n i e n Wolhynien, in dessen Wälder und Sümpfe der große Vernichtungskampf gegen Rußlands Heere sich hinübergespielt hat, ist eines der dunkelsten Länder Europas. Schon rein erdkundlich bietet es durch die eigentümlichen Stauungen seines Hauptflusses, des Pripet, ein ganz ungewöhnliches Bild. Da liegt im Norden des Landes der Riesensumpf der Poljesje, des "Hinterwaldgebiets", in fabelhafter Ausdehnung. In diesem Wald- und Sumpfland, und zwar in den Rokitno-Sümpfen, wollte übrigens ein deutscher Forscher, Theodor Poesche, die Urheimat der Indogermanen entdeckt haben, die wir heute eher an den Gestaden der Ostsee und im südlichen Schweden zu sehen geneigt sind. Dort im Norden Wolhyniens ist noch immer die Hälfte der Erdoberfläche mit Wald bedeckt. Ungeheure Fichtenwälder werden hie und da von Eichenbeständen unterbrochen, deren frischgrünes Laub kleinrussische Volkslieder preisen. Denn auch Wolhynien gehört zu den von Großrußland unterjochten Gebieten, seine vormals nicht unansehnliche Kultur war ukrainisch, zum Teil auch polnisch. In Kremenetz, im wohnlicheren Süden des Landes, bestand bis 1832 eine alte ukrainische Hochschule, die dann großrussisch gemacht und nach Kiew verlegt wurde. die bekannteste Stadt Wolhyniens ist Wladimir, das dem westlichen Teile Galiziens seinen Namen, Lodomerien, gegeben hat. Bis zur zweiten Teilung Polens nämlich bildete Wolhynien einen Teil dieses Königreichs. Wladimir ist von Tataren, Kosaken und anderen Mordbrennern so oft zerstört worden, dass es vom achtzehnten Jahrhundert an dem völligen Zerfalle entgegenging. In Ostrog, das an einem Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 257
258 Nebenflusse des Pripet gelegen ist, sieht man noch heute Spuren einstigen Glanzes. Ueberreste stattlicher Kirchen, gewaltige Rundtürme, die an die Befestigungen der deutschen mittelalterlichen Städte gemahnen. Ein düsteres und schicksalreiches Land fürwahr; doch seine Unwegsamkeiten und seine verwickelten Zustände haben die deutschen Kolonisten nicht abgeschreckt, die früher etwa ein Fünftel des Getreidebodens bewirtschaftet haben. Durch den Ukas vom 24. März 1892 wurde jedoch die Ansiedlung fremder Staatsangehöriger in Wolhynien verboten. Gegenwärtig sollen fünf vom Hundert der Gesamtbevölkerung deutscher Herkunft sein. Der Holzreichtum Wolhyniens ist trotz der bei den Russen üblichen Waldverwüstung noch immer außerordentlich. Zwischen den Wäldern der Poljesje breiten sich große Wiesenstrecken aus, die im Frühjahr von den Fluten des Pripet und seiner Nebenflüsse überschwemmt zu werden pflegten. Saures Gras wächst auf diesen oftmals grundlosen Weideflächen. In dichten Gehölzen umdrängen Erlen und Espen, die eigentlichen Sumpfbäume, das schwankende Wiesengelände. Nur wenige Straßen führen durch das Labyrinth der Brüche und Moore, und auch diese werden oft genug durch Ueberschwem-mungen ungangbar gemacht. Das undurchdringliche Dickicht des Erlenbruchs weicht bei zunehmender Festigkeit des Bodens dem Auwald, der geheimnisvoll raunenden Weißbuche, und überall flimmert die Birke, des Nordens Urbaum. Im Süden ist die Landschaft hügelig und keineswegs ohne Abwechslung. In diesem Teile liegt das Festungsdreieck Luck Dubno Rowno, das als Ausfallstor gegen Galizien gedacht war. Scranton Wochenblatt W o l h y n i e n. Ein heißumstrittener Teil des östlichen Kriegsschauplatzes. Das "Waldland" Wolhynien, das durch die russische Offensive neuerdings zum Schauplatz schwerer Kämpfe geworden ist, trägt seinen romantischen Beinamen mit vollem Recht. Denn fast ein Drittel dieses unabsehbaren Gebietes ist mit Wäldern bedeckt. die vielenorts noch etwas Urtümliches an sich tragen und einem die wilden Einsamkeiten der südrussischen Erde so recht vernehmlich zum Bewußtsein bringen. Kaum eine zweite Waldgegend erreicht die Dichtigkeit, den Reichtum und die Schönheit dieser meilenweiten Forsten, ein Beweis für die Fruchtbarkeit der russischen Erde und das schnelle Wachstum ihrer grünen Kinder. Als natürliche Folge seines reichen Waldbestandes hat in Wolhynien frühzeitig der Handel mit Brenn- und Bauholz großen Umfang angenommen. Er bildet einen der Haupterwerbszweige der Bevölkerung. Auf geschickt konstruierten Fuhrwerken oder in wasserreichen Gegenden auf Flößen werden die gewaltigen Holzmengen in die Sägereien oder direkt an die Eisenbahnstationen befördert, von wo man sie weiter nach den großen Städten verfrachtet. Mittelpunkte des Holzhandels sind Rowno und Shitomir, die Hauptstadt des Gouvernements. Der waldfreie Boden Wolhyniens dient den Leuten als sehr ergiebiges Ackerland. Fast 40 Prozent des gesamten Verwaltungsbereichs sind mit Getreide und anderen Kulturen bebaut. Dazu kommt noch etwa halb so viel an Wiesen- und Weideplätzen, diese hauptsächlich im Norden, wo das Wasser der Pripet und seiner vielen schlammigen Nebenflüsse jährlich große Überschwemmungen verursacht. Wolhynien, das seit den ältesten Zeiten mit der russischen Geschichte in Beziehung tritt, scheidet sich nach seiner Terrainbeschaffenheit deutlich in zwei Teile, in die nördliche, endlos erscheinende Ebene mit dem Wassernetz des Pripet, und in das südliche, eigentliche Kernland, in welches die Ausläufer der galizischen und podolischen Hügelzüge allmählich abflachen, und die den Rokitnosümpfen zustrebenden Flüsse entsenden. Diese geographische Scheidung gibt sich auch in der Geschichte des Landes sehr deutlich kund. Der südliche, die Nordostecke Galiziens Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 258
259 umschließender Teil ist historisch bei weitem der interessantere. Im Norden wären schon wegen der vielen Steppen und Moräste größere permanente Ansiedlungen nicht möglich gewesen, währenddem der gangbarere und klimatisch günstigere Süden schon die frühesten Nomaden-völker zu längerem Verweilen eingeladen hat. Hier sind denn auch die größeren Städte entstanden, die zum Teil auf eine bewegte Vergangenheit zurückblicken können. Sehr alten Ursprungs ist das von jeher heiß umstrittene Wladimir Wolhynsk am Loug, einem Zuflusse des Bug. Schon in den Aufzeichnungen des slawischen Chronisten Nestor finden wir die Stadt erwähnt. Sie muß einmal ein Kernpunkt slawischer Kultur gewesen sein, ist dann aber im Laufe der Zeiten von Mongolen, Tataren und Kosaken wiederholt in Asche gelegt worden und infolgedessen wirtschaftlich auf eine bedauernswerte Stufe herabgesunken. Erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich Wladimir Wolhynsks Bedeutung wiederum gehoben, ein Umstand, den die Stadt in mancher Beziehung den Juden zu verdanken hat, die den totalen Handel auch heute noch sozusagen allein in den Händen haben. Ebensoreich an historischen Erinnerungen wie Wladimir Wolhynsk ist das südöstlich davon gelegene Kremenetz im äußern Pripetgebiet. Kremenetz war eine Feste, die auch dem stärksten Feind Trotz zu bieten wagte. Vergeblich wurde sie z.b. vom Tatarenführer Batu berannt. Erst den Kosaken fiel die trotzige Stadt im Jahre 1648 zur Beute. Ein denkwürdiger Zeige ihrer kriegerischen Wirren ist das alte Schloß, das in unheimlichem Ruinenzauber die Stätten alten Glanzes überragt. Später ist Kremenetz der Ausgangspunkt der ukrainischen Bewegung geworden, die dem Zarismus von jeher ein Dorn im Auge gewesen ist. So wurde denn nach der politischen Revolution im Jahre 1832 das berühmte Lyzeum von Kremenetz, wo die Freiheitsideen den besten Nährboden fanden, nach Kiew verlegt und die Bestrebungen zur Loslösung der Ukraine vom russischen Großreich mit allen Mitteln unterdrückt. Um Gerin, einem Nebenfluß des Pripet, liegt Ostrog, früher Hauptstadt eines selbständigen Fürstentums und ein Herd slawischer Kunst und Wissenschaft. In Ostrog wurde die erste kleinrussische Unterrichtsanstalt gegründet, die später von den Jesuiten übernommen worden ist. Mit dem Namen Ostrog verknüpft ist die erste slawische Bibelübersetzung, die 1581 hier zur Ausgabe gelangte. Das wellige Gelände Südwolhyniens mußte auch dem modernen Zarenreich geeignet erscheinen, durch Anlage von Festungen das russische Innenland vor feindlichen Einbrüchen zu schützen. Aus solchen Erwägungen ist das vielgenannte "wolhynische Festungsdreieck" entstanden, das die Oesterreicher im Herbst vorigen Jahres angeschnitten und teilweise erobert haben. Als stärkstes Bollwerk der gegen Galizien gerichteten Schutzwehr galt Dubno, das auf drei Seiten von der Ikwa umflossen wird, und auch wegen seines gebirgigen Vorgeländes zur Verteidigung sehr geeignet ist. Dubno, das wie viele andere wolhynische Ortschaften größtenteils von Juden bewohnt wird, ist an sich sonst unbedeutend. Die Festung Luzk am Styr war ehemals Hauptstadt eines wolhynischen Fürstentums und eines der sehr einflußreichen slawischen Machtzentren. Auf einem Kongreß versammelten sich hier im Jahre 1429 die osteuropäischen Fürsten zu gemeinsamer Beratung. Die dritte befestigte Stadt des wolhynischen Kernlandes, Rowno, hat auch wegen ihres fortifikatorischen Ausbaues besondere Geltung. Die meisten übrigen Städte Wolhyniens, selbst Shitomir, und das als Kreuzungspunkt strategischer Bahnen wichtige Kowel sind weder früher von entscheidendem Einfluß auf die Geschicke des Landes gewesen, noch gegenwärtig für die südrussische Kulturentwicklung von wesentlicher Bedeutung. Der Deutsche Correspondent Die Verfolgung der deutschen Kolonisten in Rußland. Nur mit innerem Grauen wird das deutsche Volk von den barbarischen Maßnahmen Kenntnis nehmen, die der Russische Staat gegen die wehrlosen Kolonisten in Rußland ergriffen hat. Mag Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 259
260 immerhin die englische und französische Presse das Schlagwort von der "Liberalisirung" Rußlands durch die Duma, die im allgemeinen russischen Zusammenbruch helfen soll, prägen; jedem fühlenden Menschen erstarrt das Blut vor den ungeheuren Ungerechtigkeiten und Brutalitäten, die gegen deutsche Bauern, bloß weil sie deutscher Abkunft sind und ihren zumeist evangelischen Glauben nicht gegen den griechisch-orthodoxen umtauschen wollen, in's Werk gesetzt werden. Diese Thatsachen sind noch viel zu wenig bekannt. Vor uns liegt eine Denkschrift deutscher Männer, die in russischen Staatsdiensten gestanden haben und geflüchtet sind. Um ihre in Rußland zurückgebliebenen Angehörigen nicht der Vernichtung preiszugeben, müssen ihre Namen verschwiegen bleiben. Aber was sie mittheilen, ist Wahrheit, volle Wahrheit, und wer die Begebenheiten in Ostpreußen kennt, wo die Russen ihre Wuth an wehrlosen Frauen Greisen und Kindern ausließen, kann nicht zweifeln. Am 18. Februar 1915 ist das Gesetz über die Enteignung deutscher Bauern erlassen worden. Nach diesem Gesetze müssen alle deutschen Bauern es handelt sich um solche, die seit mehr als einem Jahrhudnert in Rußland angesiedelt sind, - ihr Land verkaufen, sobald sie innerhalb einer Zone wohnen, die sich 150 Werst von der westlichen Grenze Rußlands und 100 Werst von der Meeresküste erstreckt. Der Verkauf muß binnen zehn Monaten ausgeführt sein. Hören wir nun die Denkschrift: "Bis zum Dezember 1915 soll eine Bodenfläche von 2,7 Millionen Hektar verkauft sein. Aber wie? Die Bodenpreise sind auf ungefähr die Hälfte des normalen Werths gesunken; niemand wird Credit gewährt, der die Länder deutscher Bauern kaufen will; dazu allerlei Polizeischikanen. Fast die gesammte Masse wird also im Dezember 1915 mit einem Schlage zum Meistgebot gestellt und für einen Spottpreis von der Agrarbank oder russischen Bauerngemeinden angekauft werden. Die deutschen Besitzer werden zu Bettlern werden, und es handelt sich um mindestens 1,3 Millionen Seelen, die durch dieses Gesetz heimathlos werden. Im einzelnen sei erwähnt, daß vorläufig in Wolhynien 8572 deutsche Bauernhöfe, in Beßarabien 2954, in Taurien 2303, im Cholm-Gebiete 3324 enteignet werden sollen. Die Fläche des zu enteignenden Landes beträgt allein in Taurien Hektar, in Cherson usw. Ausgeschlossen "vorläufig" von dieser Enteignung bleiben die deutschen Colonien an der Wolga, in Sibirien, Mittelasien, in einigen Gegenden Chersons, Jekaterinoslaws un des Don-Gebietes, insgesammt eine deutsche Kolonistenbevölkerung von etwa Seelen. Viel schlimmer aber geht es den deutschen Kolonien im Westen in der Nähe des Kriegsschauplatzes. Es scheint fast, als wolle die russische Regierung diese Leute nicht nur zu Bettlern machen, sondern sie auch tödten. Aus fast ganz Polen, Wolhynien, Kurland und Litauen sind die deutschen Kolonisten ausgewiesen worden, ohne daß ihnen ausreichend Zeit gegeben wurde, ihre Wirthschaft zu liquidiren. Allein in Wolhynien lebten deutsche Bauern. Aus Nachrichten, die wir von dort erhalten haben, geht hervor, daß alle verschickt sind. Ueberall, wo sie hinkamen, fanden sie nur Feinde. Fanden sie irgendwo Arbeit und Unterkunft, so hieß es oft nach kurzer Zeit, daß sich unerwünscht viele Deutsche in dem Orte niedergelassen hätten, und sie mußten weiter nach Osten wandern. War das letzte Brod verzehrt und das letzte Pferd gestohlen, so mußten sie sich als Bettler weiter durchschlagen. In Odessa kamen Tausende dieser Armen an und wurden dort anfangs verpflegt und mit warmer Kleidung ausgerüstet, weil man glaubte, es seine Polen, die vor den deutschen "Barbaren" geflohen wären. Als es sich aber dann herausstellte, daß es deutsche "Verräther" waren, erhielt die Polizei den Befehl, ihnen alles wieder abzunehmen. Es sind natürlich Tausende, namentlich Kinder, bei dieser Wanderung durch Hunger, Kälte und Krankheiten umgekommen, während ihre Väter auf dem Schlachtfelde für den Zaren bluteten. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 260
261 Ein deutscher Bauernsohn, der in der russischen Armee hatte mitkämpfen müssen und für seine Tapferkeit das Georgskreuz bekommen hatte, kehrte zum Krüppel geschossen in sein Heimathdorf in Polen zurück. Als er ankam, war das Dorf von Kosaken angezündet worden; die Bewohner wurden alle gefangen fortgeführt, und auch er mit ihnen. Er starb infolge der Strapazen der Reise in Saratow an der Wolga. Seine Leiche konnte dort lange Zeit nicht beerdigt werden, weil sich die zuständigen Behörden nicht darüber einigen konnten, ob er als deutscher Verräther verscharrt oder mit den militärischen Ehren eines Georgsritters beerdigt werden sollte. Die Frauen, deren Männer im Kriege sind, erhalten, wenn sie zu den verschickten Deutschen gehören, von der russischen Regierung keine Unterstützung mehr und sind, da sie außerdem von ihrem Hof vertrieben sind, mit ihren Kindern in der schrecklichsten Lage. Ebenso sind aud den nicht verschickten Frauen derjenigen Kolonisten, die in deutsche Gefangenschaft gerathen sind, die Unterstützungen entzogen. Daß unter diesen Umständen Tausende sterben müssen, kümmert die russische Regierung nichts. Bis jetzt ist mehr als die Hälfte der deutschen Bauernbevölkerung Rußlands entweder schon aus ihrer Heimath vertrieben oder im Begriff, vertrieben zu werden. Auch der übrige Theil wird sich wohl nicht lange halten, da die Hetze gegen das Deutschthum immer schlimmer wird. Nach dem Kriege werden vielleicht die barbarischen Formen der Deutschenhetze in Wegfall kommen, man wird die Deutschen nicht mehr in Massen verschicken oder erschießen. Aber es ist nicht zu erwarten, daß die gesetzlich organisirte Deutschenhetze, die Enteignung des Deutschen Grundbesitzes, aufgehoben wird. Es ist also ausgeschlossen, daß die deutschen Kolonisten, wie der Krieg auch enden möge, weiter existiren können. Das einzige, was diesen deutschen Bauern verbleibt, ist, nach dem Friedensschlusse dahin zu wandern, wo sie unter einer deutschen Regierung Ansiedlungsland bekommen können. Unterdessen hat ein weiterer Befehl der Regierung auch alle Kiewer Kolonisten ausgesiedelt. In derselben grausamen Weise sind sie nach Osten geschleppt worden. Im Radomysler Kreise lebten etwa sie haben Ernte und Inventar zurücklassen müssen und gehen wie ihre Brüder ins Elend. Herzbrechend waren im Frühjahr die Aufrufe der Kolonisten W o l h y n i e n s, die in den kleinen deutschen Kolonistenblättern des Ostens erschienen und etwa so lauteten: Wir bitten um Christi willen unsere Brüder in Rußland, die etwas vom Verbleib unserer Ehefrauen und Kinder (folgen die Namen) gehört haben, von denen wir bei unserer Abschiebung nach Osten getrennt worden und die nun verschollen sind, über ihren Verbleib uns Mittheilung zu machen usw. Die Aermsten, die jetzt vertrieben werden, haben keine Presse mehr zur Verfügung; denn alle deutschen Blätter sind geschlossen. Die ungeheure Blutschuld aber, die der Zar mit der Ausrottung der Deutschen auf sich geladen, wird ihre Strafe finden. Das deutsche Volk sollte sich sagen, daß mit diesem moskowitischen Hunnenthume keine politische Freundschaft möglich ist; nur vor der Macht beugen sich das russische Volk und seine Regierung. Und diese Macht wird mit Gottes Hilfe im Frieden retten, was die grauenvolle Ausrottungspolitik des Zaren, seiner Regierung und seines Volkes vom deutschen Bauern in Rußland übrig läßt." ( ) Deutscher Herold Nachrichten aus Rußland. W a l t e r C h u t o r, an der Wolga. In dieser Gegend sind viele Leute, die aus Wolhynien vertrieben worden sind. Wie es der Zufall will, haben einige Frauen aus der Menge dieser Vertriebenen hier Männer gefunden und sich verheiratet. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 261
262 Tägliche Omaha Tribüne Im nordwestlichen Grenzgebiet der Ukraine. Von Ernst von Hesse-Wartegg ( ) Unweit Brest-Litowsk läuft die Grenze der neuen ukrainischen Republik vorbei in das Quellgebiet des Pripet. Auf der Eisenbahnlinie Berlin-Warschau-Kiew werden schon westlich von Brest, bei dem kleinen Orte Miedzyrcecze* die blaugelben ukrainischen Grenzpfähle erreicht, dann folgt als erste Stadt auf ukrainischem Gebiet Bieła mit ihrem verfallenen alten Schloß, wo einst die Fürsten des altlitauischen Bojarengeschlechtes Radziwill inmitten ihrer viele Meilen ausgedehnten Besitzung zeitweilig residiert haben. Dann folgt das halbzerstörte Brest. Bald darauf tritt die Bahn in das einsame Sumpf- und Waldgebiet des oberen Pripet und erreicht nach drei Stunden Kowel in einem der ältesten Teile Wolhyniens und Kerngebiet der Ukraine. Bei den häufigen Einfällen der Tataren flüchteten die Ukrainer der Steppen nordwärts, und so manche Ortschaft an den wasserreichen Zuflüssen des Pripet kommt aus jener Zeit. Beim Bau der großen Eisenbahnlinien wurden sie beiseitegelassen; Straßen gibt es in der ganzen Ukraine nicht. So blieben sie vergessen und gingen langsam zurück, bis neue Zweigbahnen ihnen erst seit letzter Zeit Verkehr und Leben zuführten. Das gilt nicht nur von dem uralten Wladimir Wolhynski, sondern auch von Luzk und Dubno, die im Verein mit Rowno das wolhynische, gegen Österreich gerichtete Festungsdreieck bilden. Hier gibt es in allen diesen Städten viel mehr Deutsche, Polen, Russen und vor allem Juden als Ukrainer. Kremenez ist die einzige Stadt Wolhyniens, wo sie die Mehrheit besitzen. In den Grenzgouvernements gegen Polen sind sie sogar auch auf dem Lande stark in der Minderheit, und es ist daher schwer zu begreifen, wie ihnen beim Friedensschluß die beiden Gouvernements Cholm und Lublin, sowie ein Teil des nördlich angrenzenden Grodno zugesprochen werden konnte. Unter den mehr als drei Millionen Einwohnern gibt es zusammen kaum eine halbe Million Ukrainer, also höchstens siebzehn Prozent; die weitaus große Mehrzahl sind Polen, die also viel berechtigtere Ansprüche auf Cholm und Lublin, sowie auch auf das südliche Pinsk haben, als die Ukrainer. Im Nordwestwinkel von Wolhynien, wo die Ukrainer dagegen mit siebzig Prozent die Mehrheit bilden, hat der Krieg fürchterlich gehaust und es dürfte Jahrzehnte dauern, bevor dieser interessante und besiedeltste Teil Wolhyniens über die Schäden hinwegkommt. In den Distrikten der drei Festungen allein sind hundertfünftausend Wohnhäuser, zweihunderttausend andere Gebäude, hundertzwölf Kirchen, hundert Schulen und dreihundert öffentliche Gebäude verbrannt und sonst zerstört worden. Man darf dabei freilich nicht den deutschen oder auch nur den benachbarten polnischen Maßstab anliegen, denn was in Wolhynien an Dörfern und Meilern vorhanden ist, spottet jeder Beschreibung: zumeist elende, notdürftig mit Stroh gedeckte, kaum getünchte Lehmhütten, in denen Verkommenheit und Armut zu Hause sind. Selbst die Städte und Städtchen sind schmutzig und verwahrlost, mit ungepflasterten, grundlosten Straßen, mit dicht zusammengedrängter, jüdischer Einwohnerschaft, zwischen denen, wie gesagt, nur ein kleiner Prozentsatz Ukrainer sind! Die einzige beschotterte Straße von ganz Wolhynien, ein Gebiet von der Größe des Königreichs Bayern, ist jene, die von Kiew kommend, nach der wolhynischen Hauptstadt Schitomir, und von dort über Rowno nach dem genannten Kowel führt. Und da die Festungen des wolhynischen Dreiecks lange Zeit ohne Eisenbahnverbindung blieben, wurde die genannte beschotterte Straße auch nach Luzk und Dubno weitergeführt. Was sonst an sogenannten "Straßen" in Wolhynien vorhanden ist, sind im Sommer breite Streifen von bodenlosem, erstickendem Staub, während des Restes des Jahres ebenso bodenlose Streifen von Kot und Sumpf, in denen selbst die leichteren Karren der Tschumaken bis über die Achsen, die Zugochsen bis an den Leib versinken. So wird denn am besten zur Seite der "Straßen" über die Felder gefahren. Nähern sich die Fuhrwerke den Ortschaften, so müssen sie auf die "Straßen" zurück, und dort sind diese daher so ausgefahren, daß Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 262
263 sie überhaupt nicht passierbar sind, und mit allen Hilfsmitteln der Taktik vom Fuhrmann für seinen Karren überwunden werden. Gegen das große Sumpfgebiet der Polisje im Norden, sind verschiedene "Straßen" durch Faschinen und Prügel notdürftig passierbar gemacht worden. Man kann sich also denken, mit welcher Freude die seither gebauten kleinen Zweigbahnen nach den "Städten" Kremenez, Luzk und Wladimir-Wolhynski begrüßt worden sind! Und doch sind all diese Ortschaften von geschichtlicher und strategischer Bedeutung; Luzk mit seinen zwanzigtausend größtenteils jüdischen Einwohnern, dazu Festung und Kreisstadt, und bis ins sechzehnte Jahrhundert sogar die Hauptstadt Wolhyniens! Noch heute ragt über den wasserreichen, dem Pripet zueilenden Styr das düstere Gemäuer der Burg auf, die von mächtigen, vierstöckigen Türmen flankiert, den Großfürsten von Litauen zur Residenz diente, im seltsamen Gegensatz zu den elenden Bauten der Gegenwart. Im Jahre 1429 war in Luzk die glänzende Gesellschaft der Könige und Fürsten von Osteuropa mit zahlreichem Gefolge zu einem Kongreß versammelt, ja sogar der deutsche Kaiser Sigismund traf sich hier mit dem großen Polenkönig Jagiello, Großfürst von Litauen. Fünfzig Werst weiter westlich über malerisches, teilweise waldiges Hügelland, unterbrochen von sumpfigen Flußläufen mit weiten Tälern, führte die sogenannte "Straße" nach Wladimir Wolhynski, einer der ältesten und berühmtesten Städte slawischer Kultur, die schon von dem Kiewer Chronisten Nestor im zwölften Jahrhundert erwähnt wird. Möge sich niemand, der dort Ueberreste aus der alten Slawenzeit vermutet, verleiten lassen, Wladimir zu besuchen. Zunächst wäre es viel bequemer, mit der Zweigbahn von Kowel dorthin zu fahren. Wer es unternimmt, wird in dieser einstigen Fürstenresidenz nur ein elendes, schmutziges Winkelwerk von Judengäßchen finden, wo zehntausend Juden neben Holz- und Getreidehandel großartigsten Schleichhandel über die nahe österreichische Grenze bei Radziwilow nach Brody und Lemberg und umgekehrt betreiben. Die Stadt ist von den Mongolen, später von den Tataren wiederholt vollständig zerstört und eingeäschert worden und wäre nicht der genannte Großbetrieb über die Grenze vorhanden, sie wäre wohl kaum mehr vorhanden. das gleiche könnte von dem etwas bedeutenderen Kremenez südlich von der starken Festung Rowno gesagt werden, nur erinnern die auf einem steil über den Styr aufsteigenden Sandsteinblock liegenden malerischen Ruinen einer Fürstenburg, sowie seine Festungsmauern an vergangene bewegte Zeiten. Batu Khan hat es vergeblich belagert, aber im Jahre 1648 gelegentlich des kühnen Kosakenfeldzuges gegen Polen unter ihrem berühmten Hetmann Bogdan Chmelnitzki gelang es den Zaporogischen, Kremenez zu erobern. In den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts war Kremenez der Sitz einer polnisch-ukrainischen Hochschule. Gelgentlich des großen Polenaufstandes von 1831 wurde sie von den Russen aufgehoben und nach Kiew verlegt, wo sie, mit jener von Wilna vereint, den Grundstock der heutigen vielbesuchten Universität bildet. Das große Gebäude in Kremenez mit seinen weiten Sälen ist seither ganz verödet. Auch das nur eine Eisenbahnstunde die Ikwa weiter abwärts gelegene Dubno, einst als uneinnehmbare Festung gepriesen und heute noch mit starken Festungsmauern umgürtet, ist nur ein schmutziges Judenstädtchen, aber in herrlicher Lage, an drei Seiten von der Ikwa umgeben, die sich hier durch den Kranz von mehrere Hundert Meter hoch aufsteigenden Hügeln ein Felsentor gebrochen hat. Wer das Innere der heute ganz von Juden bewohnten Stadt besucht, wird sich vielleicht der Kosakenerzählung des ukrainischen Schriftstellers Nikolaus Gogol "Taras Bulba" erinnern, die zum großen Teil in Dubno spielt: "Sie gelangten auf einen großen freien Platz, der vollständig leer war. Ringsumher standen kleine einstöckige Lehm und Backsteinhäuser, deren Wände bis in den Giebel durch Balken und Querbalken gestützt wurden, denn anders wurden damals wie auch jetzt noch in manchen Gegenden Polens und Litauens, die Häuser nicht gebaut. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 263
264 Die Straßen glichen dichten Schichten trockenen Kotes. Fast bei jedem Schritt stießen sie auf unglückliche Opfer der Hungersnot. Es schien, als ob die Leute in den Häusern ihre Qualen nicht ertragen konnten und so waren viele auf die Straße hinausgeeilt " Beinahe könnte diese Schilderung in manchen Städten des südlichen Wolhynien noch heute gelten, denn zwischen Dubno und Wladimir wurden im jetzigen Kriege von 28 Städten und Dörfern zwölf vollständig, elf zur Hälfte zerstört, von 2500 Häusern zwei Drittel dem Erdboden gleichgemacht, die Mühlen sind verschwunden, die Felder von Unkraut überwuchert und nach allen Richtungen verlassenen Schützengräben durchzogen und die abgebrannten Einwohner hungerten in ihren Baracken und Unterständen. Wie die meisten Städtchen des oberen, westlichen Wolhynien, so ist auch das größte unter ihnen, Rowno, eine Gründung aus dem Mittelalter und war um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Residenz der prunkvollen polnischen Fürsten Lubomirski, die wie eine ganze Reihe anderer, die Pablonowski, Sanguszko, Czartoriski, Radziwill, Ostrogski, durch Erbschaft, Verschwägerung und königliche Zuwendung ungeheure Güter in Wolhynien erwarben, Generationen hindurch unabhängig, später Palatine großer Grafschaften waren und auf Kosten ihrer leibeigenen Bevölkerung in ihren Burgen und Palästen verschwenderische Hofhaltungen besaßen. Die angesehensten und reichsten unter ihnen waren die von Rurik, dem normannischen Warägerfürsten aus dem 9. Jahrhundert stammenden Fürsten und Herzoge von Ostrogski. Mit Staunen betrachtet man heute noch die gewaltigen Ruinen der Schlösser, Kirchen, runden Festungsmauern und Ringmauern ihrer großartigen Residenz in Ostrog, die sich unweit von Rowno auf einem Bergplateau über dem schiffbaren Horyn, einem Nebenfluß des Pripet, erhebt, eine der wenigen Sehenswürdigkeiten Wolhyniens. Außer Ostrog, Rowno und Dubno besaßen sie im 15. Jahrhundert noch 56 andere Schlösser und befestigte Plätze, dazu 2700 Dörfer, mit einem Landkomplex von der Große europäischer Königreiche. Fürst Konstantin gründete in Ostrog eine bedeutende ukrainische Akademie, die später in die Hände polnischer Jesuiten fiel, ferner eine der ersten slawischen Buchdruckereien, wo im Jahre 1581 die erste vollständige Bibelausgabe in slawonischer Sprache entstand. Später Palatin der ukrainischen Hauptstadt Kiew, liegt er in dem dortigen berühmten Lawra-Kloster begraben, und sein figurenreicher Steinsarkophag ist ein vielbewundertes Kunstwerk. Die Ostrogskis starben im 18. Jahrhundert aus und ihr Milliardenbesitz ging auf eine Reihe anderer polnischlitauischer Fürstengeschlechter über. Noch heute sind sechs Zehntel des Wolhynischen Landes in den Händen von Großgrundbesitzern, nur vier Zehntel im Besitz der ukrainischen Bauern. Ostrog selbst wird heute fast nur von Juden bewohnt, die einen großen Pferde-, Schaf- und Schweinehandel mit Österreich, Preußen und Odessa betreiben. Die Hauptstadt und Regierungssitz von Wolhynien, Schitomir, mit nahe an Einwohnern, liegt 200 Werst weiter östlich, seltsamerweise nicht an einer der beiden Wolhynien von West nach Ost durchziehenden Eisenbahnlinien, sondern an einer kleinen Zweigbahn, die von der bekannten Judenstadt Berditschew 50 Werst weiter landeinwärts führt. Zu beiden Seiten der Kleinbahn sieht man stellenweise Wald, ein sonst in Südrußland seltener Anblick. Auf den ausgedehnten Feldern dazwischen lugen Obstgärten und die weißgetünchten Lehmhütten mit Strohdächern der ukrainischen Bauern hervor. In Schitomir, einer der ältesten Städte des russischen Reiches, gegründet von einem Gefährten Ruriks, überrascht den Besucher eine elektrische Straßenbahn, die vom Bahnhof durch breite, wohlgehaltene Straßen saust, an vielen städtischen Bauten, Schulen, Theatern und zahlreichen Kirchen vorbei, ein Beweis, daß die Christen hier zahlreicher sind, als sonst in den Städten Wolhyniens. Dafür gibt es in Schitomir hebräische Druckereien und Buchhandlungen, die halb Rußland mit seinem Bedarf versorgen. Sonst gibt es Zigaretten- und Glacerhandschuhfabriken und die nahen riesigen Wälder, die sich hunderte Kilometer weit bis tief ins Innere Großrußlands erstrecken, haben einträgliche Holzindustrie und Holzhandel großgezogen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 264
265 Nördlich und südlich der geschilderten Städte besitzt Wolhynien keine von Bedeutung. Das reich von Flüssen und breiten Tälern durchzogene Hügelland erreicht bei Kremenez auf etwa 400 Meter seine höchste Erhebung, stellenweise mit steilen felsigen Abhängen und Schluchten, und fällt gegen Norden langsam ab, um in der Polißje, dem ausgedehntesten Sumpf- und Waldgebiet Europas mit seinen Rokitnosümpfen, Torfmooren, Sumpfwiesen und mit Kiefer bedeckten diluvialen Sandstrecken aufzugehen. Die Schneeschmelze und starke Regengüsse im Frühsommer verwandeln dann das ganze Land gegen den Pripet in einen einzigen, viele tausend Quadratmeilen bedeckenden See, wo an Stelle des Eisenbahn- und Straßenverkehrs zwischen den spärlichen Ortschaften der Wasserverkehr tritt. Die berühmte "Schwarze Erde" der Ukrainer erreicht nur einzelne Strecken im Süden. Dafür sind die Wälder, die etwa ein Drittel von ganz Wolhynien einnehmen, an Bau- und Brennholz ungemein ertragreich und bilden hier einen ebenso wichtigen Ausfuhrartikel wie Getreide und Vieh. *Karte: Der Tägliche Demokrat Die von den Deutschen besetzten Städte in Rußland Von Wl. E., im "Berner Bund". ( ) S c h i t o m i r, die Hauptstadt des Gouvernements Wolhynien, gegründet und benannt nach einem der Genossen Asfolds-Warägers aus dem Gefolge des ersten russischen Fürsten Rjurik, gehört seit 1778 zu Rußland und ist Resident eines griechisch-orthodoxen Erzbischofs und eines römisch-katholischen Bischofs. In dieser rund Einwohner zählenden Stadt sind zahlreiche Kirchen und Klöster. die Bevölkerung treibt lebhaften Handel mit Getreide, Vieh und Pferden; auch Industrie ist zu treffen, in erster Linie sind es Leder- und Tabakfabriken. Schitomir liegt ungefähr 150 Kilometer westlich von Kiew, von wo die Mitglieder des Kabinetts Holubowitsch neulich nach Schitomir übersiedelten. D u b n o. Als stärkstes Bollwerk des wolhynischen Festungsdreiecks galt das 246 Kilometer westlich von Schitomir, malerisch auf einer auf drei Seiten von der durch den Styr zum Pripjeth gehenden Ikwa umflossenen Halbinsel Dubno. Wegen seines zur Verteidigung sehr geeigneten Vorgeländes, welches von allen Seiten mit Sümpfen und Wäldern umgeben ist, bildete Dubno während dieses Krieges schon eine natürliche Befestigung, die monatelang der Schauplatz ununterbrochener Kämpfe war. Selbst auf den Straßen von Dubno standen Schützengräben, auf den Dächern der Häuser Maschinengewehre. In einer der Hauptstraßen waren Galgen aufgerichtet. Im ehemaligen Nonnenkloster hausten die "Frontdamen". Dreiviertel der Häuser von Dubno sind während der Kämpfe entweder vollständig zusammengeschossen oder mindestens stark beschädigt worden. Die frühere Einwohnerzahl dieser seinerzeit von Gogol so poetisch geschilderten Kreisstadt im westlichen Wolhynien sank während des Krieges von auf Es waren Wochen, wo die armen, zurückgebliebenen Einwohner bloß vier Stück Erdäpfel täglich zur Nahrung erhielten. In der Umgebung von Dubno sind auch zahlreiche deutsche Ansiedlungen zu treffen. ( ) Neu Ulm Post (Minnesota) Aus Wolhynien. Von Pastor A. Grunwald Wolhynien ist das Land der Erinnerung und Sehnsucht vieler deutscher Rückwanderer und Flüchtlinge. Es ist ein unglückliches Land, unglücklich sind auch seine deutschen Bewohner. Wer die Geschichte der wolhynischen deutschen Siedlungen kennt, wer gesehen und erlebt hat, wie es den Kolonisten dort früher und während des Krieges ergangen ist, dem kann das Herz schwer werden. Und wie geht es jetzt? Ich komme soeben aus der Ukraine und möchte den Lesern der "Heimkehr" einiges über meine Erlebnisse und Erfahrungen in Wolhynien mitteilen. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 265
266 Vor allen Dingen müssen wir uns darüber klar werden, daß das Wolhynien, wie wir es vor dem Weltkrieg kannten, nicht mehr existiert. Das Land hat ein anderes Gepräge erhalten. Viele Kolonien sind vom Erdboden verschwunden. Auf meinen kirchlichen Amtsreisen, die mich fast durch die ganze wolhynische Provinz führten, fand ich nicht selten statt einer Kolonie ein totes, von Schützengräben und Granaten zerwühltes Feld. Besonders haben natürlich die west-wolhynischen Siedelungen gelitten, weil sich hier kriegerische Operationen abgespielt haben. Von dem Kirchspiel Wladimir-Wolhynsk sind nur noch traurige Reste übriggeblieben. Nicht zu oft hat man hier die Freude, ein deutsches Haus zu sehen, dessen stattlicher, geordneter Bau sich so wohltuend abhebt von den elenden Hüttenbauten der ukrainischen und polnischen Bauern. Hier und da sieht man zurückkehrende Flüchtlinge (Deutsche); sie sind bitter enttäuscht: ihr Acker liegt entweder wüst oder es wohnt bereits ein ukrainischer oder polnischer Bauer darauf. Nun hat zwar die polnische Regierung eine Verfügung erlassen, wonach der ursprüngliche Bewohner seine Stelle wieder einnehmen darf. Das ist besonders für die Pachtkolonien wichtig. Aber wie ist es! Mir haben die Kolonisten oft geklagt, daß Recht und Rechtsprechung in Polen genau so wie in Rußland durch den "allmächtigen Rubel" bestimmt werden. Die deutschen Flüchtlinge sind meist mittellos, der ukrainische Bauer hat die Tasche voll Geld, also siegt er. Aehnlich wird es auch wohl mit dem anderen Gesetz werden, das unlängst von der polnischen Volksvertretung in Warschau verabschiedet worden ist, demzufolge kein sogen. "Zinsbauer" mehr vom Lande vertrieben werden darf. Der Gutsbesitzer soll, wie es heißt, durch die zehnfache Friedenspacht ausgezahlt werden; es würde also eine Dessjatine, für die vor dem Kriege 10 Rbl. Pacht gezahlt wurden, jetzt mit 100 Rbl. endgültig bezahlt sein. Nun, wollen wir abwarten. Die polnischen Großgrundbesitzer Wolhyniens rüsten sich zur Abwehr: sie haben sich Ende April dieses Jahres zu einem Block zusammengeschlossen und werden wohl so leicht nicht nachgeben. - Ganz ähnlich wie in Wladimir-Wolhynsk liegen auch die Verhältnisse in den Kirchspielen Luzk, Roschischtsche, Dubno, Rowno. Auch hier viel zerstörte Kolonien! Ich habe vor etwa einem Monat diese Gebiete bereist. In Roschischtsche hielt ich in der Ruine der ehemaligen Kirche einen sehr stark besuchten Gottesdienst ab. Als Predigttext hatte ich das Wort des Propheten Jesaja gewählt "Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott! Redet mit Jerusalem freundlich " Es war herzergreifend, diese große, unglückliche, leidende Menge deutscher Volks- und Glaubensgenossen in dem zerschossenen Gotteshaus versammelt zu sehen. Wie die Kirche eine Ruine ist, so ist auch das gesamte Kolonistentum bis in das innerste Mark erschüttert und verwundet. Wieviel Elend und Not drückt unsere Volksgenossen in den sonst so schönen Gauen des ehe-maligen südwestlichen Rußlands! Es mögen wohl annähernd 100 Kolonien sein, die entweder ganz von der Bildfläche verschwunden sind, oder in die Hände der Muschiki übergegangen sind. In manchen zerstörten Dörfern haben zurückgekehrte Kolonisten auf den Feldern Erdbuden gebaut und wohnen vielfach schon über ein Jahr darin. Gehungert haben die Armen, gefroren, bis sie endlich eine Beute grassierender Epidemien besonders Typhus wurden. Hunderte und Hunderte sind so umgekommen in ihren Erdbuden. Zwar hat jetzt die polnische Regierung versprochen, den armen Leuten zum Bau von Wohnhäusern Holz aus den Staatsforsten unent-geltlich zu geben. Aber zum Bau eines Hauses gehört noch mehr als Holz. Vor allen Dingen haben die Leute keine Pferde! Wer eine Kuh hat, schätzt sich schon glücklich. Das Vieh ist dort furchtbar teuer. Dazu kommt noch ein anderes Unglück: die Wintersaat hat sehr gelitten, sodaß eine Miß-ernte zu erwarten ist. So wird es wieder Familien genug geben, die anstatt Brot Oelpreßkuchen essen werden. Arme Wolhynier! Allerdings gibt es in Wolhynien auch Kolonien, wo die Lage der Siedler weniger bedrängt ist. Von Rowno ab ostwärts bis Shitomir finden wir schon günstigere Verhältnisse. Kolonien wie Karlswalde Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 266
267 (bei Tutschin), Aneta, Heimthal, Pulin, Alexandrowka, Tschernjachow und andere stehen jetzt ebenso gut wie vor dem Kriege. Ueberhaupt muß man sagen, daß die Not in Ostwolhynien bei weitem nicht so groß ist auch nicht gewesen ist als in Westwolhynien. Im Kirchspiel Shitomir gab es vor dem Kriege nur wenige Pachtdörfer, von denen sind etwa vier zerstört. Im Kirchspiel Heimthal liegen die Verhältnisse ähnlich, desgleichen im Bezirk Nowograd-Wolhynsk. Gewiß, es ist auch hier noch schwer, aber im allgemeinen erträglich. Ein großes Kreuz waren hier aber die hin- und herwogenden Bandenkämpfe, wobei jede Partei immer flott requirierte. Besonders aber haben die Bolschewisten den Leuten zugesetzt. Viele Kolonisten haben Pferde, Vieh, Brot, Kleider und anderes mehr eingebüßt. Ein Trost blieb: die Bolschewisten raubten auch bei den Muschiken. Nun sind ja die Polen bis zum Dnjepr vorgedrungen, Wolhynien ist also "befreit". Die wirtschaft-liche Lage wird unter polnischer Oberhoheit sich günstiger gestalten, als es bei den Bolschewisten möglich war. Doch auch die Polen requirierten Brot und Vieh, wo sie es nirgends finden; aber sie zahlen und bringen auch die für den Landwirt unentbehrlichen Gebrauchsartikel ins Land. Jeden-falls sind die vorbeimarschierenden polnischen Truppen in Ostwolhynien von der Bevölkerung sehr freundlich empfangen worden. Neu Ulm Post (Minnesota) Aus Wolhynien. Von Pastor A. Grunwald Der Vormarsch der Polen hat in Wolhynien eine neue Situation geschaffen. Die Bevölkerung ist nach dem Sturz des Zaren durch die kurzatmige Herrschaft der verschiedensten Parteien politisch im höchsten Grade demoralisiert worden. Jede "Regierung" umwarb, umschmeichelte den Muschik, versprach ihm Freiheit und Gleichheit; man war ja auf die Gunst des bewaffneten Bauern angewiesen. Es versteht sich von selbst, daß eine derartige politische Taktik gegenüber einem halbwilden Menschen arge Folgen haben muß. So kam es auch. Der Bauer setzte sich sehr bald über die elementarsten Begriffe von Ordnung und Zivilisation hinweg. Recht und Gesetz waren dahin. Ein anarchischer Freiheitstaumel verwirrte die Bevölkerung. Der Hetmann stürzte. Petljura wurde Nationalheld; nicht in dem Sinne, daß er die Seele der anarchischen Bauernbewegung war, sondern daß er sie auszunutzen verstand. Er appellierte an die rohesten Instinkte seines Volkes. Seine Rachefanfaren riefen auf zum Kampf gegen Gutsbesitzer und den deutschen Siedler. Große Bauernmassen zogen mordend und plündernd umher. Der Gutsbesitzer floh oder wurde umgebracht. Und nun kamen die deutschen Kolonisten an die Reihe. Man konnte es ihnen nicht verzeihen, daß sie unter dem Schutz des deutschen Schwertes aus der Verbannung zurückgekehrt waren und ihre Länder wieder besetzt hatten. Es ist wohl richtig, daß die Vertreibung der Kolonisten im Kriege ein Werk des Nikolai Nikolajewitsch und des Metropolitan Antonius gewesen ist. Nun aber zeigte es sich, daß auch die Muschiki keinen sehnlicheren Wunsch hatten, als die Entfernung ihrer deutschen Nachbarn. Gewiß, die prächtigen deutschen Musterwirtschaften erregten den Neid des des mongolisch-slavischen Ukrainers der ehedem in seiner primitiven Härte auf dem warmen Ofen lag und zusah, wie der deutsche Ansiedler den Urwald rodete und fruchtbares Ackerland bereitete. Kurz entschlossen, die Bauern begannen die Länder der Kolonisten aufzuteilen. 15 Dessjatinen waren das Maximum, das man ließ. Auch die bewegliche Habe, Vieh, Geld usw., wurden "geteilt". Manch braver deutscher Siedler hat hierbei sein Leben dem Dolch der Plünderer opfern müssen. Es waren traurige, trübe Stunden für unsere wolhynischen Volksgenossen! Das war die Situation, die ich bei meiner Rückkehr aus Deutschland im April 1919 in Wolhynien vorfand. Ratlos, verzweifelt, war da wohl manch tapferer Kolonist. In der Tat, die Lage war überaus ernst. Als die Leute aber erführen, daß ich zurückgekehrt wäre, verbreitete sich alsbald das Gerücht: hinter mir käme eine große deutsche Armee sonst wäre ich bestimmt nicht gekommen! Dies Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 267
268 Gerücht nahm immer hartnäckigere Formen an, wurde sehr bald auch von den Muschiki geglaubt. Nicht selten kamen Fälle vor, daß den Kolonisten geraubte Habe zurück-gebracht wurde, um so der Rache der "herannahenden deutschen Armee" zu entgehen. Die weitere Folge war, daß die Kolonisten von Tag zu Tag selbstbewußter wurden, der Bauer aber immer kleinlauter. Nun war der Zeitpunkt gekommen, weitere Schritte zu tun, um den Deutschen mehr Geltung zu verschaffen. Ich begab mich zu dem orthodoxen Erzbischof von Wolhynien und machte ihn mit großem Ernst auf die gespannten Beziehungen aufmerksam, die z.t. durch unmittelbares Verschulden der orthodoxen Geistlichkeit immer noch als drohendes Gespenst die Gemüter der ukrainischen und deutschen Bauern beunruhigen. Mit großer Bereitwilligkeit sagte dieser schlichte, fromme Mönch zu, seinen Einfluß in versöhnendem Sinne geltend zu machen. In einem Hirtenbrief rief er bald darauf seine Pfarrkinder zu Eintracht und Versöhnlichkeit auf. Die Priester gaben den nötigen Kommentar dazu. Das Volk zweifelte nun keinen Augenblick daran, daß diese Hirtenmahnung mit der Nachricht von der "heranrückenden deutschen Armee" im Zusammenhang steht. Denselben Schritt mit demselben Erfolg unternahm ich bei dem römisch-katholischen Weihbischof von Wolhynien. Denn es gibt in Wolhynien immerhin mehrere hunderttausend polnische Kolonisten, deren Gesinnung und Stimmung gegen die deutschen Kolonisten nicht unwesentlich ist. Dieser Stimmungsumschwung in der Bevölkerung wurde noch ganz erheblich durch einen weiteren Umstand begünstig. Inzwischen war nämlich der berüchtigte Petljura von den nordrussischen Bolschewiken hinweggefegt worden. Die Muschiki begriffen zuerst nicht recht, was vor sich ging. Ob Petljura oder Lenin wenn er nur rauben und stehlen kann, dann ist der Bauer zufrieden. Aber es kam anders. Die Bolschewisten fanden bei den Gutsbesitzern entweder leere Speicher oder überhaupt nur noch rauchende Trümmer. So kamen sie und "requirierten" ganz einfach bei den Bauern; die waren empört, es half nichts. Dazu kündigten die Bolschewiken noch die Aufhebung des persönlichen Eigentumsrechts und die Einführung von kommunistischen Dorfwirtschaften an. Jetzt wurde der Bauer nervös. Hier und da merkte man die ersten Zeichen des beginnenden Aufstandes. Unter Führung des Priestersohnes Sokolovski brach dann im Sommer 1919 ein allgemeiner Bauernaufstand los, der die zeitweilige Verdrängung der Bolschewisten erreichte, dann aber blutig unterdrückt wurde. Ganze Dörfer wurden eingeäschert; hart war die Vergeltung der Rotgardisten. Nun erst dachte der Bauer zurück an die schöne deutsche Zeit, wo er zwar nicht rauben durfte, wo ihm aber auch niemand etwas nehmen oder zuleide tun durfte. Jetzt konnte man aus dem Mund eines jeden Bauern hören: "Ach, wenn doch die Deutschen noch einmal zurückkehren möchten Hände und Füße wollten wir ihnen küssen!" Freilich, die Deutschen kamen nicht, aber die Freundschaft zwischen ukrainischem Bauern und deutschem Kolonist wuchs und nahm die herzlichsten Formen an. Wieder zog der Muschik vor dem Kolonisten tief die Mütze wie einst in alter Zeit. Aber nicht nur bei der Landbevölkerung, auch bei dem gebildeten Publikum in der Stadt macht man diese Beobachtung. Ich habe mich in der russischen Gesellschaft gerade als Reichsdeutscher der herzlichsten Aufnahme und der wärmsten Sympathien erfreuen dürfen. Allenthalben hört man denselben Seufzer: "Wann werden Deutschland und Rußland endlich Bundesgenossen sein?" Man darf ruhig und ohne Übertreibung sagen: Wohl nie seit den Zeiten Alexanders 2. haben die Deutschen in Rußland sich solcher Gunst bei der einheimischen Bevölkerung erfreut, wie jetzt. Träum von der Zukunft nicht zu viel. Du lebst nicht, wenn du träumst. Und achte, daß um fernes Ziel, du Nahes nicht versäumst. Zusammenstellung M. Walsdorf Seite 268
269 Karte gemeinfrei, Autor: Ossowski, Godfryd ( ) Quelle:
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